VG Ansbach, Beschluss vom 24.08.2012 - AN 11 E 12.30315
Fundstelle
openJur 2012, 128520
  • Rkr:
Tenor

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragsteller vorläufig bis zur Rechtskraft einer entsprechenden Hauptsacheentscheidung nicht nach ... zu überstellen und die zuständige Ausländerbehörde von diesem Beschluss in Kenntnis zu setzen.

2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

3. Der Gegenstandswert beträgt 750 EUR.

Gründe

I.

Der Antragsteller, ein nach eigenen Angaben am ... geborener afghanischer Staatsangehöriger begehrt vorläufigen Rechtsschutz in Zusammenhang mit einer bevorstehenden Überstellung nach ...

Er reiste nach eigenen Angaben am ... illegal auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein und stellte hier Asylantrag. Zur Person war er nicht ausgewiesen. Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) am ... in der JVA ... gab er u.a. an, über ..., ..., ..., ... und ... nach ... gereist zu sein. Dort habe er sich sieben Monate aufgehalten. Sechs Monate davon sei er im Gefängnis gewesen. Schließlich sei er über ... nach Deutschland gefahren.

Mit Mail vom ... wurde ein Übernahmeersuchen des BAMF an ... von der dortigen Stelle beantwortet. Der Wiederaufnahme des Antragstellers wurde zugestimmt.

Mit Telefax seines Bevollmächtigten vom 23. August 2012 ließ der Antragsteller Eilantrag nach § 123 VwGO stellen und beantragen,

der Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig zu untersagen, den Antragsteller nach ... zu überstellen.

Weiter wurde Prozesskostenhilfe beantragt.

Nach dem Vortrag des Antragstellers sei zwingend davon auszugehen, dass ihm nach Lage der Akten in ... erneut eine lange Haft drohe wegen seines Asylantrags bzw. wegen seiner Einreise. So habe er bei seiner Anhörung am 31. Juli 2012 überzeugend angegeben, in ... bereits sechs Monate in Haft verbracht zu haben. Ihm sei in ... kein konventionsgerechtes Verfahren gewährt worden und dies werde auch in Zukunft nicht der Fall sein. Dieser Umstand sei auch Gegenstand der Eilverfahren AN 11 E 11.30254 und 30214 gewesen. Nach neueren Angaben des ... (vgl. Asylmagazin 1-2/2012) stelle ... derzeit für Dublin-Rückkehrer keine angemessenen Aufnahmebedingungen bereit und garantiere keinen effektiven Schutz. Nach weiteren Quellen drohten dem Antragsteller weitere 12 Monate Haft als Strafe für seine asylbedingte Einreise. Die Rücküberstellung sei für den 27. August 2012, nach Angaben des BAMF für den 30. August 2012 vorgesehen.

Mit Telefax vom 24. August 2012 wurde das BAMF mit Fristsetzung zur Abgabe einer vorläufigen Nichtvollzugserklärung aufgefordert und es wurde auf die weitere einschlägige hiesige Rechtsprechung im Beschluss vom 26.9.2011 und auf die Berufungszulassung des BayVGH vom 8.6. 2012 betreffend das hiesige Urteil vom 13.10.2011 ausdrücklich hingewiesen.

Mit Telefax vom 24. August 2012 teilte das BAMF mit, dass die zuständige Ausländerbehörde verständigt worden sei. Telefonisch teilte das BAMF mit, Überstellungstermin sei der 30. August 2012.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte verwiesen.

II.

Der hier gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Begehren, die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihr vorläufig (bis zur Rechtskraft einer Hauptsacheentscheidung) zu untersagen, den Antragsteller nach ... zu überstellen, ist mit der tenorierten Maßgabe zulässig und begründet, da insoweit sowohl ein Anordnungsgrund als auch ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht wurden.

