Bayerischer VGH, Urteil vom 15.04.2010 - 6 B 08.1846
Fundstelle
openJur 2012, 107408
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Tenor

I. Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 22. August 2006 wird, soweit es nicht bereits rechtskräftig ist, abgeändert.

II. Der Bescheid der Beklagten vom 25. April 2003 und der Widerspruchsbescheid des Landratsamts Cham vom 13. Januar 2005 werden bezüglich des Grundstücks FI.Nr. … der Gemarkung … insgesamt aufgehoben.

III. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war notwendig.

IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, sofern nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Heranziehung zu einem Straßenausbaubeitrag für die Erneuerung der S. Straße.

Die Klägerin war bis zum Jahr 2008 Eigentümerin des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks FINr. … der Gemarkung …, das mit seiner Westseite an die Straße B. und mit seiner Ost- und Südseite an das an der S. Straße gelegene Grundstück FlNr. A angrenzt, dessen Eigentümerin die Klägerin ist.

Die Beklagte zog die Klägerin für die Erneuerung der S. Straße mit Bescheid vom 25. April 2003 zu einem Straßenausbaubeitrag in Höhe von 2.585,96 Euro für das Grundstück Fl.Nr. A/3 heran, wobei sie die Straße als Hauptverkehrsstraße i.S. von § 7 Abs. 2 Nr. 1.3 ABS einstufte und eine Ermäßigung wegen Mehrfacherschließung gewährte.

Ein von der Klägerin angestrengtes Eilverfahren blieb ohne Erfolg (Beschluss d. VG vom 15.12.2003 Az. RO 11 S 03.1165; Beschluss d. VGH vom 26.11.2004 Az. 6 CS 04.1). Ihren Widerspruch wies das Landratsamt Cham mit Widerspruchsbescheid vom 13. Januar 2005 zurück.

Das Verwaltungsgericht lehnte mit Beschluss vom 30. Mai 2006 einen Antrag der Klägerin gemäß § 80 Abs. 7 VwGO ab (Az. RO 11 S 06.90 und RO 11 S 06.374).

Mit ihrer zum Verwaltungsgericht erhobenen Klage hat die Klägerin im Wesentlichen vorgebracht: Das Grundstück FlNr. A/3 grenze nur an die Straße B. an. Es habe keinen Zugang und keine Zufahrt über das Anliegergrundstück FlNr. A zur abgerechneten S. Straße, sondern ausschließlich zur Straße B.. Das Haus sei zum Grundstück FlNr. A hin zugemauert, die Fenster seien vergittert.

Das Grundstück FlNr. B/7 sei Bestandteil der R.straße. Das im Eigentum der Beklagten stehende Grundstück FlNr. C zähle als Hinterliegergrundstück des ebenfalls der Beklagten gehörenden Grundstücks FlNr. D zum Abrechnungsgebiet. Bei den Grundstücken FINrn. D, E/2, E, F und G sei zu Unrecht kein Artzuschlag wegen gewerblicher Nutzung angesetzt bzw. Ermäßigung wegen Mehrfacherschließung gewährt worden. Die Zahl der zugrunde gelegten Vollgeschosse sei zum Teil fehlerhaft. Außerdem wurde mit ins Einzelne gehenden Einwendungen die Höhe des Aufwands gerügt.

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 22. August 2006 (Az. RO 11 K 05.149) den Straßenausbaubeitragsbescheid der Beklagten vom 25. April 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Landratsamts Cham vom 13. Januar 2005 aufgehoben, soweit ein höherer Beitrag als 2.149,43 Euro festgesetzt worden ist und im Übrigen die Klage abgewiesen. Es handle sich bei den von der Beklagten durchgeführten Baumaßnahmen an der S. Straße um beitragspflichtige Erneuerungsmaßnahmen i.S. von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 KAG i.V. mit der Ausbaubeitragssatzung vom 27. Oktober 2003. Gegen die der Beitragsberechnung zugrunde gelegte Einrichtung bestünden keine Bedenken. Das Grundstück FINr. B/7 sei nach natürlicher Betrachtungsweise Bestandteil des Straßenzugs S. Straße. Die Beklagte habe das Grundstück FINr. A/3 zu Recht als Hinterliegergrundstück zum Straßenausbaubeitrag herangezogen. Stünden - wie hier - Hinterlieger- und Anliegergrundstück im Eigentum derselben Person, liege es ausschließlich im entsprechenden Willen des Eigentümers, die Möglichkeit der Inanspruchnahme der erneuerten Ortsstraße zu realisieren. Die vorgelegten Fotos bestätigten, dass ein Überbau vom Hinterliegergrundstück FINr. A/3 auf das Anliegergrundstück FINr. A vorliege, so dass von einer einheitlichen Nutzung auszugehen sei. Ausreichend sei im Straßenausbaubeitragsrecht im Übrigen, dass vom Hinterliegergrundstück Zugang zur Straße genommen werdenkönne.Dies sei regelmäßig schon wegen der Eigentümeridentität gewährleistet, unabhängig vom Vorhandensein einer einheitlichen Nutzung. Darauf, dass die rückwärtigen Fenster bei dem auf dem Grundstück FINr. A/3 vorhandenen Wohnhaus vergittert seien und eine Türöffnung nicht vorhanden, komme es deshalb nicht an.

