Bayerischer VGH, Beschluss vom 10.11.2011 - 22 CS 11.1928
Fundstelle
openJur 2012, 118922
  • Rkr:
Tenor

I. Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 19. Juli 2011 wird in den Ziffern I und II abgeändert.

II. Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage des Antragstellers gegen die Nrn. 1., 2. und 4. des Bescheids der Antragsgegnerin vom 4. Mai 2011 wird wiederhergestellt bzw. angeordnet.

III. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

IV. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Den vom Antragsteller angefochtenen Regelungen liegt ein rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts S… vom 23. November 2010 zugrunde. Der Antragsteller wird darin wegen Untreue in 61 sachlich zusammenhängenden Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Die Vollstreckung der Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt.

Das Amtsgericht stellt in diesem Urteil Folgendes fest: Der bis dahin nicht vorbestrafte Antragsteller war als angestellter Versicherungsagent von seiner Arbeitgeberin bevollmächtigt, Schäden in verschiedenen Versicherungszweigen zu regulieren. Vom Jahr 2006 bis zum Jahr 2008 veranlasste der Antragsteller in 61 Fällen Zahlungen seiner Arbeitgeberin für Versicherungsfälle, obwohl die Voraussetzungen dafür, wie er wusste, tatsächlich nicht vorlagen, weil die Schäden entweder gar nicht eingetreten waren oder nicht mehr unter das versicherte Risiko fielen. Der Antragsteller verursachte seiner Arbeitgeberin auf diese Weise einen Gesamtschaden in Höhe von 38.555 Euro. Die vom Antragsteller vorgenommenen rechtsgrundlosen Auszahlungen an die Versicherungsnehmer dienten der Pflege der Kundenkontakte und der Steigerung der Zufriedenheit der Versicherungsnehmer mit dem Zweck der Kundenbindung. Der Antragsteller wollte sich so weitere Versicherungsvertragsabschlüsse sichern und durch Mundpropaganda neue Kunden aquirieren, was zu weiteren Provisionszahlungen seiner Arbeitgeberin an ihn führte.

Das Amtsgericht berücksichtigt, dass der Antragsteller geständig war und den angerichteten Schaden unter vollständigem Verzicht auf einen Rückgriff auf die bereicherten Versicherungsnehmer in voller Höhe wiedergutgemacht hat, wobei er sämtliche eigenen wirtschaftlichen Werte hat veräußern müssen. Das Amtsgericht berücksichtigt weiter, dass der Antragsteller sich nur in minimaler Weise selbst bereichert hat und unter erheblichem Erwartungsdruck der Kunden gestanden ist, die eine Regulierung erwartet haben. Der Antragsteller war nach Einschätzung des Amtsgerichts erheblich beeindruckt durch die Folgen der Tat.

Die Antragsgegnerin verfügte daraufhin mit Bescheid vom 4. Mai 2011 unter Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit den Widerruf der dem Antragsteller unter dem 24. März 2010 erteilten Versicherungsmaklererlaubnis und die Verpflichtung zur Rückgabe der entsprechenden Erlaubnisurkunde. Zusätzlich erfolgte die Androhung eines Zwangsgelds für den Fall der Nichterfüllung der Rückgabeverpflichtung binnen zwei Wochen nach Unanfechtbarkeit des Bescheids.

Der Antragsteller erhob beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg Anfechtungsklage und stellte hinsichtlich der sofortigen Vollziehbarkeit Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag ab (Beschluss vom 19.7.2011).

Der Antragsteller hat Beschwerde eingelegt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde ist begründet. Unter Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses ist die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage des Antragstellers antragsgemäß wiederherzustellen bzw. anzuordnen.

Das Verwaltungsgericht hat zwar zu Recht darauf hingewiesen, dass die Erfolgsaussichten der vom Antragsteller erhobenen Anfechtungsklage ungünstig sein dürften. Dies reicht als Begründung für eine Antragsablehnung im vorliegenden Fall aber nicht aus. Im vorliegenden Fall setzt die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip die zusätzliche Feststellung aufgrund einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls voraus, dass sie schon vor der Rechtskraft des Hauptsacheverfahrens als Präventivmaßnahme zur Abwehr konkreter Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter erforderlich ist (BVerfG vom 13.8.2003 NJW 2003, 3617 und vom 24.10.2003 NJW 2003, 3618). Diese strengen Anforderungen sind zu stellen, weil nach den von keiner Seite in Zweifel gezogenen Feststellungen im angefochtenen Bescheid (S. 11) und im angefochtenen Beschluss (S. 16) dem Antragsteller durch die angefochtenen Regelungen die weitere Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit entzogen wird bzw. die angefochtenen Regelungen zu einem Verbot der Berufsausübung führen. Die Antragsgegnerin hat zudem in der Beschwerdeerwiderung darauf hingewiesen, dass dem Antragsteller auch seine finanzielle Lebensgrundlage entzogen werde (S. 4).

