VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.04.2012 - 11 S 4/12
Fundstelle
openJur 2013, 15094
  • Rkr:

Die Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG (juris: EGRL 115/2008)) ist auch auf solche Sachverhalte anzuwenden, in denen eine Ausweisungsverfügung schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist (Art. 20 Abs. 1 RFRF (juris: EGRL 115/2008)) wirksam verfügt worden war (im Anschluss an EuGH, Urteil vom 30.11.2009 - C-357/09 PPU in der Rechtssache Kadzoev, Urteil vom 28.04.2011 - C-61/11 PPU in der Rechtssache El Dridi).

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 21.10.2009 - 8 K 2123/09 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Der 1988 in Stuttgart geborene ledige Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er wuchs als einziges Kind im elterlichen Haushalt auf. Der Vater ist ebenfalls türkischer Staatsangehöriger, die Mutter besitzt die kroatische Staatsangehörigkeit. Der Kläger besuchte zunächst die Grundschule und wechselte nach der 5. Klasse Hauptschule auf die Realschule. Dort wiederholte er die 6. Realschulklasse. Nachdem er das Klassenziel der 9. Realschulklasse nicht erreicht hatte, wechselte er für ein Berufsvorbereitungsjahr erneut die Schule und erreichte dort 2006 den Hauptschulabschluss. Der Kläger bemühte sich anschließend nicht um einen Ausbildungsplatz oder um eine Arbeitsstelle, sondern lebte von Zuwendungen der Eltern.

Der Kläger ist seit dem 14.03.2005 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis.

Ein Verfahren gegen den Kläger wegen Körperverletzung und Beleidigung eines Mitschülers wurde durch Verfügung der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 22.02.2005 gemäß § 45 Abs. 2 JGG eingestellt.

Am 16.08.2007 schlug er einen Passanten auf den Rücken, als dieser ihn auf seine überhöhte Geschwindigkeit und undisziplinierte Fahrweise ansprach und sich von ihm entfernen wollte, nachdem der Kläger ihn zunächst bedroht und schließlich noch beleidigt hatte. Dieses Verfahren wurde ebenfalls eingestellt.

Am 28.08.2007 wurde der Kläger wegen des dringenden Tatverdachts des Mordes vorläufig fest- und aufgrund eines am 29.08.2007 vom Amtsgericht Stuttgart erlassenen Haftbefehls in Untersuchungshaft genommen.

Durch Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 05.03.2008 wurde der Kläger wegen Mordes und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von 10 Jahren verurteilt. Das Landgericht ordnete gleichzeitig die Unterbringung des Klägers in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Der Kläger hatte am 21.08.2007 aus Eifersucht zusammen mit einem von ihm angestifteten Mittäter den 19-jährigen französischen Staatsangehörigen Ivan S. ermordet.

Der Chefarzt der Klinik für forensische Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S. gab am 23.01.2009 einen Führungsbericht über den Kläger ab. Darin heißt es u.a., dass eine Auseinandersetzung und Aufarbeitung mit der begangenen Straftat beim Kläger bislang nicht stattgefunden habe. Von einer Verantwortungsübernahme sei dieser noch weit entfernt.

Nach Anhörung wies das Regierungspräsidiums Stuttgart daraufhin den Kläger mit Verfügung vom 25.05.2009 aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziffer 1) und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei ohne Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise an, wobei er darauf hingewiesen wurde, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden könne, in den er einreisen dürfe und der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei (Ziffer 2). Gleichzeitig wurde er darüber informiert, dass seine Abschiebung - vorbehaltlich der Bestandskraft der Verfügung - im Zeitpunkt der Haftentlassung beabsichtigt sei. Die Abschiebung wurde dem Kläger für diesen Zeitpunkt angekündigt.

