Bayerischer VGH, Beschluss vom 02.07.2012 - 11 CS 12.1405
Fundstelle
openJur 2012, 123582
  • Rkr:
Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

III. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 8.750,-- € festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller ist im Straßenverkehr wie folgt in Erscheinung getreten:

Datum der ZuwiderhandlungArt der ZuwiderhandlungDatum des BußgeldbescheidsRechtskraft des BußgeldbescheidsPunktezahlTilgungs- zeitpunkt25.11.2006Geschwindigkeits- überschreitung10.01.200727.01.2007327.01.201229.03.2007Geschwindigkeits- überschreitung14.05.200731.05.2007331.05.201220.10.2007Geschwindigkeits- überschreitung30.11.200706.03.2008312.01.2008unterlassene Vorführung eines Fahrzeugs zur Hauptuntersuchung18.02.200806.03.2008219.10.2008Geschwindigkeits- überschreitung22.12.200829.06.2009314.02.2010unterlassene Vorführung eines Fahrzeugs zur Hauptuntersuchung29.03.201015.04.2010207.05.2011Missachtung des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage29.11.201113.12.20113Mit Schreiben vom 14. April 2008 verwarnte das Landratsamt Regen den Antragsteller gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG und wies ihn auf die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einem Aufbauseminar hin.

Durch Bescheid vom 30. Juli 2009 verpflichtete ihn das Landratsamt zur Teilnahme an einem Aufbauseminar und zur Vorlage einer Bescheinigung hierüber bis zum 30. Oktober 2009. Das Aufbauseminar besuchte der Antragsteller erst in der Zeit vom 6. bis zum 20. März 2010; die Teilnahmebescheinigung ging der Behörde am 22. März 2010 zu.

Durch Bescheid vom 16. April 2012 entzog das Landratsamt dem Antragsteller die Fahrerlaubnis und gab ihm auf, seinen Führerschein der Klassen A1, B, BE, C1, C1E, M, L, S und T spätestens fünf Tage nach der Zustellung des Bescheids abzugeben. Die letztgenannte Anordnung wurde für sofort vollziehbar erklärt. Für den Fall der Missachtung der Ablieferungspflicht wurde dem Antragsteller ein Zwangsgeld angedroht. Zur Begründung der Entziehungsentscheidung verwies die Behörde darauf, dass zu Lasten des Antragstellers 19 Punkte im Verkehrszentralregister angefallen seien.

Die am 10. Mai 2012 gegen diesen Bescheid erhobene Anfechtungsklage wies das Verwaltungsgericht Regensburg durch Gerichtsbescheid vom 30. Mai 2012 als unbegründet ab. Da im Rahmen des § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG das Tattagprinzip gelte, erreiche eine Person eine bestimmte Zahl an Punkten in dem Zeitpunkt, in dem die maßgebliche Zuwiderhandlung begangen worden sei. 18 Punkte habe der Antragsteller deshalb am 7. Mai 2011 erreicht. Dass sein Punktestand am 27. Januar 2012 unter diesen Wert gesunken sei, sei belanglos, da die unwiderlegbare "Fiktion" der Ungeeignetheit bereits eingetreten sei. Bei der Beurteilung einer Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG komme es auf die tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten in dem Zeitpunkt an, in dem der Inhaber einer Fahrerlaubnis die 18-Punkte-Grenze erreicht habe, nicht aber auf den Punktestand bei Erlass der Entziehungsverfügung.

Den ebenfalls am 10. Mai 2012 gestellten Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 16. April 2012 wiederherzustellen, lehnte das Verwaltungsgericht durch Beschluss vom 24. Mai 2012 im Wesentlichen aufgrund der gleichen Erwägungen ab, auf denen der Gerichtsbescheid vom 30. Mai 2012 beruht.

Mit der gegen den Beschluss vom 24. Mai 2012 eingelegten Beschwerde wendet sich der Antragsteller gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts, bei der Beurteilung einer Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG komme es auf die tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten in dem Zeitpunkt an, in dem der Inhaber einer Fahrerlaubnis die 18-Punkte-Grenze erreicht habe, so dass spätere Verringerungen des Punktestandes außer Betracht zu bleiben hätten. Diese Wertung finde im Wortlaut der Norm keine Stütze. Außerdem würden hierdurch die Vorschriften über die Punktetilgung unterlaufen. Maßgeblich sei vielmehr die bei Erlass des Ausgangsbescheids bestehende Situation, so dass eine bis dahin eingetretene Tilgung berücksichtigt werden müsse. Der Schutz der Sicherheit des Straßenverkehrs dürfe nicht dazu führen, dass sich Unklarheiten, die sich aus einer nicht eindeutigen Wortwahl des Gesetzgebers ergäben, zu Lasten betroffener Fahrerlaubnisinhaber auswirkten.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, bleibt jedoch in der Sache ohne Erfolg.

