VG Stuttgart, Urteil vom 09.03.2006 - A 11 K 11112/04
Fundstelle
openJur 2013, 14244
  • Rkr:
Tenor

Der Bescheid des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 27.11.2003 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte trägt die Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des beteiligten Bundesbeauftragten, die dieser selbst trägt.

Tatbestand

Die Klägerin stellte am 23.10.2002 beim Bundesgrenzschutzamt Flughafen Frankfurt/Main ein Schutzersuchen, als sie wegen des Versuchs, mit einem gefälschten portugiesischen Reisepass nach Kanada auszureisen, vernommen wurde. Dabei gab sie an, als am 22.11.1962 in Teheran geborene Iranerin mittels Schleuser auf dem Landweg in die Türkei gekommen und nach einem Aufenthalt von zwei Wochen in Istanbul von dort vor etwa einer Woche mit einem iranischen Reisepass nach Frankfurt geflogen zu sein. Dies habe ihr Onkel ermöglicht, nachdem ihr Ehemann ein intimes Verhältnis zwischen ihr und einem anderen Mann herausbekommen und sie mit dem Tode bedroht habe.

Zu ihrem auf 15.11.2002 datierten Asylantrag machte sie nach der Niederschrift über die Anhörung durch das Bundesamt am 27.11.2002 im Wesentlichen folgende Angaben: Nach ihrer ersten Ehe, aus der ein beim Vater lebendes Kind hervorgegangen sei, habe sie im Jahr 2000 einen Kollegen aus dem Finanzministerium geheiratet. Wegen Kinderlosigkeit dieser Ehe habe es Streit gegeben, und nachdem sie ein gynäkologisches Attest besorgt habe, sei ihr Ehemann gewalttätig geworden, habe ihr das Nasenbein gebrochen, das Telefonieren unterbunden, sie schließlich zu Hause eingesperrt und Frauen mitgebracht, mit denen er dann geschlafen habe. Nach einem Selbstmordversuch habe sie wöchentlich ihre Eltern besuchen dürfen und unterwegs einen Mann kennen gelernt, mit dem sie sich zwei- bis dreimal getroffen habe. Als sie mit diesem einmal auf dem Weg zu ihrer Mutter zusammen gewesen sei, habe dies ein Mitarbeiter ihres Ehemannes beobachtet, was sie bemerkt habe. Ihr Ehemann habe dann bei ihren Eltern angerufen und mit Steinigung gedroht, worauf sie zu ihrem Onkel in Teheran gegangen sei, der sie zu seiner Schwägerin gebracht und die Ausreise am 29.9.2002 sowie den Flug am 16.10.2002 organisiert habe. Der iranische Bekannte sei inhaftiert und ausgepeitscht worden, was sie von dessen Freund telefonisch erfahren habe, und für sie wäre eine Rückkehr der sichere Tod.

Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 27.11.2003 den Asylantrag unter Verneinung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 und von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG sowie unter Androhung der Abschiebung in den Iran ab. Zur Begründung ist ausgeführt, selbst bei ehebrecherischen Handlungen drohe wegen strenger Beweisanforderungen keine Bestrafung, die auch nicht an asylerhebliche Merkmals anknüpfe. Gemäß Zustellungsurkunde der Deutschen Post vom 1.12.2003 wurde der Bescheid mit der im Januar 2003 mitgeteilten Anschrift der Klägerin (...) bei der hierfür bestimmten Stelle (...) niedergelegt und die Mitteilung darüber in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise abgegeben. Nach Abschlussmitteilung an das Regierungspräsidium Stuttgart forderte dieses die Klägerin mit Bescheid vom 10.3.2004, der gemäß Zustellungsurkunde vom 13.3.2004 in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten eingelegt wurde, zu Mitwirkungshandlungen nach § 15 AsylVfG auf. Die frühere Prozessbevollmächtigte der Klägerin bat mit Telefax vom 23.3.2004 samt Vollmacht vom 17.3.2004 das Bundesamt um Übersendung des Bescheids vom 27.11.2003 und suchte am 29.3.2004 um Rechtsschutz wegen des Bescheids vom 10.3.2004 nach (A 11 K 11113/04 und 11114/04).