In der Begründung heißt es u.a.: Der Kläger besitze eine Rechtsposition und ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 und genieße aufgrund dessen Ausweisungsschutz nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80. Danach gälten die gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen der Art. 6 und 7 ARB 1/80 nur vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt seien. Dabei seien die materiell- rechtlichen Grundsätze zu beachten, die für freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Union Anwendung fänden. Die Ausweisung eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers setze demnach insbesondere voraus, dass aufgrund des persönlichen Verhaltens des Betroffenen außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstelle, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Eine strafrechtliche Verurteilung könne eine Ausweisung nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen ließen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstelle. Zudem setze die Ausweisung nach dem Urteil des EuGH vom 29.04.2004 einen sogenannten Extremfall voraus, also die konkrete und hohe Wiederholungsgefahr besonders schwerwiegender Straftaten. Der Kläger sei vom Landgericht Stuttgart am 05.03.2008 wegen Mordes und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von 10 Jahren verurteilt worden. Gleichzeitig sei die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden. Die vom Kläger begangene Straftat stelle als Kapitalverbrechen ein persönliches Verhalten im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dar. Dieses gebe Anlass, den Kläger aus dem Bundesgebiet auszuweisen. Daran ändere auch die vom Strafgericht aufgrund des psychiatrischen Gutachtens getroffene Feststellung einer krankhaft seelischen Störung und einer dadurch erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit und damit auch erheblich verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB nichts. Die vom Kläger - wenn auch im Zustand der verminderten Steuerungs- und Schuldfähigkeit - begangene Gewalttat des Mordes stelle zweifelsfrei einen Verstoß, gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Sie sei auch ein schwerwiegender Ausweisungsanlass. Die Ausweisung erfolge wegen der Schwere der abgeurteilten Straftat sowie der konkreten Wiederholungsgefahr weiterer schwerwiegender Verstöße gegen die geltende Rechtsordnung. Im Falle des Klägers bestehe eine konkrete Wiederholungsgefahr einer ähnlich gelagerten schweren Straftat. Nach den Ausführungen des Sachverständigen sei der Kläger weiterhin krank und neige zudem zu Aggressionen und Autoaggressionen und die Wahrscheinlichkeit spreche nach Auffassung des Sachverständigen dafür, dass beim Kläger - etwa im Rahmen einer Zuspitzung der Situation - weiter mit erheblichen Gewalttaten zu rechnen sei. Die Neigung zu Aggressionshandlungen und Gewalttätigkeiten habe der Kläger in der Vergangenheit wiederholt gezeigt. Wegen der Schwere der vom Kläger begangenen Straftat und der bestehenden hohen konkreten Wiederholungsgefahr weiterer schwerer Straftaten stehe einer Ausweisung Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nicht entgegen. Für freizügigkeitsberechtigte Angehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union wie auch für türkische Staatsangehörige, die eine Rechtsposition aus Art. 7 ARB 1/80 besitzen, sei eine Ausweisung ungeachtet des tatsächlich verwirklichten Ausweisungstatbestandes nur im Ermessenswege auf der Grundlage des § 55 AufenthG zulässig. Das Regierungspräsidium Stuttgart gehe davon aus, dass für den Kläger auch die nationalen Schutzvorschriften des § 56 AufenthG Anwendung fänden. Danach könne der Kläger, der eine Niederlassungserlaubnis besitze und sich seit mehr als 5 Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte, nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG nur noch aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Ein solcher Fall liege beim Kläger vor. Da, wie dargelegt, eine hohe und konkrete Wiederholungsgefahr bestehe, sei die Rechtshürde des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG überwunden. Ein nationales Ausweisungsverbot liege damit nicht vor und über die Ausweisung sei im Hinblick auf Art. 14 ARB 1/80 nach Ermessen zu entscheiden. Mit dem von ihm begangenen Kapitalverbrechen erfülle der Kläger den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG. Danach könne eine Ausweisung erfolgen, wenn der betreffende Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen habe. Nach einer umfänglichen Würdigung der schutzwürdigen persönlichen wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Klägers kam das Regierungspräsidium zu dem Ergebnis, dass eine Ausweisung keine unverhältnismäßige Folge der schweren Gewalttat des Klägers darstelle, auch wenn diese im Zustand der verminderten Steuerungs- und Schuldfähigkeit begangen worden sei. Die Ausweisung als Maßnahme der polizeilichen Gefahrenabwehr wurde unter Berücksichtigung der sehr hohen Wiederholungsgefahr nicht als unverhältnismäßig angesehen und sei auch mit Art. 8 EMRK vereinbar. Einer Ausweisung stehe auch nicht das Europäische Niederlassungsabkommen (ENA) vom 13.12.1955 entgegen. Der Kläger habe, wie oben dargelegt, gegen die öffentliche Ordnung verstoßen und damit könne der völkerrechtliche Ausweisungsschutz aus Art. 3 Nr. 3 des ENA ihn nicht vor einer Ausweisung schützen. Zudem sei der Schutz aus Art. 3 Nr. 3 ENA nicht höher als die Rechtsschranke aus Art. 14 ARB 1/80, die im Falle des Klägers ebenfalls überwunden sei. Die Abschiebungsandrohung habe ihre Rechtsgrundlage in § 59 AufenthG. Da sich der Kläger in Haft bzw. im Maßregelvollzug befinde, bedürfe es in seinem Fall nach § 59 Abs. 5 AufenthG keiner Fristsetzung. Vielmehr werde ein Ausländer in diesen Fällen aus der Haft bzw. Unterbringung abgeschoben. Es sei davon auszugehen, dass bis dahin über eine ggf. erhobene Klage rechtskräftig entschieden und die Ausweisung damit unanfechtbar und die Ausreisepflicht vollziehbar sein werde.

Der Kläger erhob am 02.06.2009 Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart.

Zur Begründung trug er unter anderem vor: Der Kläger erfülle als türkischer Staatsangehöriger die Voraussetzungen gemäß Art. 7 Satz 1 ARB 1/80. Die Ausweisung sei rechtswidrig. Zunächst sei Art. 28 Abs. 3 lit. a) RL 2004/98/EG im Rahmen des Art. 14 ARB 1/80 anzuwenden. Die Vorschrift führe nicht nur dazu, dass § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU anzuwenden sei, vielmehr werde dadurch auch der Begriff der öffentlichen Sicherheit eingeengt. Schutzgut des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG seien die Sicherheit des Staates und seiner Institutionen und das Überleben der Bevölkerung. Dieses sei vom Kläger niemals gefährdet worden. Weiter verstoße seine Ausweisung gegen Art. 8 EMRK. Der erzieherische Gedanke in dieser Bestimmung werde vom Beklagten vorliegend verleugnet. Zudem beherrsche der Kläger auch nicht die türkische Sprache. Der Vater habe sich mit der Mutter, einer kroatischen Staatsangehörigen, darauf verständigt, nur in deutscher Sprache miteinander zu kommunizieren. Der Kläger sei danach faktischer Inländer. Dies werde auch dadurch bestätigt, dass keiner der Mittäter bei der schrecklichen Tat türkisch gesprochen habe. Weiter bestehe die Gefahr, dass der Kläger bei einer Abschiebung in die Türkei den bereits in der Haft unternommenen Suizidversuch vollenden werde.

Der Beklagte trat der Klage entgegen und nahm im Wesentlichen Bezug auf die Ausführungen im angegriffenen Bescheid. Ergänzend trug er vor, dass dem Vorbringen des Klägers, die türkische Sprache nicht einmal in den Grundzügen zu beherrschen, entgegengehalten werden müsse, dass nach allgemeiner Lebenserfahrung auch hier im Bundesgebiet geborene türkische Staatsangehörige die türkische Sprache zumindest in rudimentären Teilen vermittelt bekämen und auch sprächen.