Der Zulässigkeit dieses Rechtsmittels steht es nicht entgegen, dass der Antragsteller entgegen § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO keinen ausdrücklichen Antrag gestellt hat. Denn er verfolgt mit diesem Rechtsmittel ersichtlich das im ersten Rechtszug anhängig gemachten Begehren nach § 80 Abs. 5 VwGO weiter, das darauf abzielt, das Gericht solle die aufschiebende Wirkung der Klage, soweit der Ausgangsbescheid kraft Gesetzes sofort vollziehbare Regelungen enthält, anordnen und sie im Übrigen wiederherstellen. Steht aber das Rechtsschutzziel des Beschwerdeführers zweifelsfrei fest, bleibt das Fehlen eines ausdrücklichen Beschwerdeantrags auch in den von § 146 Abs. 4 VwGO erfassten Verfahren folgenlos (vgl. z.B. VGH BW vom 1.7.2002 NVwZ 2002, 1388; BayVGH vom 26.4.2012 Az. 11 CS 12.650 <juris> RdNr. 12).

Die Beschwerde, bei deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO auf das Vorbringen in der Beschwerdebegründung beschränkt ist, erweist sich jedoch als nicht begründet.

Der Antragsteller macht ausschließlich geltend, das Verwaltungsgericht sehe zu Unrecht den Tag der Begehung derjenigen Zuwiderhandlung, die zum Anfall des 18. Punkts im Verkehrszentralregister geführt hat, als den für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt an. Die beiden Argumente, mit denen der Antragsteller diesem Rechtsstandpunkt entgegentritt, rechtfertigen keine Aufhebung oder Abänderung der angefochtenen Entscheidung.

Es trifft allerdings zu, dass das geschriebene Recht nicht ausdrücklich festlegt, auf welchen Zeitpunkt die Fahrerlaubnisbehörden und die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit abzustellen haben, wenn sie darüber befinden müssen, ob sich zu Lasten einer bestimmten Person 18 oder mehr Punkte im Sinn von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG "ergeben" haben. In dem am 25. September 2008 im Verfahren 3 C 21.07 ergangenen Urteil (BVerwGE 132, 57/59, RdNr. 11) hat auch das Bundesverwaltungsgericht angemerkt, dass der in § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG verwendete Sprachgebrauch keinen Aufschluss darüber gibt, wie der maßgebliche Punktestand zu ermitteln ist, ob hierbei insbesondere nachträgliche Tilgungen berücksichtigt werden müssen.

Das stellt jedoch keine Besonderheit des Punktsystems dar. Vielmehr verzichtet der Gesetzgeber in der großen Mehrzahl der Fälle auf ausdrückliche Aussagen darüber, auf die in welchem Zeitpunkt bestehende Sach- und Rechtslage die Behörden und Gerichte bei ihren Entscheidungen abzustellen haben. Es entspricht jedoch gefestigter Rechtsprechung, dass die zutreffende Antwort auf diese Frage anhand einer Auslegung des einschlägigen materiellen Rechts gewonnen werden muss (vgl. z.B. BVerwG vom 25.11.1981 BVerwGE 64, 218/222; vom 3.11.1986 BVerwGE 78, 243/244 f.). Nur wenn sich den einschlägigen Vorschriften keine diesbezüglichen Aussagen entnehmen lassen, ist bei belastenden, mit der Anfechtungsklage anzugreifenden Verwaltungsakten die beim Ergehen der letzten Behördenentscheidung bestehende tatsächliche und rechtliche Situation maßgeblich (vgl. z.B. BVerwG vom 28.7.1989 BVerwGE 82, 260/261).

Das Bundesverwaltungsgericht gelangte in dem im Verfahren 3 C 21.07 am 25. September 2008 ergangenen Urteil (a.a.O.) auf der Grundlage einer teleologischen, systematischen und historischen Gesetzesauslegung zu dem Ergebnis, dass eine Fahrerlaubnis immer dann zu entziehen ist, wenn ihr Inhaber im Verkehrszentralregister 18 Punkte erreicht hat, ohne dass es auf eine spätere Tilgung von Punkten - mag sie vor, mag sie nach dem Erlass der Entziehungsentscheidung stattfinden - ankommt. Sind aber alle Entwicklungen, die nach dem Tag eintreten, an dem sich zu Lasten des Betroffenen 18 Punkte ergeben haben, ohne Belang, so folgt daraus, dass es bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer auf § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützten Entziehungsentscheidung auf die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse in dem Zeitpunkt ankommt, in dem der Adressat einer solchen Maßnahme die 18-Punkte-Grenze erreicht hat. Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem in der Sache 3 C 21.07 am 25. September 2008 erlassenen Urteil (a.a.O., S. 63, RdNr. 22) hierzu ausgeführt:

"Die materielle Prüfung beschränkt sich lediglich auf die Frage, ob der Betroffene 18 Punkte erreicht hat; wie sich der Punktestand im Weiteren entwickelt hat, ist demgegenüber unerheblich. Gleichgültig ist daher auch, wann die Behörde diesen Umstand prüft. Ausgangs- und Widerspruchsbehörde haben gleichermaßen zu ermitteln, ob die 18-Punkte-Grenze überschritten war. Sachliche Veränderungen zwischen Ausgangs- und Widerspruchsbescheid hat die Widerspruchsbehörde nur zu berücksichtigen, wenn das materielle Recht dies gebietet. Die nachträgliche Tilgung von Punkten ändert aber nichts daran, dass die 18-Punkte-Grenze überschritten war, und ist deshalb nicht nur für die Widerspruchsbehörde, sondern auch - anders als das Verwaltungsgericht meint - für die Ausgangsbehörde rechtlich unerheblich."

