Bayerischer VGH, Beschluss vom 15.03.2011 - 15 CS 11.9
Fundstelle
openJur 2012, 114161
  • Rkr:
Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens, einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1.

III. Der Streitwert wird auf 3.750 € festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller ist Miteigentümer des Grundstücks FlNr. 2407/34 Gemarkung Bad Wörishofen. Das Grundstück liegt ebenso wie das südlich angrenzende Baugrundstück der Beigeladenen zu 1 (FlNr. 2407/9) im Gebiet des Bebauungsplans West 1 C der Beigeladenen zu 2. Dem Antragsteller geht es darum, dass die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Baugenehmigung vom 16. August 2010 in Gestalt der Tekturgenehmigung vom 21. Oktober 2010 für das Wohnbauvorhaben "… Terrassen" mit 36 Wohneinheiten, verteilt auf die beiden Häuser „…“ und „…“, angeordnet wird.

Das Verwaltungsgericht Augsburg hat seinen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung mit Beschluss vom 22. Dezember 2010 abgelehnt. Der Bebauungsplan mit der Festsetzung eines Sondergebiets für Kurheime und Sanatorien („SKS“) sei funktionslos geworden. Im Plangebiet sei inzwischen zum großen Teil Wohnbebauung zugelassen worden. In den unmittelbar an das Baugrundstück angrenzenden Grundstücken sei jeweils Wohnbebauung verwirklicht, darunter auch das Einfamilienhaus des Antragstellers. Es stehe fest, dass unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse von den betroffenen Grundstückseigentümern nicht mehr verlangt werden könne, nur eine Kurzwecken dienende Nutzung gemäß den Festsetzungen des Bebauungsplans West 1 C zu verwirklichen. Das Bauvorhaben der Beigeladenen beurteile sich nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 6 BauNVO und sei gemäß diesen Vorschriften der Art der baulichen Nutzung nach zulässig. Auf die Einhaltung des Maßes der baulichen Nutzung könne der Antragsteller sich als Nachbar nicht berufen; das Rücksichtnahmegebot sei nicht verletzt. Die Abstandsflächen seien eingehalten.

Mit seiner Beschwerde greift der Antragsteller diese Rechtsauffassung an. Er trägt insbesondere vor, der Bebauungsplan sei nicht funktionslos geworden und das genehmigte Vorhaben widerspreche der festgesetzten Nutzungsart. Er könne sich darauf auch berufen. Jedenfalls sei das genehmigte Vorhaben gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO unzulässig, weil es wegen seines Umfangs der Eigenart des Baugebietes wiederspreche. Das 16-Meter-Privileg des Art. 6 Abs. 6 BayBO werde in unzulässiger Weise an mehr als zwei Außenwänden in Anspruch genommen; die Abstandsflächenbestimmungen der Bayerischen Bauordnung seien verletzt. Das Landratsamt habe im Zuge der Baugenehmigung die Abstandsflächen geprüft, obwohl es sich um ein vereinfachtes Verfahren i.S.d. Art. 59 BayBO gehandelt habe. Daraus könne der Antragsteller eine Verletzung seiner Rechte ableiten. Das Vorhaben verstoße wegen seines Maßes gegen das Gebot der Rücksichtnahme und habe „erdrückende Wirkung“.

Der Antragsteller beantragt,

unter Änderung des angefochtenen Beschlusses die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Baugenehmigung vom 16. August 2010 und die Tekturgenehmigung vom 21. Oktober 2010 anzuordnen.

Der Antragsgegner und die Beigeladene zu 1 treten der Beschwerde entgegen und verteidigen den Beschluss des Verwaltungsgerichts sowie die erteilten Genehmigungen.

Die Beigeladene zu 2 hat den Bebauungsplan West I C sowie eine Übersichtskarte vorgelegt, in der die tatsächlichen Nutzungen der Anwesen im Geltungsbereich des Bebauungsplans eingetragen sind. Sie hat keinen Antrag gestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet. Die geltend gemachten Beschwerdegründe, auf deren Prüfung der Senat im Beschwerdeverfahren beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), ergeben nicht, dass das Verwaltungsgericht den Antrag zu Unrecht abgelehnt hat.

1. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung wird die Klage gegen die Baugenehmigung vom 16. August 2010 in der Fassung der Tekturgenehmigung vom 21. Oktober 2010 aller Voraussicht nach erfolglos bleiben.

a) Es spricht angesichts der von der Beigeladenen zu 2 nunmehr vorgelegten Pläne viel dafür, dass der Bebauungsplan West I C der Beigeladenen zu 2 funktionslos geworden ist und der städtebaulichen Beurteilung des streitigen Vorhabens nicht gemäß § 30 Abs. 1 BauGB zugrunde gelegt werden kann.

An das Außerkrafttreten eines Bebauungsplans wegen Funktionslosigkeit sind strenge Anforderungen zu stellen. Es genügt nicht schon, dass über längere Zeit von dem Plan abgewichen worden ist und inzwischen Verhältnisse entstanden sind, die den Festsetzungen des Plans nicht entsprechen. Entscheidend ist, ob die jeweilige Festsetzung geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans noch einen wirksamen Beitrag zu leisten. Eine Planungskonzeption ist nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet verwirklicht werden kann. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan insoweit seine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, kann von einem Funktionsloswerden gesprochen werden (BVerwG vom 17.2.1997 Buchholz 406.11 § 10 BauGB Nr. 34). Dies kann der Fall sein, wenn unter den veränderten Umständen die der Festsetzung zugrundeliegende Interessenabwägung nicht mehr vertretbar erscheint (vgl. BVerwG vom 22.2.1974 BVerwGE 45, 25). Als Kontrollfrage für das Funktionsloswerden eines Bebauungsplans kann die Frage dienen, ob ein solcher Bebauungsplan angesichts der inzwischen eingetretenen Verhältnisse für den Bereich jetzt schlechterdings, nämlich nach den gemäß § 1 BauGB geltenden Maßstäben, nicht mehr aufgestellt werden könnte (BVerwG vom 3.8.1990 BVerwGE 85, 273 <juris> RdNr. 17). Die so definierte Funktionslosigkeit muss sich auf den gesamten Geltungsbereich der in Rede stehenden Festsetzung beziehen (BVerwG vom 29.4.1977 BVerwGE 54, 5 <juris> RdNr. 35; vom 3.8.1990, a.a.O., <juris> RdNr. 16; vom 17.2.1997 a.a.O.). Das ist hier der Fall.

Die 1986 in Kraft gesetzte Fassung des Bebauungsplans West I C setzt für das Gebiet des Vorhabens und des Grundstücks des Antragstellers ein Sondergebiet Kurheime und Sanatorien („SKS“) fest. Gemäß Nr. 1.2171 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans dient das „SKS“ vorwiegend Kur- und Erholungszwecken. Nach Nr. 1.2172 Buchst. a) sind Beherbergungsbetriebe für einen wechselnden Personenkreis, die der Kur und Erholung dienen allgemein zulässig, nach Buchst. b) Anlagen und Einrichtungen zur Betreuung und Versorgung sowie für soziale und gesundheitliche Zwecke, die mit der Eigenart des Kurbetriebs vereinbar sind, nach Buchst. c) Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie Betriebsinhaber und Betriebsleiter und gemäß Buchst. d) Wohnungen und Räume für freie Berufe der Gesundheitspflege i.S.d. § 13 BauNVO. Kern dieser Planungskonzeption ist es offensichtlich, im gesamten Geltungsbereich der Festsetzung ausschließlich kur- und erholungsbezogene Nutzungen zuzulassen. Diese Planungskonzeption hat ihre städtebauliche Gestaltungsfunktion verloren. Eine Beschränkung auf diese Nutzungen kann auch nur annäherungsweise nicht mehr verwirklicht werden, weil ein erheblicher Teil der vorhandenen Bebauung dem nicht entspricht. Tatsächlich sind im Geltungsbereich der Festsetzung nicht kurbezogene Wohnnutzungen in großer Zahl verwirklicht worden. Hierbei sind auch diejenigen Wohnbauvorhaben zu berücksichtigen, die wie das Wohnhaus des Antragstellers in legaler Weise zwischen Anfang der 1970er und Mitte der 1980er Jahre entstanden sind, als dort vorübergehend teilweise Wohngebiete anstelle von „SKS“ festgesetzt waren. Denn die Beurteilung der Funktionslosigkeit eines Bebauungsplans hängt nicht davon ab, ob eine Bebauung materiell legal oder illegal entstanden ist. Es geht vielmehr allein darum, ob nach den tatsächlichen Umständen, so wie sie vorzufinden sind, der Plan noch sinnvoll städtebaulich steuern kann. Unter den tatsächlichen Umständen erscheint hier die Interessenabwägung, die der Festsetzung eines die nicht kurbezogene Wohnnutzung ausschließenden Sondergebiets zugrunde liegt, nicht mehr vertretbar (vgl. BVerwG vom 22.2.1974 a.a.O.; BVerwG vom 3.8.1990 a.a.O.).

Es könnten zwar im Bereich der Festsetzung „SKS“ neben den nach wie vor bestehenden theoretisch neue kurbezogene Nutzungen aufgenommen werden. Das würde aber nichts daran ändern, dass die planerische Vorstellung eines „reinen“ Kurgebiets durch die tatsächliche Entwicklung endgültig überholt ist. Auf die Frage, ob und in wie weit die Beigeladene zu 2 mit einem „Niedergang der Kur“ zu rechnen hat, kommt es nicht entscheidend an. Denn auch wenn infolge der Entwicklung auf dem Gesundheitssektor eine Nachfrage nach Kurleistungen erhalten bleibt, hat die Festsetzung eines Kur- und Erholungszwecken vorbehaltenen Gebiets ihre steuernde Kraft verloren, weil eine (Rück-) Umwandlung aller vorhandenen Wohnnutzungen in seinem Geltungsbereich in „SKS“-Nutzungen realistischer Weise nicht anzunehmen ist. Die tatsächlichen Verhältnisse weichen vom Planinhalt so massiv und so offenkundig ab, dass eine Erfüllung der städtebaulichen Gestaltungsfunktion des Bebauungsplans unmöglich geworden ist (vgl. BVerwG vom 17.2.1997 a.a.O.). Die vom Antragsteller genannte Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 16. Oktober 2007 (Az. 1 CS 07.1848 <juris> RdNr. 48) führt zu keinem anderen Ergebnis, weil die Konstellationen nicht vergleichbar sind.

Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich - das vorausgesetzt - nach § 34 Abs. 2 BauGB, wobei dahinstehen kann, ob die nähere Umgebung des Baugrundstücks faktisch als Wohngebiet oder, wie das Verwaltungsgericht meint, als Mischgebiet zu qualifizieren ist, In allen Fällen ist das Wohnbauvorhaben der Beigeladenen zu 1 im Grundsatz seiner Art nach zulässig (§ 3 Abs. 2, § 4 Abs. 2 Nr.1, § 6 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO).

b) Ob der Bebauungsplan West I C auch deshalb keine rechtliche Wirkung entfaltet, weil er an einem Ausfertigungsmangel leidet, kann dahingestellt bleiben.

c) Falls gleichwohl nicht von einer Funktionslosigkeit des Bebauungsplans West I C auszugehen wäre, sprechen jedenfalls gute Gründe dafür, dass der Antragsteller sich dem streitigen Vorhaben gegenüber nicht auf den Gebietserhaltungsanspruch berufen kann. Die Zuerkennung eines Gebietserhaltungsanspruchs beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses zwischen Nachbarn. Weil und soweit der Eigentümer eines Grundstücks in dessen Ausnutzung öffentlich-rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann er deren Beachtung grundsätzlich auch im Verhältnis zum Nachbarn durchsetzen. Durch die Festsetzungen eines Bebauungsplans über die Art der baulichen Nutzung werden die Planbetroffenen im Hinblick auf die Nutzung ihrer Grundstücke zu einer „Schicksalsgemeinschaft“ verbunden. Eigentümer von Grundstücken, die durch denselben Bebauungsplan derselben Festsetzung unterworfen sind, können die Zulassung eines mit der Gebietsfestsetzung unvereinbaren Vorhabens abwehren, weil hierdurch das nachbarliche Austauschverhältnis gestört und eine Verfremdung des Gebiets eingeleitet wird (BVerwG vom 16.9.1993 BVerwGE 94, 151 <juris> RdNr. 12; vom 20.8.1998 NVwZ-RR 1999, 105).

Das Grundstück des Antragstellers ist wohngenutzt. Diese Nutzung steht - auch wenn sie gemäß Nr. 1.2173 der textlichen Festsetzungen gesteigerten Bestandsschutz genießt - nicht im Einklang mit der Festsetzung „SKS“. Damit fehlt es an jenem nachbarlichen Austauschverhältnis, das den Gebietserhaltungsanspruch sachlich begründet. Denn der Nachbar kann die Beachtung der Gebietsfestsetzung gegenüber dem Bauherrn nur und gerade deshalb durchsetzen, weil er selbst in der Ausnutzung seines Grundstücks diesen Beschränkungen unterworfen ist (vgl. BVerwG vom 11.5.1989 BVerwGE 82, 61/75). Diese Anspruchsvoraussetzung erfüllt der Antragsteller mit seinem Grundstück nicht. Ob diese Annahmen nur in dem – hier gegebenen – Fall zutreffen, dass eben die Nutzung verwirklicht werden soll, die auch der Antragsteller selbst ausübt, kann dahingestellt bleiben.

d) Das streitige Bauvorhaben ist auch nicht deshalb im Einzelfall unzulässig, weil es nach seinem Umfang der Eigenart des Baugebiets widersprechen würde (§ 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO). § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO gilt nicht nur im Geltungsbereich von Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung in Bebauungsplänen, sondern auch im unbeplanten Innenbereich, wenn nach § 34 Abs. 2 BauGB die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete der Baunutzungsverordnung entspricht (BVerwG vom 16.9.1993, a.a.O.). § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO regelt die Art der baulichen Nutzung; er ist im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung grundsätzlich nicht anwendbar.

Die Eigenart eines einzelnen Baugebiets ergibt sich nicht allein aus den typisierenden Regelungen der Baunutzungsverordnung. Mitbestimmend sind vielmehr auch die örtliche Situation, in die ein Gebiet "hineingeplant" ist, und der jeweilige Planungswille der Gemeinde, soweit er in den zeichnerischen und textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans unter Berücksichtigung der hierfür gegebenen Begründung zum Ausdruck gekommen ist (vgl. z.B. BVerwG vom 4.5.1988 BVerwGE 79, 309/314). Eine bauliche Anlage kann auch wegen ihrer Größe gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO unzulässig sein (vgl. BVerwG vom 3.2.1984 BVerwGE 68, 369/376), wenn im Einzelfall Quantität in Qualität umschlägt, die Größe (Umfang) einer baulichen Anlage also die Art der baulichen Nutzung mitbestimmt (BVerwG vom 16.3.1995 NVwZ 1995, 899 <juris> RdNr. 16).