Mit Urteil vom 21.10.2009 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Das Regierungspräsidium sei zu Recht davon ausgegangen, dass dem Kläger die Rechtsstellung des Art. 7 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei (ARB 1/80) zugutekomme. Er besitze als in Deutschland geborener Familienangehöriger eines in der Vergangenheit dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers eine Rechtsposition nach Art. 7 Abs. 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80. Beide Elternteile des Klägers verfügten über ein Daueraufenthaltsrecht im Bundesgebiet. Obwohl der Kläger selbst über keine Berufsausbildung verfüge und auch zu keiner Zeit berufstätig gewesen sei, habe er die von seinem Vater abgeleiteten Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 nicht verloren. Aufgrund dieser Rechtsstellung als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger genieße der Kläger den besonderen Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80 und könne - ungeachtet der Erfüllung eines sogenannten Ist- oder Regelausweisungstatbestands nach nationalem Recht - nur noch auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG ausschließlich aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden, wobei für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage die letzte mündliche Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgebend sei. Entgegen der Rechtsauffassung des Klägervertreters sei im Falle des Klägers Art. 28 Abs. 3 der RL 2004/38/EG nicht zu berücksichtigen. Beim Kläger komme eine Ausweisung lediglich aus spezialpräventiven Gründen in Betracht, wenn eine tatsächliche und schwerwiegende Gefährdung für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im i.S.v. Art. 14 ARB 1/80 vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Das sei der Fall, wenn ein Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht bestehe, der sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergebe, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft drohe und damit eine gewichtige Gefahr für ein wichtiges Schutzgut bestehe. Diese Voraussetzungen seien vom Regierungspräsidium zutreffend bejaht worden. Die Gefahr, dass der Kläger ähnlich gelagerte schwerwiegende Straftaten wieder begehen werde, sei nach Berücksichtigung aller Umstände nicht ausgeschlossen. Dabei seien geringere Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung zu stellen, wenn die Verurteilung - wie hier - wegen schwerwiegender Delikte erfolgt sei. Es sei allgemein anerkannt, dass je schwerer die zu besorgende Beeinträchtigung wiege, desto geringer die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit neuer Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung seien. Der Kläger habe einen Mord, also ein Verbrechen schwerster Kriminalität begangen. Bei einer solchen Verfehlung sei eine auch entfernte Möglichkeit weiterer Straftaten ausreichend, um eine negative Prognose zu stellen. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sei für den konkreten Fall zu prüfen, ob eine Wiederholungsgefahr bestehe. Grundlage dafür sei eine umfassende Beurteilung der Person des Ausländers, seines Verhaltens, seiner Lebensverhältnisse, Art und Schwere der Tat, Umstände der Begehung, Art und Höhe der Strafe, sowie die weitere Entwicklung nach der Straftat. Das Regierungspräsidium Stuttgart habe im Rahmen einer umfassenden Gesamtwürdigung beim Kläger eine konkrete Wiederholungsgefahr ähnlich gelagerter schwerwiegender Straftaten festgestellt. Dabei habe es sich auf Sachverständigenausführungen gestützt, nach denen der Kläger weiterhin krank sei und zudem zu Aggressionen und Autoaggressionen neige. Bereits im Jahre 2005 habe er Mitschülern Faustschläge ins Gesicht verpasst und 2007 einen Passanten, der ihn wegen seiner undisziplinierten Fahrweise mit dem Pkw angesprochen gehabt habe, bedrängt und in den Rücken geschlagen. Der Kläger habe ferner auch seine Mutter geschlagen und sei seiner früheren Freundin gegenüber wiederholt gewalttätig geworden. In Verbindung mit der beim Kläger diagnostizierten krankhaften seelischen Störung könne dies durchaus zu weiteren Gewalttätigkeiten führen bzw. solche auslösen. Nach der fachärztlichen Stellungnahme des Dr. S., Chefarzt der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, habe sich der Kläger bislang mit der von ihm begangenen Straftat nicht auseinandergesetzt und diese nicht aufgearbeitet. Von einer Verantwortungsübernahme sei er noch weit entfernt. Der Beklagte habe sein Ermessen nach § 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG fehlerfrei ausgeübt und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei gewahrt.

Am 12.11.2009 hat der Kläger die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt und sogleich unter Stellung eines Antrags zunächst dahingehend begründet, dass die Ausweisungsverfügung gegen Art. 28 Abs. 3 lit. a) RL 2004/38/EG verstoße. Der Kläger beherrsche die türkische Sprache nicht und sei angesichts des bei ihm festgestellten niedrigen Intelligenzquotienten auch nicht in der Lage, diese zu erlernen. Der Kläger habe ohne die Zustimmung der Eltern vom Kinderarzt Ritalin verschrieben bekommen, das insbesondere in Kombination mit Drogen visuelle Halluzinationen, psychotisches Verhalten sowie Aggressionen auslösen könne, weshalb die Hoffnung und Erwartung bestehe, dass der Kläger resozialisierbar sei. Nach Ergehen der Vorabentscheidung in der Sache Ziebell durch den EuGH am 08.12.2011 macht der Kläger nunmehr geltend, dass die angegriffene Verfügung gegen das in Art. 9 RL 64/221/EWG und das dort niedergelegte „Vier-Augen-Prinzip“ verstoße, das mit Rücksicht auf die sog. „Stand-Still-Klausel“ des Art.13 ARB 1/80 weiter anzuwenden sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 21.10.2009 - 8 K 2123/09 - zu ändern und die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.05.2009 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung verweist er darauf, dass es jedenfalls dem Kläger zumutbar und möglich sei, in der noch länger andauernden Haft die türkische Sprache in den Grundzügen zu lernen. Wenn insoweit auf den niedrigen Intelligenzquotienten verwiesen werde, müsse berücksichtigt werden, dass der Kläger immerhin mehrere Jahre die Realschule besucht habe.

Durch Beschluss des Amtsgerichts Wiesloch vom 16.10.2009 wurde angeordnet, dass die Strafvollstreckung entgegen dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vor der Unterbringung zu erfolgen hat. Die Beschwerde des Klägers hiergegen wies das Landgericht Heidelberg nach Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens Dr. P. vom 12.07.2010 durch Beschluss vom 11.11.2010 zurück.

Durch Beschluss vom 30.12.2009 war im Hinblick auf das Vorabentscheidungsverfahren Ziebell das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden.

Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.

Dem Senat liegen die Akten des Regierungspräsidiums Stuttgart, die Strafakten des Landgerichts Stuttgart und die Strafvollstreckungsakten vor.

