OLG Nürnberg, Beschluss vom 15.04.2010 - 9 UF 353/10
Fundstelle
openJur 2012, 107782
  • Rkr:
Tenor

1. Auf die Beschwerde der gesetzlichen Vertreterin des Kindes B C, geb. 09.08.1997, wird der Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Ansbach vom 04.02.2010 (Az. 1 F 97/10) aufgehoben.

Der Antrag der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Ansbach vom 01.02.2010 wird zurückgewiesen.

2. Von der Erhebung von Gerichtskosten wird abgesehen. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

3. Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Mit Beschluss vom 04.02.2010 hat das Familiengericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft Ansbach für das Kind C B geb. 09.08.1997, Ergänzungspflegschaft mit folgenden Wirkungskreisen angeordnet:

a) Zustimmung zur Untersuchung des Kindes nach § 81 c StPO über etwaige Verletzungen

b) Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht für die behandelnden Ärzte des Kindes

c) Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts gemäß § 52 StPO

d) Zustimmung zur Mitwirkung des Kindes bei der Erstattung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens zur Frage der Glaubwürdigkeit

e) die Aufenthaltsbestimmung in Bezug auf die oben angeführten Untersuchungshandlungen und Zeugenvernehmungen.

Zum Ergänzungspfleger wurde das Stadtjugendamt Ansbach bestellt.

Das Familiengericht stützt seine Entscheidung auf § 1909 BGB. Es führt zur Begründung im Wesentlichen aus:

Die Staatsanwaltschaft Ansbach führe ein Ermittlungsverfahren gegen C B, geb. 16.08.1967, wegen des Verdachts des sexuellen Mißbrauchs zum Nachteil des Kindes C B, dessen allein sorgeberechtigte Mutter mit dem Beschuldigten verheiratet sei.

Da dem Kind ein Zeugnisverweigerungsrecht im Ermittlungsverfahren gegen den Ehemann seiner Mutter zustehe, sei in analoger Anwendung des § 52 Abs. 2 S. 2 StPO ein Ergänzungspfleger mit den genannten Wirkungskreisen zu bestellen.

Gegen den Beschluss des Erstgerichts vom 04.02.2010 hat die Kindesmutter Beschwerde eingelegt, mit der sie die Aufhebung der Entscheidung und die Zurückweisung des Antrages der Staatsanwaltschaft Ansbach erstrebt.

Sie ist der Auffassung, die Anordnung der Ergänzungspflegschaft könne nicht auf § 52 Abs. 2 S. 2 StPO gestützt werden, da diese Vorschrift den vorliegenden Sachverhalt nicht erfasse und auch einer analogen Anwendung nicht zugänglich sei.

Die Staatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen, weil die Gründe des Beschlusses zutreffend seien.

II.

Die Beschwerde ist zulässig.

Gegen die Entscheidung des Familiengerichts Ansbach findet die Beschwerde gemäß §§ 58 ff. FamFG statt. Es handelt sich um eine Familiensache gemäß §§ 111 Nr. 2, 151 Nr. 5 FamFG. Da keine Familienstreitsache im Sinne des § 112 FamFG vorliegt, findet § 117 FamFG keine Anwendung.

Die Beschwerde ist auch begründet. Denn die Voraussetzungen für die Anordnung einer Ergänzungspflegschaft liegen nicht vor.

Ergänzungspflegschaft für Minderjährige kann nur angeordnet werden, soweit der Inhaber der elterlichen Sorge an deren Ausübung tatsächlich oder rechtlich verhindert ist (§ 1909 Abs. 1 BGB).

Diese Voraussetzung liegt hier nicht vor. Sie kann auch nicht aus § 52 Abs. 2 StPO hergeleitet werden. Die Vorschrift regelt den Fall der rechtlichen Verhinderung, wenn der aussagebereite minderjährige Zeuge keine genügende Vorstellung von der Bedeutung des Zeugnisverweigerungsrechts hat und deshalb die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters zur Vernehmung erforderlich ist.

Dem Kind C B steht ein Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 52 Abs. 1 Nr. 2 StPO zu.

Die Entscheidung darüber, ob der minderjährige Zeuge schon die nötige Verstandesreife besitzt, um die Bedeutung und Tragweite eines Zeugnisverweigerungsrechts zu erfassen, ist vom Strafrichter, im Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft zu treffen. Das Familiengericht ist insoweit an die Entscheidung der vernehmenden Stelle über die Frage der Verstandesreife des minderjährigen Zeugen gebunden (BayObLG Z 1997, 249). Die Staatsanwaltschaft Ansbach hat mit ihrem Antrag auf Anordnung einer Ergänzungspflegschaft zum Ausdruck gebracht, dass sie die erforderliche Verstandesreife des Kindes für die Entscheidung über die Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts verneint. Daran ist der Senat gebunden.