Es spricht viel dafür, dass das Vorhaben nach seinem Umfang der Eigenart des Baugebiets nicht widerspricht. Die Eigenart des Baugebiets und die örtliche Situation sind nicht nur durch Wohnhäuser geprägt, sondern auch durch Kureinrichtungen, die teils Baukörper aufweisen, die nach ihrer Ausdehnung deutlich größer sind als das streitige Vorhaben. Das dem Antragsteller direkt gegenüberliegende Haus „…“ ist 40 m lang, das Kurheim …, das K… und das Wohnheim der … Schwestern sind jeweils ca. 80 m lang, die Länge des K…-Gebäudes beträgt rund 55 m und die des Gästehaus … immerhin noch rund 35 m. Auch der Höhe nach weicht das streitige Vorhaben von der Eigenart des Baugebiets jedenfalls nicht in einer so gravierenden Weise ab, dass die Quantität in Qualität umschlagen würde. Die Häuser „…“ und „…“ haben jeweils sechs oberirdische Geschosse. Das Kurheim … ist fünfgeschossig, das Gebäude des K… sowie das Hotel … viergeschossig. Das ehemalige Hotel … auf dem Baugrundstück war zumindest teilweise ebenfalls fünfgeschossig. Das sechste Geschoss des streitigen Vorhabens mag ein Vollgeschoss sein (Art. 83 Abs. 7 BayBO 2008 i.V.m. Art. 2 Abs. 5 BayBO 1998: Vollgeschosse sind Geschosse, die vollständig über der natürlichen oder festgelegten Geländeoberfläche liegen und über mindestens zwei Drittel ihrer Grundfläche eine Höhe von mindestens 2,30 m haben.). Es ist aber vertikal deutlich zurückgesetzt und umfasst nur einen Grundriss von 8,20 m x 8,30 m, der mittig auf dem Baukörper situiert ist und nach den Plänen nicht zu Wohnzwecken genutzt wird, sondern lediglich Treppe, Aufzug und Abstellräume zur umgebenden Dachterrasse beherbergt.

e) Eine Verletzung von Nachbarrechten des Antragstellers ergibt sich auch nicht daraus, dass das Vorhaben nach dem Stempelaufdruck auf den Plänen „im vereinfachten Verfahren“ nach Art. 59 BayBO genehmigt worden ist. Zum einen gibt es regelmäßig schon keinen Anspruch des Dritten auf Durchführung des „richtigen“ Verwaltungsverfahrens (vgl. Eyermann, VwGO, 13. Auflage 2010, RdNr. 83 c zu § 42 m.w.N.). Zum andern wäre die Anwendung des Art. 59 BayBO nur bei Sonderbauten ausgeschlossen. Art. 2 Abs. 4 Nr. 3 BayBO gilt jedoch nicht für Wohngebäude und Garagen (zu letzteren s. Art. 2 Abs. 8 Satz 2 BayBO).

f) Die Abstandsflächen i.S.d. Art 6 BayBO sind nicht Gegenstand der Feststellungswirkung der Baugenehmigung und der Tekturgenehmigung. Eine Verletzung des Art. 6 BayBO durch die Baugenehmigung scheidet daher aus.

Das Landratsamt hat die Bauvorlagen mit dem Stempel versehen „Im vereinfachten Verfahren geprüft. Art. 59 BayBO: (eingeschränkter Prüfungsumfang, vgl. Hinweise in Genehmigungsbescheid)“. Das bringt unzweideutig zum Ausdruck, welchen Regelungsumfang die Genehmigung haben soll. Allein die Tatsache, dass dieser Stempelaufdruck auch auf dem eingereichten Abstandsflächenplan angebracht worden ist, bringt nicht zum Ausdruck, dass die Genehmigung – entgegen dem Text des Stempelaufdrucks – die positive Feststellung umfasst, das Vorhaben stehe auch mit Art. 6 BayBO im Einklang. Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO darf die Bauaufsichtsbehörde den Bauantrag auch ablehnen, wenn das Bauvorhaben gegen sonstige öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt. Es ergibt sich daher auch nichts Weiterführendes daraus, dass das Landratsamt, wie auch aus der im Beschwerdeverfahren vorgelegten E-Mail (Bl. 152 der VGH-Akte) hervorgeht, anhand des eingereichten Abstandsflächenplans geprüft hat, ob die Baugenehmigung wegen einer Nichtbeachtung der Abstandsflächenvorschriften abzulehnen sei. In der Baugenehmigung in Gestalt der Tekturgenehmigung werden somit keine positiven Feststellungen über die Einhaltung der Abstandsflächen getroffen, auf die der Antragsteller als Nachbar sich berufen könnte.