Ebenfalls am 29.3.2004 hat die Klägerin zum vorliegenden Verfahren Klage erhoben sowie Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und ausgeführt, sie sei nicht im Besitz des Bescheids vom 27.11.2003 und habe keine Nachricht davon erhalten, obwohl sie den - jedermann zugänglichen, einzigen - Briefkasten der Sammelunterkunft seit ihrer Verlegung von Karlsruhe täglich kontrolliert habe. Hierzu hat die Stadt ... mitgeteilt, dass bei der Unterkunft zwei Briefkästen angebracht seien und die Hausbewohner Schlüssel dafür bekämen, aber auch von oben die Post entnehmen könnten.

Die Klägerin trägt schriftsätzlich unter Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung vor: Einer der beiden Briefkästen habe allein einer großen türkischen Familie gehört, und für den anderen habe nicht jeder Bewohner einen Schlüssel, aber jeder Zugang zum Inhalt gehabt, weshalb nachweisbar viele Briefe verloren gegangen seien und sie wiederholt bei Bewohnern wegen ihres Bescheids nachgefragt habe. Ihre beim Bundesamt protokollierten Angaben seien, bedingt durch ihre psychische Verfassung und Verständigungsprobleme, unvollständig und dahin zu berichtigen, dass sie im Iran beim Ministerium für Handel und Wirtschaft tätig gewesen sei, zwei- bis dreimal außerehelichen Geschlechtsverkehr gehabt habe und von dem Kollegen ihres Ehemannes gesehen worden sei, als sie mit ihrem Freund dessen Haus verlassen habe. Frauen seien im Iran Menschen zweiter Klasse, bereits wegen des Verdachts außerehelicher Beziehungen Opfer strafloser Selbstjustiz durch Ehemänner und männliche Verwandte und wegen familiärer Repressionen besonders selbstmordgefährdet. Auch sie selbst habe sich von den traumatischen Erlebnissen nicht erholt und am 29.3.2004 einen weiteren Selbstmordversuch unternommen, sei psychisch krank und auch deshalb bei einer Rückkehr in Lebensgefahr. Inzwischen habe sie eine enge Beziehung mit einem in den Niederlanden lebenden Freund ihres Cousins, könne ihn aber nicht heiraten und habe eine Schwangerschaft abbrechen lassen. Ihre und ihres Freundes Verwandte und Freunde auch im Iran wüssten davon, und eine Strafverfolgung wegen Ehebruchs sei auch ohne Einhaltung der strengen Beweisanforderungen wahrscheinlich. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin auf eingehendes Befragen nähere Angaben zur Briefkastensituation der Unterkunft in ... sowie zu ihrer Flucht und den Gründen ihrer Furcht vor einer Rückkehr in den Iran gemacht. Wegen der Einzelheiten ihres wird auf die Anlagen zum Sitzungsprotokoll sowie die Schriftsätze vom 25.6.2004, 16. und 26.9.2005, 7.10. und 10.11.2005 Bezug genommen.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 27.11.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen und das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1, hilfsweise Abs. 2 bis 7 AufenthG festzustellen,

hilfsweise,

gemäß schriftlich vorgelegtem Beweisantrag vom 7.3.2006 über die im Iran zu befürchtenden Folgen ihrer nichtehelichen Beziehungen Sachverständigengutachten einzuholen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hat sich nicht geäußert.

Dem Gericht liegen einschlägige Kopien der Akten des Bundesamts und der Stadt ... vor; beigezogen sind die Gerichts- und Behördenakten zu A 11 K 11113/04 und 11114/04.