Gründe

Die zulässige Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.

Auch nach der zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats maßgeblichen Sach- und Rechtslage ist die Ausweisungsentscheidung des Beklagten nicht zu beanstanden.

I.

Da der Kläger abgeleitet von seinem ursprünglich als Arbeitnehmer beschäftigen Vater eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann sein Aufenthalt gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 (i.V.m. § 55 Abs. 1 AufenthG) nur beendet werden, wenn dies aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.

1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 <Ziebell> Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, ebenda Rn. 73).

Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie, zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs. C-317/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs. 67/74 <Bonsignore>; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 <Rutili>; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 <Bouchereau>; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 <Adoui und Cornouaille>; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 <Kommission/Bundesrepublik>; vom 19.01.1999 - Rs. C-348/96 <Calfa>). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie, eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.

Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.

Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 80).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 <Bozkurt> Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 <Bozkurt> Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).

Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention erfolgen, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010 <Bozkurt> Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.

Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 <Cetinkaya> Rn. 47).

Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr bringt der Gerichtshof mit dieser Formel nur mit anderen Worten den in seiner ständigen Rechtsprechung für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs. C-100/01 <Olazabal> Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs. C-55/94 <Gebhard> Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 <Rutili>), wobei insoweit eine sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.

Diese in der Entscheidung angelegte und angemahnte besondere Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt nach Auffassung des Senats auch die Berücksichtigung einer aktiven und positiven Mitarbeit des oder der Betroffenen am Resozialisierungsprozess insbesondere während des Vollzugs der Strafhaft, die aber erkennbar über ein bloßes Wohlverhalten hinausgehen muss, weshalb auch insoweit die infolge der Ausweisung eintretende mögliche Gefährdung eines in Gang gesetzten positiven Resozialisierungsprozesses (vgl. auch § 2 StVollzG) einen wichtigen Abwägungsfaktor ausmachen kann. In Fällen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die im Bundesgebiet geboren und/oder hier einen ganz überwiegenden Teil ihres gesamten Lebens verbracht haben, vermag der Umstand einer konkreten Gefährdung eines positiven Resozialisierungsprozesses unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit zwar assoziationsrechtlich keine strikte Rechtsgrenze einer Ausweisung auszumachen, er kann jedoch im Einzelfall von solchem Gewicht sein, dass es einer besonderen Begründung bedarf, um gleichwohl eine Ausweisung verfügen zu dürfen. Es müssen – namentlich wenn der Resozialisierungsprozess weit fortgeschritten ist und weitere gewichtige positive Integrationsfaktoren hinzukommen – besondere Umstände vorliegen, die es rechtfertigen, gleichwohl das reale Risiko eines Scheiterns des Resozialisierungsprozesses in Kauf zu nehmen.

Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs. C-482 und 493/01 <Orfanopoulus und Oliveri>). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 <Bouchereau>). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 <Polat> Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.

Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 <Rutili>). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.

Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartig weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in den dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteile vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291 und vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris).

Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risikos gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts der vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.

Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.

Ausgehend hiervon stellt die Ausweisung eine nach Art. 14 ARB 1/80 zulässige und namentlich verhältnismäßige Maßnahme dar. Wie sich insbesondere aus dem Gutachten von Dr. P. vom 12.07.2010 und den nachfolgenden Beschlüssen des Amtsgerichts Wiesloch vom 16.10.2009 sowie des Landgerichts Heidelberg vom 11.11.2010 eindrücklich ablesen lässt, hat bislang eine grundlegende Auseinandersetzung des Klägers mit der von ihm begangenen Tat wie auch insgesamt mit seiner gesamten bisherigen Lebenssituation nicht stattgefunden, was jedoch unerlässlich ist, um zu einer wenigstens im Ansatz günstigeren Sozialprognose zu gelangen. Nach der ausführlich begründeten Feststellung des Gutachters liegt beim Kläger eine therapiebedürftige ausgeprägte Persönlichkeitsstörung vor. Eine Therapie ist bislang nicht durchgeführt worden, und zwar in erster Linie deshalb, weil sich der Kläger hierfür nicht in dem erforderlichen Maße geöffnet hat, was auch in seiner jüngsten, auch in der mündlichen Verhandlung bestätigten Entscheidung, sich sobald als möglich in die Türkei abschieben zu lassen, deutlich zum Ausdruck kommt. Dieses zugrunde gelegt, geht vom Kläger nach wie vor eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben anderer Mitmenschen aus, was eine Beendigung des Aufenthalts rechtfertigt.