Art. 59 Satz 1 Nr. 2, Art. 65 Abs. 2 BayBO führen zu keinem anderen Ergebnis: Zwar wurde in der Baugenehmigung vom 16. August 2010 eine Abweichung i.S.d. Art. 63 Abs. 1 BayBO von den Abstandsflächenvorschriften zum Grundstück FlNr. 2407/8 (nicht zum Antragstellergrundstück) bezüglich der Stützmauer der Tiefgarage erteilt. Diese Abweichung wurde aber durch die Tekturgenehmigung vom 21. Oktober 2010 hinfällig, weil die Mauer durch die Umplanung reduziert worden ist. Ein Antrag auf Erteilung einer Abweichung macht nur den Aspekt des Abstandsflächenrechts zum Prüfprogramm nach Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO, der tatsächlich eine Abweichung erfordert. Die Einhaltung der Abstandsflächen durch den Baukörper des Hauses „…“ zum Antragstellergrundstück FlNr. 2407/9 hin wäre dadurch nicht Prüfungsgegenstand geworden. Dafür spricht bereits der Wortlaut des Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO, aber auch die Absicht des Gesetzgebers, mit dieser Vorschrift den Prüfungsumfang im vereinfachten Verfahren deutlich zu reduzieren (vgl. auch BayVGH vom 28.9.2010 Az.: 2 CS 10.1760 <juris> RdNr. 17 f.; vom 10.12.2008 BayVBl 2009, 751).

Offen bleiben kann, ob die Baugenehmigung im Hinblick auf die Satzung zur Vergrößerung der Abstandsflächen im Bereich der Stadt Wörishofen (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO) eine Feststellungswirkung entfaltet. Diese Satzung soll nach ihrem § 1 eine möglichst aufgelockerte Bebauung mit ausreichender Begrünung gewährleisten. Damit ist sie zum einen kompetenzrechtlichen Einwänden ausgesetzt, die zu ihrer Unwirksamkeit führen würden (vgl. VerfGH vom 12.5.2004 NVwZ 2005, 576). Zum anderen ist die Satzung - ihre Wirksamkeit unterstellt - städtebaulich motiviert. Ein eventueller Verstoß würde Rechte des Antragstellers nicht berühren.

g) Die Baugenehmigung ist im Hinblick auf die Abstandsflächenfrage auch nicht ermessensfehlerhaft. Zum einen hat sich das Landratsamt mit der Abstandsflächenfrage prüfend befasst. Im Übrigen kann dahingestellt bleiben, ob Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO eine gesetzliche Regelung fehlenden Sachbescheidungsinteresses darstellt und eine Versagung der Baugenehmigung ermöglicht, weil dem Bauherrn das rechtliche oder wirtschaftliche Interesse an der Genehmigung fehlt, oder ob die Vorschrift mit der Formulierung „darf“ der Bauaufsichtsbehörde ein Ermessen eröffnet. Denn Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO ist jedenfalls nicht dazu bestimmt, nachbarlichen Interessen zu dienen (BayVGH vom 14.10.2010 Az. 15 ZB 10.1584 m.w.N. <juris>; vgl. auch BayVGH vom 28.9.2010 a.a.O.).

h) Schließlich spricht alles dafür, dass die Baugenehmigung in Gestalt der Tekturgenehmigung für das streitige Vorhaben auch in Bezug auf das Maß der baulichen Nutzung keine Nachbarrechte des Antragstellers verletzt.