Gründe

Die Klage, über die das Gericht im allseitigen Einverständnis durch den Berichterstatter und trotz Ausbleibens Beteiligter in der mündlichen Verhandlung entscheiden kann (§§ 87a Abs. 2 und 3, 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig, insbesondere nicht nach § 74 Abs. 1 AsylVfG verspätet.

Möglicherweise ist bereits die Zustellung (§ 3 VwZG, §§ 177 ff ZPO, § 10 AsylVfG) fehlerhaft. Die vorgenommene Ersatzzustellung durch Niederlegung nach § 181 ZPO (vgl. § 10 Abs. 5 AsylVfG) setzt voraus, dass die Zustellung nach §§ 178, 180 ZPO nicht ausführbar ist. Hiernach konnte das Schriftstück auch nicht „in einen zu der Wohnung oder dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt werden, die der Adressat für den Postempfang eingerichtet hat und die in der allgemein üblichen Art für eine sichere Aufbewahrung geeignet ist“ (§ 180 S. 1 ZPO). Im Gegensatz dazu ist jedoch einige Monate nach dem Bescheid des Bundesamts der des Regierungspräsidiums durch Einlegen in den gemeinschaftlichen Briefkasten gemäß § 180 ZPO zugestellt worden, was allerdings in Ermangelung eines eigenen Briefkastens der Klägerin eher fehlerhaft war (vgl. Zöller-Stöber, ZPO, 25. Aufl. 2005, RdNr. 3 zu § 180; Baumbach-Hartmann, ZPO, 63. Aufl. 2005, RdNr. 5 f zu § 180). Andererseits dürfte es kaum dem Sinn des Gesetzes entsprochen haben, die nach § 181 ZPO „in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise“ abzugebende Mitteilung über die Niederlegung des Bescheids des Bundesamts in eben den gemeinschaftlichen Briefkasten einzulegen, der für eine Zustellung nach § 180 ZPO zu unsicher war, auch wenn dies der Wortlaut zu erlauben scheint (vgl. Zöller-Stöber a.a.O. RdNr. 4 zu § 181). Dass die Mitteilung auf andere Weise abgegeben oder, wie hilfsweise vorgesehen, an der Tür der Gemeinschaftseinrichtung angeheftet wurde, ist aber nicht auf der Zustellungsurkunde vermerkt. Indessen kann dahinstehen, ob die Zustellung aus diesen Gründen oder auch deshalb fehlerhaft ist, weil die Niederlegungsstelle nicht bezeichnet, sondern nur eine Adresse vermerkt wurde, unter der allerdings telefonischen Ermittlungen des Gerichts zufolge ein Laden und eine Postagentur zu finden sei:

Jedenfalls ist der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da sie ohne Verschulden an der Einhaltung der Klagefrist gehindert war (§ 60 Abs. 1 und 2 VwGO), sofern diese am 1.12.2003 zu laufen begonnen hat. Sie hat durch ihr eidesstattlich versichertes Vorbringen glaubhaft gemacht, dass sie die Mitteilung über die Niederlegung des Bescheids und deshalb auch diesen nicht erhalten hat. Die Stadt ... hat bestätigt, dass alle Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft auf die eingegangene Post zugreifen konnten. Unter solchen Umständen ist es ohne weiteres aus mancherlei Gründen möglich, dass die Mitteilung nicht zum Adressaten gelangt, und auch nicht damit zu rechnen, dass eine Zustellung auf diese Weise erfolgt. Die Klägerin hat die Zahl von etwa 30 Bewohnern außer der türkischen Großfamilie angegeben, für die häufig die Post entnommen und irgendwo hingelegt worden sei, und auf zahlreiche Werbeschriften hingewiesen, mit denen auch die Mitteilung weggeworfen worden sein könnte. Zudem ist es plausibel, dass sie erst durch den Bescheid vom 10.3.2004 aufgeschreckt Anlass zum Tätigwerden sah und nicht etwa auf eine erhaltene Mitteilung über den lange erwarteten Bescheid des Bundesamts grundlos untätig blieb. Schließlich ist die Klage mit Wiedereinsetzungsantrag und Vortrag der Hinderungsgründe schon eingegangen, bevor die dafür vorgeschriebene Frist mit Erhalt des Bescheids vom 27.11.2003 begonnen hätte (§ 60 Abs. 2 VwGO).