Nach § 123 Absatz 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag (auch schon vor Klageerhebung) eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Dabei ist stets zwischen dem Anordnungsgrund, der insbesondere die Eilbedürftigkeit der vorläufigen Regelung begründet, und dem Anordnungsanspruch, der mit dem materiellen Anspruch identisch ist, zu unterscheiden (Kopp/Schenke § 123 VwGO RdNr. 6). Das Vorliegen beider ist glaubhaft zu machen, §§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2, 294 ZPO. In diesem Zusammenhang hat das Gericht eine Abwägung der für und gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gesichtspunkte zu treffen und dabei auch die Aussichten in einem anhängigen oder zu erwartenden Hauptsacheverfahren zu berücksichtigen (Kopp/Schenke § 123 VwGO RdNrn. 23 ff.).

Der mit Telefax seines Bevollmächtigten vom 23. August 2012 gestellte Antrag des Antragstellers, der Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig zu untersagen, den Antragsteller nach ... zu überstellen, kann dahingehend ausgelegt werden, dass letztlich begehrt wird, ein Asylverfahren in Deutschland durchführen zu können. Bei dieser Auslegung stellt sich das Konkurrenzverhältnis zum grundsätzlich vorrangigen Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO, (vgl. § 123 Abs. 5 VwGO), insbesondere nach einer Bekanntgabe einer bereits erlassenen Abschiebungsanordnung nach § 34 a AsylVfG nämlich nicht (so VG Aachen vom 28.10.2010 und VG Hamburg vom 11.4.2011, zitiert nach juris). Im Übrigen ist soweit ersichtlich eine Abschiebungsanordnung nach ... wohl noch gar nicht erlassen worden, aber ausweislich der Rechtslage nach § 31 Abs. 1 Sätze 4 bis 6 AsylVfG ist beachtlich wahrscheinlich damit zu rechnen.

Es wurde auch ein Anordnungsgrund vom Antragsteller glaubhaft gemacht. Nach Aktenlage wurde das Überstellungsverfahren eingeleitet. Die zuständige ungarische Stelle hat der (Wieder-) Aufnahme des Antragstellers auch zugestimmt. Nach den vorgetragenen Angaben ist die Überstellung nach ... am 27. August 2012 vorgesehen. Nach telefonischer Mitteilung des BAMF soll die Überstellung am 30. August 2012 erfolgen. Daher ist hinreichend wahrscheinlich davon auszugehen, dass der Asylantrag des Antragstellers jedenfalls demnächst als unzulässig erklärt und die Abschiebung nach ... angeordnet werden und diese Entscheidung nach Maßgabe der genannten Vorschriften des AsylVfG zugestellt werden wird.