Die Ausweisung stellt in Anbetracht des erheblichen, vom Kläger unverändert ausgehenden Gefahrenpotentials auch vor dem Hintergrund, dass er im Bundesgebiet geboren wurde und niemals in der Türkei gelebt hat, eine verhältnismäßige und insbesondere mit Art. 8 EMRK vereinbare Maßnahme dar. Der Senat geht in diesem Zusammenhang zugunsten des Klägers davon aus, dass er gegenwärtig die türkische Sprache nicht beherrscht, sondern alltagstaugliche Sprachkenntnisse erst erwerben muss. Entgegen der Auffassung seines Prozessbevollmächtigten sieht der Senat auch keine unlösbaren Schwierigkeiten für den Kläger, diese Sprachkenntnisse zu erwerben. Seinen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung zufolge hat er immerhin zusammen mit einem in der JVA ... einsitzenden türkischen Staatsangehörigen mittlerweile begonnen, die türkische Sprache zu erlernen. Die Tatsache, dass er den Hauptschulabschluss erreicht und zuvor auch mehrere Jahre mit teilweise sogar durchschnittlichen Leistungen die Realschule besucht hat, steht der Annahme einer unzureichenden geistigen und intellektuellen Leistungsfähigkeit entgegen.

Eine unverhältnismäßige Maßnahme liegt hier schon deshalb nicht vor, weil der Kläger es selbst gegenwärtig ausdrücklich wünscht, in die Türkei zurückgeführt zu werden, um dort, wie er in der mündlichen Verhandlung unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, möglichst schnell und nicht erst nach Ablauf der Haftzeit im August 2017 einen Neuanfang zu versuchen. Bei einer solchen Ausgangslage wäre die Annahme, dass eine Aufenthaltsbeendigung unzumutbar und daher unverhältnismäßig sein könnte, bereits im Ansatz verfehlt. Entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten, der sich einer Klagerücknahme verweigert hat, weshalb wegen der fehlenden Postulationsfähigkeit des Klägers das Verfahren weitergeführt werden musste, sieht der Senat keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger nicht mehr verfahrenshandlungsfähig und damit prozessunfähig sein könnte, weshalb der Prozess auch nicht nach § 241 ZPO i.V.m. § 173 VwGO unterbrochen ist, ganz abgesehen davon, dass nach § 246 ZPO bei anwaltlicher Vertretung eine Unterbrechung nicht allein kraft Gesetzes eintritt. Selbst wenn es richtig sein sollte, dass es bei einer gleichzeitigen Einnahme von Ritalin und dem Konsum von Drogen, namentlich von Cannabis bei den Konsumenten zu Wahnvorstellungen, Halluzinationen und vergleichbaren Bewusstseinsstörungen kommen kann, bestehen - auch nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck - keine Anhaltspunkte dafür, dass solches beim Kläger gegenwärtig der Fall sein könnte. Die diesbezügliche Einschätzung des Prozessbevollmächtigten beruht auf Spekulation. Zwar ist es richtig, dass der Kläger nunmehr wieder mit Ritalin behandelt wird. Nach dem Bericht des Sozialinspektors O. wurde auch bei einer allerdings einzigen, am 09.02.2012 durchgeführten Urinkontrolle der Konsum von Cannabis nachgewiesen. Sämtliche Urinkontrollen danach blieben jedoch wiederum negativ. Der Kläger hat auch gegenüber dem Senat betont, dass ein weiterer Cannabiskonsum nicht stattgefunden und es sich um ein einmaliges Ereignis gehandelt hat. Vor diesem Hintergrund sieht der Senat – auch mit Rücksicht auf die verstrichene Zeit – keinerlei Grundlage für die vom Prozessbevollmächtigen angestellten Vermutungen. Ob die Entscheidung des Klägers in jeder Hinsicht vernünftig ist, ist eine andere Frage. Unvernünftige Entscheidungen begründen jedoch keine Verfahrenshandlungsunfähigkeit.

Der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass die gleichfalls in diesem Zusammenhang im Berufungsverfahren geäußerte Vermutung des Prozessbevollmächtigen, der Kläger könne wegen des Konsums von Drogen und der Einnahme von Ritalin entgegen der Einschätzung des Landgerichts Stuttgart im Urteil vom 05.03.2008 schuldunfähig gewesen sein, keinerlei tatsächliche Grundlage hat. Denn nach den ausdrücklichen Einlassungen des Klägers gegenüber Dr. P. (vgl. dessen Gutachten S. 24 f.) hatte er seit Abschluss des Berufsvorbereitungsjahrs im Sommer 2006 bis zur Tat kein Ritalin mehr eingenommen, sondern nur noch gekifft.