Die Beklagte habe zu Unrecht ihr Hinterliegergrundstück FINr. C beitragsfrei gehalten. Sie sei zum Zeitpunkt der Entstehung der sachlichen Beitragspflicht mit Eingang der letzten Rechnung vom 27. März 2003 (am 31.3.2003) Eigentümerin der Grundstücke FINrn. C und D gewesen. Dem Grundstück FINr. G hätte wegen seiner gewerblichen Nutzung keine Ermäßigung wegen Mehrfacherschließung gewährt werden dürfen. Im Übrigen seien das Abrechnungsgebiet und die Verteilung des Aufwands nicht zu beanstanden.

Die Rügen der Klägerin zur Höhe des Aufwands hätten zu den von der Beklagten im Schriftsatz vom 4. August 2006 und den zugehörigen Tabellen vorgenommenen Korrekturen geführt. Die Kosten für die Angleichung des Niveaus der Unteren Regenstraße an die ausgebaute S. Straße in Höhe von 27.310,96 DM könnten nicht der Erneuerung der S. Straße zugerechnet werden, da das Niveau der Unteren Regenstraße hätte angehoben werden müssen und nicht umgekehrt. Ansonsten sei der umgelegte Aufwand nicht zu beanstanden.

Mit Beschluss vom 7. Oktober 2008 (Az. 6 AS 06.2771) ordnete der Verwaltungsgerichtshof unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 30. Mai 2006 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 25. April 2003 in Höhe von 2.149,43 Euro an. Es bestünden keine hinreichenden Anhaltspunkte, dass von dem nicht gefangenen Hinterliegergrundstück aus die abgerechnete S. Straße über das Anliegergrundstück FINr. A in nennenswertem Umfang in Anspruch genommen werde.

Die Klägerin ergänzt und vertieft in ihrer vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Berufung ihr bisheriges Vorbringen und weist darauf hin, dass sie am 1. Dezember 2007 das Grundstück FINr. A/3 ihrem Sohn überlassen habe.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 22. August 2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom 25. April 2003 und den Widerspruchsbescheid des Landratsamts Cham vom 13. Januar 2005 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil und führt ergänzend aus: Über eine Tür des auf dem Grundstück FINr. A/3 befindlichen Wohnhauses sowie ein Tor des auf dem Grundstück FINr. A stehenden (Neben-)Gebäudes bestehe eine Verbindung zwischen beiden Grundstücken und somit auch ein Zugang vom Hinterliegergrundstück zum Anliegergrundstück bzw. zur S. Straße. Die einheitliche Nutzung ergebe sich zudem daraus, dass das Gebäude auf FINr. A/3 auf das Grundstück FINr. A hinüberrage und das Flachdach des Überbaus von dem Gebäude aus zu erreichen sei.

Im Übrigen zahle der Eigentümer im Straßenausbaubeitragsrecht nicht dafür, dass er die Straße tatsächlich in Anspruch nehme, sondern dafür, dass er dies könnte und dürfte. Müsste man anhand der Umstände des Einzelfalls Vermutungen darüber anstellen, ob der Eigentümer von diesen Möglichkeiten tatsächlich Gebrauch mache, würde dies zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit führen.

Der Senat hat zur Feststellung der örtlichen Verhältnisse auf dem Grundstück FINr. A/3 sowie in der näheren Umgebung Beweis erhoben durch Einnahme eines Augenscheins.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache Erfolg. Der angefochtene Beitragsbescheid der Beklagten vom 25. April 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landratsamts Cham vom 13. Januar 2005 ist bezüglich des Grundstücks Fl.Nr. A/3 der Gemarkung … rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das in Anspruch genommene, sog. Nicht gefangene Hinterliegergrundstück der Klägerin hat von der abgerechneten S. Straße keinen nennenswerten Vorteil, da zu ihr weder eine Zufahrt besteht noch eine Zugangsmöglichkeit gegeben ist.

Bei den Baumaßnahmen an der S. Straße handelt es sich um die Erneuerung einer Ortsstraße, für die die Beklagte auf der Grundlage des Art. 5 Abs. 1 Sätze 1 und 3 KAG i.V.m. der Ausbaubeitragssatzung vom 27. Oktober 2003 Beiträge von den Grundstückseigentümern erheben darf (und soll), denen die Möglichkeit der Inanspruchnahme dieser Straße besondere Vorteile bietet. Für den Sondervorteil im Sinn von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 KAG sind nach der Rechtsprechung des Senats zwei Merkmale entscheidend: Zum einen die spezifische Nähe des Grundstücks zur ausgebauten Ortsstraße, wie sie bei Anliegergrundstücken und ihnen aus dem Blickwinkel einer rechtlich gesicherten Inanspruchnahmemöglichkeit grundsätzlich gleichzustellenden Hinterliegergrundstücken gegeben ist, zum anderen eine Grundstücksnutzung, auf die sich die durch den Ausbau verbesserte Möglichkeit, als Anlieger von der Ortsstraße Gebrauch zu machen, positiv auswirken kann (BayVGH vom 10.7.2002 - VGH n.F. 55, 121/125 = BayVBl 2003, 176/177).