In der Baugenehmigung vom 16. August 2010 wird eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans West I C hinsichtlich der zulässigen Zahl der Vollgeschosse erteilt. Damit werden mehr als die im Bebauungsplan West I C im „SKS“ (Nr. 1.2174 der textlichen Festsetzungen) maximal vorgesehenen drei Vollgeschosse genehmigt, ohne die Vereinbarkeit mit den öffentlichen Belangen und die nachbarlichen Interessen zu würdigen, wie § 31 Abs. 2 BauGB es vorsieht. In der Begründung der Tekturgenehmigung wird darauf hingewiesen, die Befreiung sei gegenstandslos, nachdem nun von einer Funktionslosigkeit des Bebauungsplans auszugehen sei. Ob das zutrifft und ob eine Funktionslosigkeit des Bebauungsplans in Bezug auf die Festsetzung „SKS“ die Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung mit erfasst, kann dahinstehen. Die Festsetzungen über das zulässige Maß der baulichen Nutzung sind im Grundsatz nicht nachbarschützend (vgl. Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 11. Auflage 2009, RdNr. 68). Ein Drittschutz ergibt sich nur, soweit das Bauvorhaben dem Antragsteller gegenüber das Gebot der Rücksichtnahme verletzen würde (vgl. BVerwG vom 19.9.1986 Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 71; vom 16.9.1993 a.a.O.). Das ist nicht der Fall.

Ein gewichtiges Indiz dafür stellt die tatsächliche Einhaltung der Abstandsflächen dar. Die Beigeladene zu 1 nimmt nach dem Abstandsflächenplan für das Haus „…“ an der nordöstlichen Grundstücksgrenze zum Antragsteller hin, sowie an der nordwestlichen Grundstücksgrenze zur A…-…-Allee das sog. 16-Meter-Privileg des Art. 6 Abs. 6 BayBO in Anspruch. Die Außenwände des Vorhabens sind sowohl horizontal wie auch vertikal gegliedert. Weder horizontal noch vertikal versetzte Wandteile sind eigenständige „Außenwände“ i.S.d. Art. 6 BayBO. Für horizontal gegliederte Außenwände hat der Große Senat des Verwaltungsgerichtshofs am 21. April 1986 (VGH n.F. 39, 9) entschieden, dass mehrere abstandsflächenrelevante Außenwandteile derselben Gebäudeseite zusammenzuzählen sind (vgl. auch Dirnberger in Jäde/Dirnberger/Bauer/Weiss, BayBO, RdNr. 194 ff. zu Art. 6). In entsprechender Weise bilden vertikal versetzte Außenwandteile nur eine Außenwand (vgl. Rauscher in Simon/Busse, BayBO RdNr. 222 zu Art. 6). Die Außenwandteile und Vorbauten („Portikus“), die näher als eine ganze Wandhöhe (1 H) an die Grundstücksgrenzen heranreichen, haben an der Nordost- wie auch an der Nordwestseite des Hauses „…“ eine Länge von jeweils nicht ganz 16 m. Art. 6 Abs. 6 BayBO, wonach vor zwei Außenwänden die Einhaltung einer halben Wandhöhe (1/2 H) ausreicht, ist somit anwendbar. Auch die vertikale Gliederung des Baukörpers hindert nicht die Inanspruchnahme des 16-Meter-Privilegs. Vertikal versetzte Außenwandteile, wie z.B. zurückversetzte Dachterrassengeschosse haben keine eigene Außenwand, die geschlossen von der Geländeoberfläche bis zur Oberkante der Wand durchläuft. Deshalb wird hier für jeden versetzten Außenwandteil eine fiktive Wand konstruiert, nach deren Höhe sich die jeweilige Abstandsfläche bemisst (vgl. Rauscher, a.a.O.).