Aber ungeachtet dessen folgt angesichts der erheblichen vom Kläger ausgehenden konkreten Gefahren für Leib oder Leben anderer Mitmenschen auch auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus der Tatsache der Geburt im Bundesgebiet und der fehlenden Sprachkenntnisse keine Unverhältnismäßigkeit (vgl. etwa Urteil vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00 - [Boultif] InfAuslR 2001, 476, vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99 - [Üner] NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - Nr. 1683/04 - [Maslov II] InfAuslR 2008, 333, vom 25.03.2010 - Nr. 40601/05 - [Mutlag] InfAuslR 2010, 325, und vom 13.10.2011 - Nr. 41548/06 - [Trabelsi]). Nach dieser Rechtsprechung ist dabei von einem bestimmten, nicht notwendigerweise abschließenden Kriterien- und Prüfkatalog auszugehen, den so genannten Boultif/Üner-Kriterien. Danach sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen: die Anzahl, Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten; das Alter des Ausländers bei Begehung der Straftaten; der Charakter und die Dauer des Aufenthalts im Land, das der Ausländer verlassen soll; die seit Begehen der Straftaten vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers seit der Tat, insbesondere im Strafvollzug; die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten; die familiäre Situation des Ausländers und gegebenenfalls die Dauer der Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen; der Grund für die Schwierigkeiten, die der Partner in dem Land haben kann, in das gegebenenfalls abgeschoben werden soll; ob der Partner bei Begründung der familiären Beziehung Kenntnis von der Straftat hatte; ob der Verbindung Kinder entstammen, und in diesem Fall deren Alter; das Interesse und das Wohl der Kinder, insbesondere der Umfang der Schwierigkeiten, auf die sie wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ggfs. abgeschoben werden soll; die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland einerseits und zum Herkunftsland andererseits. Die Umstände, dass der Kläger in Deutschland geboren, niemals in der Türkei gelebt hat und die türkische Sprache nicht beherrscht, sind zwar von erheblicher Bedeutung, ein absolutes Ausweisungshindernis begründen sie jedoch nicht. Angesichts der Tatsache, dass der Kläger jedenfalls beruflich bislang in keiner Weise integriert war und vor seiner Inhaftierung wirtschaftlich nicht auf eigenen Füßen stand, führen sie auch nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung, wenn man davon ausgehen kann, dass er in der Lage sein wird, alltagstaugliche Sprachkenntnisse zu erwerben.

2. Die Ausweisung erweist sich auch mit Blick auf die Vorgaben der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG vom 16.12.2008 - RFRL) nicht deshalb als rechtswidrig, insbesondere als unverhältnismäßig, weil ihre Wirkungen nicht befristet wurden.

Allerdings steht einer Prüfung der Ausweisung am Maßstab der Richtlinie nicht entgegen, dass diese zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der hier im Streit befindlichen Ausweisung vom 25.05.2009 noch nicht umzusetzen war (vgl. Art. 20 Abs. 1 RFRL). Denn maßgeblich ist insoweit grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45-06 - BVerwGE 130, 20), soweit sich aus dem materiellen Recht nichts anderen ergibt. Eine gegenteilige Annahme wird auch nicht durch die vom EuGH in der Rechtssache Polat (Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06) entwickelten Grundsätze nahegelegt.

Mit Blick auf den Regelungsgehalt der Rückführungsrichtlinie zeichnen sich Übergangsfälle der vorliegenden Art dadurch aus, dass der zu beurteilende Sachverhalt zwar vor Ablauf der Umsetzungsfrist gewissermaßen eröffnet wurde, als am 25.05.2009 die Ausweisung verbunden mit einer Abschiebungsandrohung erlassen wurde. Dieser Sachverhalt ist aber bis zum heutigen Zeitpunkt nicht abgeschlossen. Denn das einen zentralen Bestandteil der Rückführungsrichtlinie bildende Verfahren der Aufenthaltsbeendigung im eigentlichen Sinn, nämlich - die auf welche Art auch immer - durchzuführende Aufenthaltsbeendigung, hat noch gar nicht stattgefunden. Im Regelfall geht das Einreiseverbot nach Art. 11 RFRL erst mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung „einher“ (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA lit. a) RFRL; vgl. zu Besonderheiten des vorliegenden Falles noch im Folgenden).