Die Klage ist auch schon mit den Hauptanträgen begründet. Der Bescheid des Bundesamts ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten; die Beklagte ist nach Maßgabe der Entscheidungsformel zu verpflichten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 und Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die Voraussetzungen der Asylberechtigung bzw. drohender Gefahr für Leben oder Freiheit wegen Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung liegen zum maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor (Art. 16a Abs. 1 GG, § 60 Abs. 1 AuslG, vgl. §§ 13 Abs. 2, 31 Abs. 2, 77 Abs. 1 AsylVfG). Das Gericht hat sich davon überzeugt (§ 108 VwGO), dass der Klägerin nach den gesamten Umständen die Rückkehr in den Heimatstaat nicht zugemutet werden kann, weil die Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus politischen Gründen beachtlich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.11.1991, BVerwGE 89, 162).

Nach ihren in der mündlichen Verhandlung stimmig gewordenen, glaubhaften Schilderungen ist die Klägerin geflohen, weil ihrem Ehemann die Kontaktaufnahme mit einem anderen Mann bekannt wurde, läuft aber außerdem bei ihrer Rückkehr Gefahr, als verheiratete Frau unzumutbaren und sogar lebensbedrohlichen Verhältnissen in oder außerhalb ihrer Ehe ausgesetzt zu sein. Für ihre damalige Situation im Iran sind folgende Erkenntnisse bedeutsam:

Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 29.8.2005: „Frauen, die ehelicher oder häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, können nach Einschätzung des Auswärtigen Amts nicht uneingeschränkt darauf vertrauen, dass effektiver staatlicher Schutz gewährt wird. ... Der Ehemann hat das Recht zur Scheidung, ohne dass er den Scheidungsantrag begründen muss ... Die Einrichtung der Khol-Scheidung, d.h. Selbstloskauf der Frau aus der Ehe (Art. 1146 ZGB), sowie der Wegfall der Unterhaltspflicht des Mannes bei Verletzung der Ehepflicht der Frau (Art. 1108 ZGB) führt in häufigen Fällen zu Gewalt des scheidungswilligen Mannes in der Ehe, um seine Frau zur Stellung des Scheidungsantrags zu zwingen und dadurch seine Unterhaltspflichten und die Rückzahlung der Brautgabe zu umgehen.“

Schweizerische Flüchtlingshilfe v. 20.1.2004: „Das neue Scheidungsgesetz vom Dezember 2002 gibt Frauen das Recht, aufgrund von zwölf Punkten eine Scheidung einreichen zu können, darunter eheliche Gewalt (z.B. belegt durch ein Arztzeugnis), Drogenabhängigkeit oder Schulden des Ehemannes. Ein Scheidungsverfahren ist sehr kostenintensiv und kann bis zu fünf Jahren dauern. Wenn Frauen die Scheidung einreichen, werden sie oft gezwungen, auf dem Betrag zu verzichten, den ein Mann seiner von ihm finanziell abhängigen Frau bei einer Scheidung zahlen muss. Dadurch fehlt das Startkapital in die Unabhängigkeit. ... Häusliche Gewalt ist häufig und reicht von Schlägen über Vergewaltigungen und Entstellung des Körpers durch Säureverätzungen bis hin zu Ermordungen, so genannten Ehrentötungen. ... Gemäß islamischem Gesetz wird nicht gegen männliche Mörder vorgegangen. Hunderte von Mädchen verlassen jährlich aufgrund der familiären Zwänge ihr Zuhause, wodurch sie Gefahr laufen, vergewaltigt, ermordet oder Opfer von Menschenhandel zu werden. Viele Frauen wählen den Freitod als Flucht vor familiärer Repression ... Frauen haben kaum Möglichkeiten, rechtlich gegen einen gewalttätigen Ehemann vorzugehen. Wenn eine Frau sich nicht scheiden lassen möchte, dann wird sie von der Polizei oder einem Gericht zu ihrem Ehemann zurück geschickt. Frauenhäuser sind selten und garantieren keine umfassende Sicherheit.“