Schließlich ist auch ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht worden. Der gestellte Eilantrag erscheint bei der hier gebotenen Prüfung auch nicht nach § 34 a Abs. 2 AsylVfG ausgeschlossen. Zwar darf danach die Abschiebung nach Abs. 1 nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden. Nach der hier zu beachtenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (insbesondere vom 8. und 23.9.2009, vom 22.12.2009 und vom 25.1.2011, EGMR vom 21.1.2011 unter Aufgabe der Entscheidung vom 2.12.2008, und zuletzt des EuGH vom 21.12.2011, zitiert nach juris) gilt dieser Ausschluss des Eilrechtsschutzes zwar nur in den Grenzen des Konzepts der sog. normativen Vergewisserung (BVerfG vom 14.5.1996, zitiert nach juris). Zum Einen wurde aber schon vom Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang als offen und Anlass zu einer entsprechend eingehenden Untersuchung gebend angesehen, wenn vorgetragen wird, dass das Asylsystem eines Mitgliedsstaates - insbesondere, aber nicht nur aus Gründen der Überforderung - defizitär ist, insbesondere die dortigen Aufnahme- und Unterbringungsbedingungen europäischen Mindeststandards nicht genügen. Zum Anderen ist maßgebliches Unionsrecht zu beachten. Unionsrecht steht nämlich der Geltung einer entsprechenden unwiderlegbaren Vermutung entgegen. Asylbewerber dürfen nicht an einen nach der Dublin-II-Verordnung an sich zuständigen Mitgliedsstaat überstellt werden, wenn nicht unbekannt sein kann, dass systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedsstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass dieser tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden (EuGH aaO). Einen solchen Fall hat der Antragsteller aber hier vortragen lassen. Dabei beruft er sich zwar nicht darauf, selbst keinen Zugang zum Asylsystem in ... gehabt zu haben. Er trägt vielmehr selbst vor, einen Asylantrag in ... gestellt zu haben, der bearbeitet und dann abschlägig beschieden worden sei. Er trägt aber weiter vor, er sei aus unionsrechtlicher Sicht unzulässig - zumal sechs Monate lang - allein wegen seines Asylantrags in Haft gewesen und müsse dies bei einer Überstellung erneut befürchten. Aus den vom Antragsteller in diesem Zusammenhang in Bezug genommenen Berichten und Unterlagen in den Verfahren AN 11 E 11.30214 und 30254 sowie in Asylmagazin 1-2/2012 ergibt sich, dass die Unterbringungsmöglichkeiten insbesondere bei Minderjährigen in ... europäischen Standards nicht entsprechen könnten, weil regelmäßige Misshandlungen in der Haft vorkämen, und renitente Flüchtlinge durch Medikamente ruhig gestellt würden. Diese Situationsschilderung wird auch nicht durch den vom Gericht herangezogenen Bericht des UNHCR von November 2010 über die Asylpraxis in ... in eindeutiger Weise entkräftet oder gar widerlegt. Vielmehr hat gerade der UNHCR dort zahlreiche Verbesserungsvorschläge angebracht und auch angemahnt. Auch das BAMF hat in diesem Kontext nichts Substantiiertes entgegengesetzt. Vielmehr deuten auch neuerliche Angaben des ...-Komitees, wie vom Antragsteller vorgetragen, eher auf eine Beibehaltung dieses Zustands als auf eine Verbesserung hin (vgl. auch die entsprechenden Ausführungen im Urteil vom 13.10. 2011, gegen das der BayVGH mit Beschluss vom 8.6.2012 wegen grundsätzlicher Bedeutung die Berufung zugelassen hat, ferner EGMR vom 20.9.2011 und UNHCR von April 2012). Nach alledem liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass in ... die vom EuGH so bezeichneten systemischen Mängel im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen vorliegen können. Ob dies tatsächlich und rechtlich so ist, muss der Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, falls nicht die EU-Kommission oder die Bundesrepublik Deutschland in Vollzug der Dublin-II-Verordnung eingreift.

Wenn demnach der einfachgesetzliche Ausschluss des Eilrechtsschutzes hier nicht greift, führt dies dazu, dass die letztlich zu erwartende Unzulässigerklärung des Asylantrags des Antragstellers nach § 27 a AsylVfG und die Abschiebungsanordnung nach ... nach § 34 a Abs. 1 AsylVfG sich als offensichtlich rechtswidrig erweisen würden. Dies gilt unabhängig davon, ob dann der Selbsteintritt nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung zu erfolgen hätte oder die Zuständigkeitsprüfung nach denn weiteren Kriterien der Dublin-II-Verordnung fortzusetzen wäre (EuGH aaO).

Da die Frage, ob höherrangiges Recht eine Überstellung nach ... zulässt oder ausschließt, im Anschluss an die vorgenannte Rechtslage als offen zu beurteilen ist, kommt es entscheidend auf eine Abwägung der widerstreitenden Interessen an. Angesichts der in Bezug genommenen Berichte über die entsprechende Asylsituation in ... ist daher mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers Vorrang vor dem Vollzugsinteresse der Behörde einzuräumen. Dies gilt insbesondere deshalb, weil bei einer Überstellung des Antragstellers nicht sichergestellt zu sein scheint, dass er Haft bzw. Haftbedingungen ausgesetzt wäre, die mit seinem Status als Asylbewerber unionsrechtlich unvereinbar wären.

Nach alledem ist dem Eilantrag stattzugeben. Die Unterrichtungspflicht der Ausländerbehörde von diesem Beschluss beruht auf § 40 Satz 2 AsylVfG entsprechend. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Satz 1 2. HS RVG, Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylVfG.