OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 05.11.2012 - 11 AR 212/12
Fundstelle
openJur 2012, 131749
  • Rkr:

Ein Gericht muss seine eigene Zuständigkeit in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen prüfen. Die Prüfung beschränkt sich jedoch grundsätzlich auf den dem Gericht unterbreiteten oder offenkundigen Prozessstoff. Einem Verweisungsbeschluss fehlt die Bindungswirkung nicht deshalb, weil das Gericht auf den unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Klagepartei von einer Sitzverlegung der beklagten Gesellschaft ausgegangen ist, ohne diese Angabe durch Einsicht in das Handelsregister zuvor zu überprüfen.

Tenor

Zuständig ist das Amtsgericht Wiesbaden.

Gründe

I.

Die Beklagte hat im Jahr 2010 von einer Firma A Ltd. Gewerberäume angemietet. Zur Gestellung der mietvertraglich vereinbarten Sicherheit hat die … Versicherung AG (… AG) im Auftrag der Beklagten eine Mietkautions-Bürgschaft übernommen, aus der sie in der Folgezeit von der Vermieterin, der A Ltd., in Anspruch genommen wurde. Die Klägerin macht gegen die Beklagte als gewillkürte Prozessstandschafterin einen Rückgriffsanspruch in Höhe von 1.978,- EUR zzgl. Zinsen und Nebenkosten geltend.

In der Bürgschaftsurkunde vom 22.06.2010 (Anl. K 2, GA 18) ist die Anschrift der Beklagten mit „Straße1, Stadt1“ angegeben. In einem Schreiben vom 29.11.2010 an die … AG lautet die Anschrift der Beklagten „Straße2, Stadt1“. Gegen den ihr unter dieser Adresse durch Einlegung in den Briefkasten zugestellten Mahnbescheid vom 08.09.2012 hat die Beklagte Widerspruch eingelegt und als Anschrift „Straße3 Stadt2“ mitgeteilt (Aktenausdruck Mahnverfahren, GA 6).

Ausweislich der Zustellungsurkunde vom 17.04.2012 (GA 23) konnte die Klagebegründung der Beklagten unter der Anschrift „Straße2, Stadt1“ nicht zugestellt werden, weil der Adressat unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln war.

Mit Schriftsatz vom 27.04.2012 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin um erneute Zustellung unter der Anschrift „Straße3, Stadt2“ gebeten (GA 24). Unter dieser Anschrift ist die Klagebegründung am 10.05.2012 zugestellt worden (GA 25). Mit Verfügung vom 16.05. 2012 wies das Amtsgericht Hanau den Klägervertreter darauf hin, dass im Hinblick auf die in Stadt2 erfolgte Zustellung das Amtsgericht Wiesbaden zuständig sein dürfte und fragte an, ob Verweisung an das Amtsgericht Wiesbaden beantragt werde (GA 26).

Mit Schriftsatz vom 12.06.2012 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Verweisung „an das nunmehr zuständige Amtsgericht Wiesbaden“. Nachdem der Beklagten Gelegenheit zur Stellungnahme zum Verweisungsantrag gegeben worden war, hat sich das Amtsgericht Hanau mit Beschluss vom 28.06.2012 für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren ohne weitere Begründung an das Amtsgericht Wiesbaden verwiesen (GA 36).

Auf Anfrage des Amtsgerichts Wiesbaden teilte das Registergericht Wiesbaden mit, dass die Firma nicht ermittelt werden konnte (GA 33). Aus einem daraufhin beim Registergericht Hanau angeforderten Handelsregisterauszug ergibt sich, dass die Beklagte ihren Sitz nach wie vor in Stadt1 hat (GA 36).

Mit Beschluss vom 12.09.2012 hat sich das Amtsgericht Wiesbaden nach Anhörung der Parteien für örtlich unzuständig erklärt und die Sache dem Oberlandesgericht Frankfurt zur Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Ziff. 6 ZPO vorgelegt. Zur Begründung hat es ausgeführt, da die Beklagte ihren Sitz nach wie vor im Bezirk des Amtsgerichts Hanau habe, sei dieses zuständig. Der ohne die durch Einsichtnahme in das Handelsregister notwendige Amtsaufklärung ergangene Verweisungsbeschluss sei wohl nicht als bindend anzusehen.

II.

Die Voraussetzungen für die Bestimmung des zuständigen Gerichts nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO durch das gemäß § 36 Abs. 2 ZPO zuständige Oberlandesgericht Frankfurt am Main liegen vor. Gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO wird das zuständige Gericht bestimmt, wenn verschiedene Gerichte, von denen mindestens eines zuständig ist, sich in einer rechtshängigen Streitsache rechtskräftig für unzuständig erklärt haben. Derartige Unzuständigkeitserklärungen liegen hier in dem Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Hanau vom 29.06.2012 und dem Beschluss des Amtsgerichts Wiesbaden vom 12.09.2012, mit dem sich dieses für unzuständig erklärt hat, vor. Ungeachtet einer Bindungswirkung im Sinne von § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO sind diese Beschlüsse grundsätzlich unanfechtbar und daher rechtskräftig im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO (Zöller/Vollkommer, ZPO, 29. Aufl., § 36 Rnr. 24). Sie bilden die verfahrensrechtliche Grundlage für eine Bestimmung des zuständigen Gerichts (BayObLG, NJW-RR 1991, 187). Die Rechtshängigkeit ist spätestens mit Abgabe der Sache an das Prozessgericht eingetreten (BGH NJW 2009, 1213).

Auf die zulässige Vorlage hin war das Amtsgericht Wiesbaden als das zuständige Gericht zu bestimmen. Das Amtsgericht Wiesbaden ist infolge des Verweisungsbeschlusses des Amtsgerichts Hanau zuständig geworden, da dieser Beschluss für das aufnehmende Gericht gemäß § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO bindend ist.

Die Bindungswirkung entfällt nur dann, wenn der Verweisungsbeschluss schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen anzusehen ist, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss. Hierfür genügt nicht, dass der Beschluss inhaltlich unrichtig oder fehlerhaft ist. Willkür liegt nur vor, wenn dem Verweisungsbeschluss jede rechtliche Grundlage fehlt und er bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (BGH, MDR 2011, 1254). Bei Anlegung dieses Maßstabes ist der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Hanau nicht als willkürlich anzusehen.

Ein Verweisungsbeschluss kann allerdings als nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar zu beurteilen sein, wenn das verweisende Gericht eine seine Zuständigkeit begründende Norm nicht zur Kenntnis genommen oder sich ohne weiteres darüber hinweggesetzt hat (BGH, a.a.O.). Eine vergleichbare Konstellation ist im vorliegenden Fall nicht gegeben. Die Klägerin hat in der Anspruchsbegründung zur örtlichen Zuständigkeit nicht Stellung genommen. Aus der im Mahnbescheid angegeben Adresse und der Wahl des Amtsgerichts Hanau als Prozessgericht ergibt sich jedoch den Umständen nach, dass die Beklagte an ihrem Sitz (§ 17 ZPO) verklagt werden sollte. Davon ist ersichtlich auch das Amtsgericht Hanau ausgegangen, zumal Anhaltspunkte für einen anderen Gerichtsstand nicht gegeben sind. Wenn das Amtsgericht Hanau vor diesem Hintergrund den Umstand, dass die Klagebegründung nicht in Stadt1, sondern in Stadt2 zugestellt werden konnte, zum Anlass für eine Anfrage beim Kläger nimmt und die Sache auf dessen Antrag an das Amtsgericht Wiesbaden verweist, statt zuvor von Amts wegen in das Handelsregister Einsicht zu nehmen, begründet dies jedenfalls nicht den Vorwurf der Willkür.

Das Amtsgericht Hanau hat hier nicht eine seine Zuständigkeit begründende Norm nicht zur Kenntnis genommen oder sich darüber hinweggesetzt, sondern die tatsächlichen Voraussetzungen einer eigenen Zuständigkeit nicht im Wege der Amtsermittlung näher geprüft und statt dessen die Sache ohne weiteres auf den Antrag des Klägers verwiesen. Zwar muss das Gericht seine Zuständigkeit in jeder Lage des Prozesses von Amts wegen prüfen. Prüfung von Amts wegen bedeutet jedoch keine Amtsermittlung. Sie beschränkt sich auf den dem Gericht unterbreiteten oder offenkundigen Prozessstoff (BHG, WM 1991, 1009; Musielak / Heinrich, ZPO, 9. Aufl., § 1 Rn. 14; MünchKomm-ZPO-Patzina, 3. Aufl., § 12 Rn. 55)). Die Überprüfung erfolgt auf der Grundlage des Klägervortrages.

Dessen tatsächliche Behauptungen gelten mangels gegnerischen Vortrags als zugestanden (Zöller / Vollkommer; ZPO, 29. Aufl., § 12 Rn. 13 f.). Zwar darf sich ein Gericht, dem positiv bekannt ist, dass eine Sitzverlegung der Beklagtenpartei nicht stattgefunden hat, über seine von Amts wegen erlangte Kenntnis nicht wegen davon abweichendem unstreitigem Parteivortrag hinwegsetzen und die Sache unter Außerachtlassung seiner eigenen Zuständigkeit an ein anderes Gericht verweisen.

Ein Gericht ist jedoch nicht in jedem Fall verpflichtet, von Amts wegen Nachforschungen zu seiner eigenen Zuständigkeit durchzuführen, wenn keine Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der rechtlichen Bewertungen und tatsächlichen Behauptungen der (Klage-)partei bestehen (Senat, Beschluss v. 23.08.2012, 11 AR 161/12).

So liegt der Fall hier. Nachdem die Klagebegründung nicht in Stadt1 zugestellt werden konnte, war das Gericht nicht gehalten, die fehlgeschlagene Zustellung von Amts wegen zu überprüfen und gegebenenfalls eine anderweite Zustellungsanschrift zu ermitteln. Ebenso wenig war das Amtsgericht Hanau verpflichtet, die Frage einer Sitzverlegung im Wege der Amtsermittlung wegen zu prüfen, nachdem der Kläger um erneute Zustellung unter der ... Anschrift gebeten hatte und die Zustellung dort Erfolg hatte. Vielmehr sprachen die äußeren Umstände für eine Sitzverlegung und hat sich auch die Beklagte dem Verweisungsantrag nicht widersetzt. Zwar war nicht auszuschließen, dass es sich bei der angegebenen ... Adresse nicht um den Sitz der Beklagten, sondern etwa nur die Anschrift ihres Geschäftsführers handeln konnte.

Eine Befassung mit dieser Frage drängte sich dennoch nicht derart auf, dass die getroffene Verweisungsentscheidung als schlechterdings nicht auf der Grundlage von § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann.

Das Amtsgericht Hanau war zwar nicht gehindert, die Frage von sich aus aufzugreifen, die maßgeblichen tatsächlichen Umstände von Amts wegen zu erforschen und anschließend durch Erteilung geeigneter Hinweise an die Parteien einer Klärung zuzuführen. Der Umstand, dass es von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat, stellt jedoch allenfalls einen einfachen Rechtsfehler dar, lässt die getroffene Entscheidung aber nicht als nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar erscheinen (vgl. BGH, a.a.O.).