Haben aber nicht nur Veränderungen des Punktestandes, zu denen es zwischen dem Erlass des Ausgangs- und dem Ergehen eines Widerspruchsbescheids gekommen ist, sondern auch solche Punktetilgungen außer Betracht zu bleiben, die nach dem Erreichen der 18-Punkte-Grenze, aber vor einer auf § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützten Entziehung der Fahrerlaubnis eingetreten sind, so kann das nur bedeuten, dass maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt in derartigen Fällen der Tag jener Zuwiderhandlung sein muss, die zum Anfall des 18. Punkts im Verkehrszentralregister geführt hat (vgl. z.B. BayVGH vom 19.12.2011 Az. 11 B 11.1848 <juris> RdNr. 32).

In der Festlegung des entscheidungserheblichen Beurteilungszeitpunkts auf diesen Tag (und der damit einhergehenden Unbeachtlichkeit späterer Tilgungen von Eintragungen im Verkehrszentralregister) liegt entgegen dem Beschwerdevorbringen auch keine Missachtung des sich aus § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG ergebenden Verwertungsverbots. Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem im Verfahren 3 C 21.07 am 25. September 2008 erlassenen Urteil (a.a.O., S. 63, RdNr. 21) insoweit angemerkt:

"Auch die Vorschrift des § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG zwingt nicht dazu, nachträgliche Punktetilgungen zu berücksichtigen. Nach dieser Regelung dürfen, wenn eine Eintragung über eine gerichtliche Entscheidung im Verkehrszentralregister getilgt ist, die Tat und die Entscheidung dem Betroffenen für die Zwecke des § 28 Abs. 2 StVG nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwertet werden. Dieses Verwertungsverbot greift in Ansehung der Fahrerlaubnisentziehung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 [richtig offensichtlich: Nr. 3] StVG nur, bevor 18 Punkte erreicht sind."

Stellt das Bundesverwaltungsgericht aber auch bei der Beantwortung der Frage, ob eine Zuwiderhandlung nach § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG noch zu Lasten des Betroffenen berücksichtigt werden darf, darauf ab, ob die diesbezügliche Eintragung im Verkehrszentralregister bis zur Begehung der Tat tilgungsreif geworden ist, die zum Erreichen der 18-Punkte-Grenze geführt hat, so bestätigt das die Richtigkeit des Rechtsstandpunkts, dass die Begehung dieser Tat den im Rahmen des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt darstellt.

Sollte im Hinblick darauf, dass das Bundesverwaltungsgericht sich bisher nur in der dargestellten indirekten - wenngleich deutlichen - Weise zur Problematik des maßgeblichen Beurteilungszeitpunkts bei Entscheidungen nach § 4 StVG geäußert hat, ohne diese Rechtsfigur hierbei ausdrücklich zu erwähnen, noch von einem Rest an Ungewissheit hinsichtlich der zutreffenden Beantwortung dieser Frage auszugehen sein, so würde es jedenfalls eine von den Erfolgsaussichten in der Hauptsache unabhängige Interessenabwägung gebieten, an der sofortigen Vollziehbarkeit des Entzugs der Fahrerlaubnis und der Pflicht zur Ablieferung des Führerscheins festzuhalten. Beim Antragsteller handelt es sich, wie die Auflistung seiner Zuwiderhandlungen in Teil I dieses Beschlusses zeigt, um einen Kraftfahrer, der notorisch nicht bereit ist, straßenverkehrsbezogene Verhaltensvorschriften zu befolgen. Die Verwarnung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG und die Teilnahme an einem Aufbauseminar waren nicht geeignet, seine Fehleinstellung gegenüber den Anforderungen der Rechtsordnung zu beseitigen. Die von ihm am 25. November 2006, am 29. März 2007, am 20. Oktober 2007, am 19. Oktober 2008 und am 7. Mai 2011 begangenen Ordnungswidrigkeiten weisen ihrer Art nach zudem einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Sicherheit des Straßenverkehrs auf. Es steht in Einklang mit der in § 4 Abs. 10 StVG zum Ausdruck gelangenden Wertung, wenn dem Antragsteller die motorisierte Teilnahme am Straßenverkehr frühestens nach einer sechsmonatigen Phase der Besinnung und nach der Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gestattet wird, aus dem sich ergibt, dass er Kraftfahrzeuge künftig nur unter Beachtung der Gebote der Rechtsordnung im Straßenverkehr führen wird.

Die Kostentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. § 52 Abs. 1 und 2 GKG und den Empfehlungen in den Abschnitten II.1.5 Satz 1, II.46.2, II.46.3, II.46.5, II.46.8 und II.46.11 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ 2004, 1327).

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