Deutsches Orient-Institut v. 24.8.2005 an VG Neustadt: Eine verheiratete Frau würde mit Steinigung bestraft werden, wenn sie mit einem anderen Mann schliefe und ihre Verfehlung zugäbe. Ihr Ehemann würde sie, wenn nicht umbringen, so doch - mindestens - verstoßen, so dass sie als gesellschaftlich und sozial Geächtete ihr Dasein fristen müsste.

Deutsches Orient-Institut v. 27.2.2003 an VG Darmstadt: „Nach § 637 des islamischen StGB steht auf eine ungesetzliche Beziehung oder eine sittenlose Tat eines Mannes und einer Frau außer Unzucht, wie etwa Bettgemeinschaft oder Küssen, eine Strafe bis zu 99 Peitschenhieben. ... Eine solche Bestrafung kann in einer Sitzung rein praktisch gar nicht durchgeführt werden, da die Delinquenten nach einigen Schlägen ohnmächtig werden, da ihnen die Haut buchstäblich vom Leib geschlagen wird, obwohl Frauen im Sitzen und bekleidet ausgepeitscht werden müssen.“

Behjat Moaali, Rechtsgutachten v. August 2001: „Die Zahl der zum Tode Verurteilten und Hingerichteten lässt Zweifel bezüglich der Freiwilligkeit der Geständnisse aufkommen. ... Es ist eine Tatsache, dass diejenigen, die auf dem Polizeirevier bezüglich dieser Angelegenheit verhört werden, zu ihrem Geständnis mittels Prügel oder anderer Maßnahmen, z.B. falscher Versprechungen, gezwungen werden, besonders wenn die Beschuldigung von einer einflussreichen Stelle erfolgte. ... Dass der Ehegatte über ausreichend gute Beziehung verfügt, hat eine Auswirkung bei dem Verfahren. ... Seiner Aussage wird eine stärkere Glaubwürdigkeit beigemessen, sie erhält dadurch eine höhere Gewichtung bei der Einleitung eines Strafverfahrens und der Urteilsfindung. Sein Einfluss könnte sich auch inoffiziell auf die Urteilsfindung und Vollstreckung des Urteils auswirken.“

Das Vorbringen der Klägerin fügt sich in diese Gefahrenlage ein und macht ihre Gefährdung nach den konkreten Umständen einschließlich des zeitlichen Ablaufs der Ereignisse plausibel: Ihr Ehemann sei als Angehöriger des Geheimdienstes (Informationsministerium) im Ministerium für Handel und Wirtschaft, verfüge über Macht und eine Waffe und hätte unter allen Umständen zu verhindern gewusst, dass sie sich von ihm hätte scheiden lassen. Nachdem er bereits geschieden gewesen sei, wäre in diesem Fall seine Zeugungsunfähigkeit offenkundig geworden und seine Ehre als Mann zerstört gewesen. Deshalb sei er völlig außer sich geraten, als sie ihm die Bescheinigung über ihre Zeugungsfähigkeit gezeigt habe, habe seither nicht mehr mit ihr geschlafen, sie zur Aufgabe ihrer Arbeitsstelle genötigt und sie als Gefangene gehalten, die er aus jedem beliebigen Anlass geschlagen habe, und sei es nur wenn sie bei seinen Exzessen ihre Miene verzogen habe. Er belästige immer noch ihre Eltern, weil er nicht wisse, wo sie sich aufhalte, und sie telefoniere nicht mit ihnen aus Sorge, sie würden auf seine Veranlassung abgehört. Sein Einfluss habe auch dazu beigetragen, dass ihr damaliger Freund noch am Tag ihrer Entdeckung zusammengeschlagen und abgeführt worden sei; man habe ihn zum Geständnis gezwungen und gedroht auch sie noch zu erwischen. Dass sich die in psychiatrischer Behandlung befindliche Klägerin immer wieder einbilde, ihr Ehemann habe sie hier ausfindig gemacht und stelle ihr nach, spricht zusätzlich für die real empfundene Gefahr. Insgesamt waren ihre Angaben auch auf zahlreiche Fragen überzeugend und spiegelten tatsächlich Erlebtes wider. Insbesondere leuchtet ein, dass auch beim Bundesamt von - in der Niederschrift nicht erwähntem - außerehelichem Geschlechtsverkehr bei den Treffen mit dem jungen Mann die Rede war (was der nicht mit dem Anhörenden identische entscheidende Bedienstete offen gelassen hat), nachdem sie schon zuvor beim Bundesgrenzschutz von einem intimen Verhältnis gesprochen hatte.

Hiernach befand sich die Klägerin schon ungeachtet der im Iran aufgenommenen Beziehung in einer ausweglosen Lage, der sie sich nur durch Flucht ins Ausland entziehen konnte. Diese Situation erfüllt die Voraussetzungen einer Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich verheirateter Frauen, die nach dem herrschenden Staats- und Gesellschaftssystem des Iran ihren Ehemännern letztlich schutzlos ausgeliefert sein können (ebenso Urt. eines Kammerkollegen v. 23.1.2006 - A 11 K 13008/04 -). Die Behandlung der Frauen als Menschen zweiter Klasse (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts v. 29.8.2005 zur geschlechtsspezifischen Menschenrechtslage S. 30 ff) verwirklicht sich aber auch in den Folgen eines Ehebruchs oder eines dahingehenden Verdachts, wiewohl insoweit weder die Strafdrohungen differenzieren noch auch die männlichen Liebhaber vor nichtstaatlichen Reaktionen, insbesondere vor Privatjustiz der Ehemänner geschützt sind. Dies gilt nämlich der höheren männlichen Ehre, der auch die Ehrbarkeit der Ehefrauen zu dienen hat, während die Ehemänner entsprechende Reaktionen auf ihren Ehebruch kaum zu befürchten haben. Die Verfolgung knüpft somit nicht an die eheliche Untreue schlechthin an, sondern an die der Frau, die mit diesem „Geschlechtsmalus“ sehr wohl aus einer staatlichen Friedensordnung ausgegrenzt wird (vgl. VG Berlin, Urt. v. 23.4.2001, InfAuslR 2002, 160; wegen hauptsächlicher Verfolgung der Frauen auch VG Karlsruhe, Urt. v.9.5.2005 - A 6 K 10636/04 - Informationsverbund Asyl; a.A. VG Saarland, Urteil v. 21.09.2005 - 5 K 2/05.A und VG Würzburg, Urt. v. 9.10.2002 - W 7 K 02.30595 -, ebenda, VG Münster, Urt. v. 10.12.02 - 5 K 3970/98.A - und VG Bremen Urt. v. 2.4.1998 - 3 AK 2749/97 -, juris). Auf eine weitergehende politische Verfolgungsgefahr infolge „unmoralischen Verhaltens“ (vgl. dazu Urt. eines Kammerkollegen v. 9.3.2005 - A 11 K 10516/03 -) nach der Ausreise kommt es nicht mehr an.