Bei den Hinterliegergrundstücken ist allerdings nach der neueren Rechtsprechung des Senats zu differenzieren zwischen den sog. gefangenen Hinterliegergrundstücken, die ausschließlich über das jeweils vorgelagerte Anliegergrundstück eine Verbindung zum gemeindlichen Verkehrsnetz haben, und den anderen sog. nicht gefangenen Hinterliegergrundstücken, deren rückwärtige oder seitliche Teilflächen ihrerseits an eine Gemeindestraße angrenzen (vgl. BayVGH vom 29.4.2009 - 6 ZB 07.2050 in juris; vom 18.8.2009 - 6 ZB 08.194 in juris zur entsprechenden Problematik im Erschließungsbeitragsrecht).

Das streitbefangene Grundstück der Klägerin Fl.Nr. A/3 grenzt mit seiner Westseite an die Ortsstraße B. an und zählt somit zu den nicht gefangenen Hinterliegergrundstücken. Bei diesen reicht allein die Erkenntnis, deren Eigentümer hätten außer durch die Ortsstraße, an die sie direkt angrenzen, auch über das Anliegergrundstück eine (hinreichend gesicherte) Inanspruchnahmemöglichkeit der ausgebauten Einrichtung, für deren Teilnahme an der Verteilung des umlagefähigen Aufwands nicht aus. Vielmehr ist zusätzlich eine Bewertung der Inanspruchnahmemöglichkeit vorzunehmen. Dies ergibt sich aus folgendem: Das Straßenausbaubeitragsrecht ist auf einen Vorteilsausgleich ausgerichtet. Grundstücke sollen sich an diesem Vorteilsausgleich beteiligen, wenn und soweit ihnen durch die Inanspruchnahmemöglichkeit der ausgebauten Verkehrsanlage ein nennenswerter Vorteil zuwächst. Ist die gebotene Inanspruchnahmemöglichkeit für ein Hinterliegergrundstück objektiv wertlos, weil nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist, dass von diesem Grundstück aus die ausgebaute Einrichtung in einem relevanten Umfang in Anspruch genommen wird, hat dieses Grundstück aus der gebotenen Inanspruchnahmemöglichkeit keinen nennenswerten Vorteil und scheidet deshalb aus dem Kreis der bei der Aufwandsverteilung zu berücksichtigenden Grundstücke aus (vgl. BayVGH vom 29.4.2009, a.a.O., <RdNr. 8>; Driehaus, Kommunalabgabenrecht, Stand September 2009, RdNr. 401 j zu § 8 mit Nachweisen der Rechtsprechung).

Ein nicht gefangenes Hinterliegergrundstück hat bei der Verteilung des umlagefähigen Aufwands unberücksichtigt zu bleiben, wenn es z.B. aufgrund planungsrechtlicher, sonstiger rechtlicher oder tatsächlicher Umstände eindeutig erkennbar auf die Einrichtung ausgerichtet ist, an die es angrenzt, d.h. wenn es an irgendwelchen Anhaltspunkten fehlt, die den Schluss erlauben, die abzurechnende Straße werde über das Anliegergrundstück vom Hinterliegergrundstück aus ungeachtet dessen direkter Anbindung an seine „eigene" Einrichtung in nennenswertem Umfang in Anspruch genommen werden (vgl. BayVGH a.a.O.; Driehaus, a.a.O., RdNr. 401 k zu § 8). Als solcher Anhaltspunkt kommt, nachdem im vorliegenden Fall planungsrechtliche oder sonstige rechtliche Gesichtspunkte nicht erkennbar sind, eine tatsächlich angelegte Zufahrt oder eine Zugangsmöglichkeit zu der abgerechneten Einrichtung in Betracht.

Wie der Senat beim Augenschein festgestellt hat, besteht vom Hinterliegergrundstück Fl.Nr. A/3 über das Anliegergrundstück Fl.Nr. A weder eine Zufahrt noch eine Zugangsmöglichkeit zur abgerechneten S. Straße. Das Grundstück FI.Nr. A/3 ist allein zur Straße B. hin orientiert, zu der die Hauseingangstür, ein Einfahrtstor sowie ein Garagentor hinaus führen. Der Überbau vom Grundstück FI.Nr. A/3 auf das Grundstück FI.Nr. A, die darin befindliche Tür sowie die Möglichkeit, das Flachdach des Überbaus zu betreten, ändern nichts an der fehlenden Inanspruchnahmemöglichkeit der S. Straße vom Hinterliegergrundstück aus über das Anliegergrundstück.

Aus diesem Grund scheidet das Grundstück FI.Nr. A/3 aus dem Kreis der bei der Aufwandsverteilung der erneuerten S. Straße zu berücksichtigenden Grundstücke aus.

Die Beklagte hat gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war notwendig (§ 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO). Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.

Beschluss

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 2.149,43 Euro festgesetzt (§ 47 Abs. 1, § 52 Abs. 3 GKG).