In einer derartigen regelhaften Fallkonstellation eines noch nicht abgeschlossenen Sachverhalts hat der Europäische Gerichtshof im Sinne einer möglichst baldigen und effektiven Anwendung der Grundprinzipien der Richtlinie ohne weiteres deren Anwendbarkeit bejaht. So hat er im Urteil vom 30.11.2009 (C-357/09 PPU Rdn. 37 ff.) in der Rechtssache Kadzoev angenommen, dass die in Art. 15 Abs. 5 und 6 RFRL vorgegebenen maximalen Haftzeiten auch für solche Inhaftierungen gelten, die vor der Umsetzung bzw. vor Ablauf der Umsetzungsfrist begonnen hatten. Im Urteil vom 28.04.2011 (C-61/11 PPU) in der Rechtssache El Dridi, der nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs eine Rückführungsentscheidung vom 08.05.2004 zugrunde lag, ging er wiederum für alle weiteren nach der Umsetzung bzw. nach Ablauf der Umsetzungsfrist vorzunehmenden Verfahrensschritte ebenfalls von der Anwendbarkeit der Richtlinie aus. Zwar hat der Europäische Gerichtshof in beiden Entscheidungen jeweils den Umstand besonders hervorgehoben, dass es dort um Freiheitsentziehungen ging, die die einschneidensten Maßnahmen im Rahmen der Anwendung der Richtlinie darstellen. Es handelt sich aber hierbei nicht um strukturelle Besonderheiten, die im Übrigen keine Geltung beanspruchen können.

Wäre hiernach die Rückführungsrichtlinie grundsätzlich anzuwenden, so ist allerdings der vorliegende Fall durch die Besonderheiten gekennzeichnet, dass nach Auffassung des Senats eine Ausweisungsverfügung gar keine Rückkehrentscheidung ist und über eine Befristung erst (aber dann spätestens) von Amts wegen im Kontext der eigentlichen Aufenthaltsbeendigung zu befinden ist. Wollte man dies anders sehen, so hätte die Bundesrepublik nach Auffassung des Senats von der eingeräumten Opt-Out-Möglichkeit (vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. b RFRL) in zulässiger Weise Gebrauch gemacht (vgl. zu alledem ausführlich Senatsurteile vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris und 07.12.2011 - 11 S 897/11 - juris).

Nur wenn man die hier nicht geteilte Auffassung verträte, dass bereits in der Rückkehrentscheidung selbst eine Entscheidung über die Befristung des Einreiseverbots zu treffen wäre, würde sich in aller Deutlichkeit die dann entscheidungserhebliche Frage stellen, ob hier gewissermaßen nachträglich nach den Grundsätzen der Rechtssache Polat, diese Rechtslage auch heute noch als Maßstab für die gerichtliche Beurteilung heranzuziehen wäre. Nach Auffassung des Senats wäre dieses jedoch nach dem grundsätzlichen Ausgangspunkt des Europäischen Gerichthofs in den Rechtssachen Kadzoev und El Dridi zu bejahen, da die Wirkung des Einreiseverbots aus der Natur der Sache erst Wirkung entfalten kann, wenn die Aufenthaltsbeendigung abgeschlossen wurde. Auch hier legt die Rechtsprechung des Gerichtshofs, die auf eine effektive, möglichst frühzeitige Geltung der maßgeblichen Grundsätze der Rückführungsrichtlinie ausgerichtet ist, wozu gerade auch die Einräumung einer Rückkehrperspektive für die Betroffenen gehört, eine Berücksichtigung auch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nahe. Diese Sichtweise des Europäischen Gerichtshofs liegt nach Überzeugung des Senats nicht zuletzt auch darin begründet, dass – anders als in der Rechtssache Polat, in der bereits gemeinschaftsrechtliche Regelungen vorhanden waren, die nur durch die Unionsbürgerrichtlinie (RL 2004/38/EG) abgelöst worden waren – hier der Komplex der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger bislang gemeinschaftsrechtlich überhaupt nicht geregelt war.

3. Die Ausweisung erweist sich auch nicht deshalb als rechtswidrig, weil der angegriffene Bescheid nicht in einem weiteren Verwaltungsverfahren überprüft worden war. Denn nach der Rechtsprechung des Senats ist das sog. „Vier-Augen-Prinzip“ des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG nicht mehr anzuwenden (vgl. zu alledem ausführlich Senatsurteil vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris)

II.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Revision wird zugelassen, weil die aufgeworfenen Fragen der Anwendung und Auslegung der Rückführungsrichtlinie Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

Beschluss vom 10. Februar 2012

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).