Die hier zu stellenden strengen Anforderungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Die Antragsgegnerin auf Seite 13 des angefochtenen Bescheids und das Verwaltungsgericht auf Seite 16 des angefochtenen Beschlusses gehen zwar auf die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Anforderungen ein; es ergibt sich hieraus aber nicht nachvollziehbar, dass bereits bis zum Eintritt der Rechtskraft des Hauptsacheverfahrens Präventivmaßnahmen unaufschiebbar sind, um konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter abzuwehren. Die Antragsgegnerin hat zum einen ausgeführt, dass dieser Übergangszeitraum im Falle eines Verwaltungsgerichtsverfahrens sehr lange sein könne. Für eine derartige Annahme besteht bei gewerberechtlichen Maßnahmen der vorliegenden Art kein Anlass. Die Antragsgegnerin hat zudem auf die Vielzahl und Schwere der über zwei Jahre hinweg in Tatmehrheit begangenen Delikte hingewiesen. Dies genügt jedoch nicht. Auch in diesem Zusammenhang hätte herausgearbeitet werden müssen, in welcher Weise tatsächlich bis zu einer rechtskräftigen Hauptsacheentscheidung eine konkrete Gefahr für wichtige Gemeinschaftsgüter drohen soll. Gerade in diesem Zusammenhang hätte auch gewürdigt werden müssen, dass sich der Antragsteller vor 2006 beanstandungsfrei verhalten hat, dass es seit 2008 zu keinem weiteren Delikt mehr gekommen ist, dass die Verfehlungen überwiegend nicht zur eigenen Bereicherung, sondern zum Vorteil der Kunden begangen wurden, ferner, dass der Antragsteller den Schaden unter Verwertung seines eigenen Vermögens vollständig wieder gutgemacht hat (ähnlich BVerfG vom 24.10.2003 NJW 2003, 1618/1619). Schließlich wäre auch hier darauf einzugehen gewesen, dass und warum eine Strafaussetzung zur Bewährung erfolgt ist. In der Beschwerdeerwiderung weist die Antragsgegnerin diesbezüglich darauf hin, dass der Antragsteller unter dem Druck des schwebenden Strafverfahrens Wohlverhalten an den Tag gelegt habe, um dieses Strafverfahren zu einem für ihn möglichst günstigen Ausgang zu bringen (S. 3). Wenn dem aber so ist, so drängt sich die Frage auf, warum dies nicht auch in einem schwebenden Gewerbeuntersagungsverfahren bzw. Erlaubniswiderrufsverfahren zu erwarten sein sollte. Die Antragsgegnerin erweckt zudem im Tenor des angefochtenen Bescheids nicht den Eindruck, dass sie Präventivmaßnahmen bis zum Eintritt der Rechtskraft des Hauptsacheverfahrens für unbedingt erforderlich hält. Dies ist daraus abzuleiten, dass nach ihrer Bescheidskonzeption die angefochtene Vollstreckungsmaßnahme der Zwangsgeldandrohung erst nach dem Eintritt der Rechtskraft greifen soll. Die Fristsetzung lautet „zwei Wochen nach Unanfechtbarkeit des Bescheids“.

Soweit die Antragsgegnerin demgegenüber auf den Schutz des Vertrauens der Öffentlichkeit auf die gewerberechtliche Zuverlässigkeit der im Versicherungsvermittlerregister eingetragenen Versicherungsvermittler hinweist, so vermag dieses Argument einen objektiv nicht erforderlichen vorläufigen Eingriff in die Berufsfreiheit nicht zu rechtfertigen.

Kosten: § 154 Abs. 1 und 2 VwGO.

Streitwert: § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG; wie Vorinstanz.