Die Beigeladene zu 1 nimmt somit das 16-Meter-Privileg nur an zwei Außenwänden des Hauses „…“, nämlich an der nordöstlichen und an der nordwestlichen in Anspruch. Die Höhe des Hauses „…“ beträgt nach dem zur ursprünglichen Baugenehmigung vom 16. August 2010 gehörigen Schnitt 21,75 m von der Geländeoberfläche bis zur Spitze der Kuppel (unterstellt sie wäre entsprechend Art. 6 Abs. 4 Sätze 3 und 5 BayBO mitzurechnen). Der von der Tekturgenehmigung erfasste neue Fassadenplan ist nicht vermaßt. Eine Erhöhung des Baukörpers sollte nach Aktenlage damit nicht verbunden sein. Eine halbe Wandhöhe (1/2 H) beträgt nach dem für die Wandhöhe verbindlichen Schnitt der ursprünglichen Baugenehmigung 10,875 m. Aber auch wenn man von den 23,75 m Gesamthöhe ausginge, die der Antragsteller aus der Tekturgenehmigung herausliest, wäre 1/2 H immer noch weniger als 12 m. Mit einem Abstand von 14 m zur Grundstücksgrenze des Antragstellers (nach dem Außenanlagenplan der Tekturgenehmigung, in dem keine Abstandsflächen vermaßt sind, ca. 13,5 m) wird der Abstand von 1/2 H somit jedenfalls gewahrt. Zur Nordwestseite gelingt dies nur unter Einbeziehung der Verkehrsfläche der A…-…-Allee bis zu deren Mitte (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO).

Wenn wie hier die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften eingehalten sind, indiziert das regelmäßig, dass eine „erdrückende Wirkung“ nicht eintritt. Das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Nachbarn nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Belichtung und Belüftung oder Einsichtsmöglichkeiten in sein Grundstück verschont zu bleiben. Eine Rechtsverletzung ist erst zu bejahen, wenn die Beeinträchtigung unzumutbar ist. Das ist im Wege einer Gesamtschau zu ermitteln, die den konkreten Einzelfall in den Blick nimmt (vgl. z.B. BayVGH vom 23.9.2009 Az. 15 ZB 09.98; auch BVerwG vom 11.1.1999 NVwZ 1999, 879). In der konkreten Grundstückssituation gibt es keine ausreichenden Anhaltspunkte, dass das Vorhaben „…“ trotz der Einhaltung der Abstandsflächen eine erdrückende Wirkung hat. Die Wirkung des Baukörpers ist durch seine horizontale und vertikale Gliederung aufgelockert, das 4. und 5. Geschoss springen deutlich zurück, das 6. Geschoss besteht aus einem Baukörper mit Außenmaßen von lediglich 8,20 m x 8,30 m, der mittig situiert und von Dachterrasse umgeben ist.

2. Mit größter Wahrscheinlichkeit wird somit die Hauptsacheklage des Antragstellers ohne Erfolg bleiben. Bei dieser Sachlage ist es der Beigeladenen zu 1 nicht zuzumuten, den in legaler Weise begonnenen und schon deutlich fortgeschrittenen Bau auf nicht konkret absehbare Zeit hinaus nicht mehr fortführen zu können. Die Interessen des Antragstellers sind nicht so gewichtig, dass sie eine Aussetzung der Vollziehung der Baugenehmigung bis zu ihrer Bestandskraft rechtfertigen würden. Er muss in der konkreten städtebaulichen Situation damit rechnen, (wie bisher) in der Nachbarschaft größere Gebäudekomplexe zu haben.

3. Die Kostenentscheidung ergibt, sich aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 47 GKG.

4. Die mit Beschluss vom 1. März 2011 getroffene Zwischenverfügung ist mit der Entscheidung über die Beschwerde gegenstandslos

5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).