Die Bewertung als Verfolgung, die an ein asylerhebliches Merkmal anknüpft, gilt auch für Art. 16a Abs. 1 GG und folgt nicht erst aus § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG, wonach eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Denn der im Asylgrundrecht zugrunde gelegte politische Charakter der Verfolgung ist mit dem des Abkommens vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - GFK - und auch dem des § 51 Abs. 1 AuslG deckungsgleich (stRspr des BVerwG, vgl. Urt. v. 18.01.1994, BVerwGE 95, 42 m.w.N.). Der nunmehr an die Stelle des § 51 Abs. 1 AuslG getretene § 60 Abs. 1 AufenthG dient ausdrücklich der Anwendung der GFK und entspricht teilweise der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.4.2004 (Amtsblatt der Europäischen Union L 304/12) - Qualifikationsrichtlinie -, die bis 10.10.2006 umzusetzen ist und schon jetzt bewirkt, dass sich die Gerichte bei der Auslegung des nationalen Rechts von ihr leiten lassen können (vgl. VGH Baden-Württ., Beschl. v. 12.5.2005 - A 3 S 358/05 - m.w.N.). Nach der Qualifikationsrichtlinie setzt die Flüchtlingseigenschaft (Art. 13) voraus, dass eine von Akteuren im Sinne des Art. 6 (wie § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG) ausgehende, nicht durch Akteure im Sinne des Art. 7 oder durch internen Schutz nach Art. 8 (vgl. § 60 Abs. 1 S. 4 a.E. AufenthG) abzuwendende gravierende Verfolgungshandlung (Art. 9) an die Merkmale nach Art. 10 (Art. 1 A Nr. 2, Art. 33 Nr. 1 GFK, § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG) anknüpft und kein Erlöschens- oder Ausschlussgrund nach Art. 11 und 12 vorliegt. Für die Annahme einer bestimmten sozialen Gruppe können geschlechterspezifische Aspekte berücksichtigt werden, reichen aber - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG - allein noch nicht aus (Art. 10 Abs. 1 d Qualifikationsrichtlinie). Insbesondere der soziale Begriff des Geschlechts (gender) kann Frauen vor einem gesellschaftlichen Hintergrund, in dem ihnen bestimmte Rollen und Identitäten zugewiesen sind, einer bestimmten sozialen Gruppe zugehörig machen (vgl. Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung Teil 1, § 19 RdNr. 69-79). Wegweisend und typisch für die Zuordnung ist dabei die Entscheidung „Islam and Shah“ der britischen Lordrichter, die folgende auch im vorliegenden Fall zutreffende Charakteristika hervorhoben: weibliches Geschlecht, Verdacht des Ehebruchs und ungeschützte Position bei institutionalisierter Diskriminierung von Frauen durch Polizei, Gerichte und das gesamte Rechtssystem des Staates (Nachweise bei Marx a.a.O. RdNr. 75-78; vgl. auch schon Gebauer, Asylrechtliche Anerkennung frauenspezifischer Verfolgung, ZAR 1988, 120 m.w.N.).

Die begehrte Anerkennung als Asylberechtigte ist nicht ausgeschlossen, weil die Klägerin auf dem Landweg und damit aus einem sicheren Drittstaat eingereist wäre (Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a Abs. 1 Abs. 2 mit Anlage I AsylVfG). Denn das Gericht ist von der Einreise auf dem Luftweg ebenfalls überzeugt, nachdem schon die vorausgegangene Fluchtgeschichte glaubhaft und der Versuch einer Weiterreise mit dem Flugzeug und einem gefälschten Pass erwiesen ist, also auch die dafür erforderlichen Geldmittel vom Onkel aufzubringen waren.

Ist hiernach das Bundesamt zur Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte und zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG verpflichtet, so sind entgegen seiner Auffassung die Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG, jetzt Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, nicht zu verneinen (§ 31 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AsylVfG). Auch die Abschiebungsandrohung ist aufzuheben, weil die Klägerin nicht in den angegebenen Zielstaat abgeschoben werden darf (§ 34 AsylVfG, § 60 Abs. 1 AufenthG) und ein anderer Zielstaat nicht konkret bezeichnet ist (§ 60 Abs. 10 AufenthG).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG und entsprechender Anwendung des § 162 Abs. 3 VwGO.