Entgegen der Auffassung des Familiengerichts liegt jedoch keine rechtliche Verhinderung der Beschwerdeführerin im Sinne des § 52 Abs. 2 S. 2 StPO vor. Nach dieser Bestimmung kann der gesetzliche Vertreter über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts des Minderjährigen nicht entscheiden, wenn er selbst Beschuldigter ist. Das gleiche gilt für den nichtbeschuldigten Elternteil, wenn die gesetzliche Vertretung beiden Elternteilen zusteht. Letzteres Tatbestandsmerkmal ist jedoch nicht erfüllt, da der Beschwerdeführerin die alleinige elterliche Sorge und damit allein die gesetzliche Vertretung (§ 1629 BGB) des Kindes zusteht. Ihr wurde nämlich anlässlich der Scheidung vom Vater des Kindes C B die alleinige elterliche Sorge mit Endurteil des Amtsgerichts – Familiengericht – Ansbach vom 04.07.2001 (Az. 3 F 989/00) übertragen.

Allerdings ist umstritten, ob die Vorschrift des § 52 Abs. 2 S. 2 StPO auf einen solchen Sachverhalt entsprechend angewendet werden kann. Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs hierzu liegt bisher nicht vor.

Eine Mindermeinung befürwortet die analoge Anwendung des § 52 Abs. 2 S. 2 StPO auf den hier vorliegenden Sachverhalt unter Hinweis auf die vergleichbare Interessenlage. Der einschränkende Wortlaut der Vorschrift beruhe nur auf einem Redaktionsversehen (Schimansky in Festschrift für Pfeiffer, S. 300; Senge in Karlsruher Kommentar StPO, 6. Aufl., 2008, Rn. 29 zu § 52 StPO).

Überwiegend wird jedoch eine entsprechende Anwendung der Vorschrift auf die vorliegende Fallgestaltung abgelehnt (LG Berlin, FamRZ 2004, 905; Schweckendieck: "Eine Gesetzeslücke in § 52 Abs. 2 S. 2 StPO?", NStZ 2008, 537; Ignor/Bertheau in Löwe-Rosenberg, 26 Aufl., Rn. 32 zu § 52 StPO; KMR-Neubeck Rn. 26 zu § 52 StPO). Dies wird mit dem eindeutigen Wortlaut des § 52 Abs. 2 S. 3 StPO begründet. Außerdem wird ausgeführt, dass eine "Nähebeziehung" auch zu nahen Verwandten des vertretungsberechtigten Elternteils (Vater, Schwester usw.) bestehe, so dass man auch bei diesem Personenkreis § 52 Abs. 2 S. 2 StPO für anwendbar erklären müsse; eine derart weitgehende Gesetzeskorrektur sei jedoch dem Gesetzgeber zu überlassen (Ignor/Bertheau).

Der Senat schließt sich der vorherrschenden Meinung aus den genannten Gründen an. Ferner ist er der Auffassung, dass hier eine auszufüllende "Regelungslücke" nicht besteht. In Fällen wie dem vorliegenden kann nämlich, falls der alleinvertretungsberechtigte Elternteil sein Sorgerecht durch eine dem Kindeswohl widersprechende Entscheidung missbraucht, das Sorgerecht teilweise gemäß § 1666 BGB entzogen und dann insoweit Ergänzungspflegschaft angeordnet werden. Diese Entscheidung kann in Eilfällen auch kurzfristig durch einstweilige Anordnung des Familiengerichts herbeigeführt werden (§ 49 FamFG).

Da somit eine rechtliche Verhinderung der Beschwerdeführerin, der die alleinige elterliche Sorge für das Kind C B zusteht, nicht gegeben ist, durfte eine Ergänzungspflegschaft ohne vorherigen teilweisen Eingriff in das Recht der elterlichen Sorge nicht angeordnet werden. Der Beschluss des Familiengerichts vom 04.02.2010 ist deshalb aufzuheben und der Antrag der Staatsanwaltschaft Ansbach auf Anordnung der Ergänzungspflegschaft zurückzuweisen.

III.

Von der Erhebung von Kosten wird gemäß § 81 Abs. 1 S. 2 FamFG abgesehen.

Für die Anordnung der Erstattung außergerichtlicher Kosten besteht kein Anlass (§ 81 Abs. 1 S. 1 FamFG).

Die Festsetzung des Geschäftswertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 42 FamGKG.

Da eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu der hier entschiedenen Rechtsfrage noch nicht ergangen ist, wird zur Fortbildung des Rechts die Rechtsbeschwerde zugelassen (§ 70 FamFG).