Bayerischer VGH, Beschluss vom 23.04.2009 - 12 CE 09.686
Fundstelle
openJur 2012, 99578
  • Rkr:
Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes darüber, ob der Antragsteller vom Antragsgegner Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten für eine Schulbegleitung zum Besuch eines Sozialpädagogischen Förderzentrums oder einer Schule für Lernförderung beanspruchen kann.

Der am ... geborene Antragsteller lebt seit dem 30. Juni 2000 bei Pflegeeltern in Raubling. Ausweislich eines ärztlich-psychologischen Berichts der Heckscher-Klinikum gGmbH vom 8. Juli 2008 besteht für den Antragsteller folgende Diagnose (nach ICD 10):

„Achse I:   Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters (F94.1)Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0)Anpassungsstörung mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten (F43.25)Achse II:Rezeptive Sprachstörung (F80.2)Achse III:Unterdurchschnittliche IntelligenzAchse IV:Keine körperliche SymptomatikAchse V:Psychosoziale Belastungsfaktoren (2.0, 5.1)Achse VI:Ernsthafte und durchgängige soziale Beeinträchtigung“Mit Bescheid vom 2. Oktober 2008 lehnte der Antragsgegner einen Antrag des Antragstellers ab, der auf Kostenübernahme für eine Schulbegleitung im Rahmen der Eingliederungshilfe gerichtet war. Über den Widerspruch des Antragstellers hat die Regierung von Oberbayern bislang nicht entschieden.

Mit Beschluss vom 23. Februar 2009 hat das Verwaltungsgericht München den Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller Jugendhilfe in der Form der Übernahme der Kosten für einen Schulbegleiter zum Besuch eines Sozialpädagogischen Förderzentrums oder einer Schule für Lernförderung vorläufig bis längstens zum Ende des Schuljahres 2008/2009 zu gewähren. Der Senat macht sich die tatsächlichen Feststellungen in Nr. I. dieses Beschlusses zu eigen und nimmt darauf Bezug (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

2. Der Antragsgegner hat Beschwerde erhoben und trägt im Wesentlichen vor:

In erster Linie habe die Förderschule den sonderpädagogischen Bedarf ihrer Schüler zu decken und die dafür erforderlichen Voraussetzungen bereitzustellen. Ohne vorherige Feststellung eines entsprechenden Bedarfs durch die Schulaufsichtsbehörde bestehe kein Anspruch auf Bestellung eines Schulbegleiters.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 23. Februar 2009 abzulehnen.

Der Antragsteller und die Landesanwaltschaft Bayern als Vertreter des öffentlichen Interesses haben sich zur Beschwerde des Antragsgegners nicht geäußert.

3. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakten verweisen.

II.

1. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 23. Februar 2009 ist statthaft (§ 146 Abs. 1 VwGO) und auch im Übrigen zulässig (§ 146 Abs. 4, § 147 VwGO).

Die Beschwerde ist jedoch unbegründet, weil das Verwaltungsgericht den Antragsgegner zu Recht im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet hat, dem Antragsteller vorläufig Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten für eine Schulbegleitung zum Besuch eines Sozialpädagogischen Förderzentrums oder einer Schule für Lernförderung zu gewähren.

Der Senat verweist zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 122 Abs. 3 Satz 3 VwGO auf die zutreffenden Gründe im angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 23. Februar 2009. Die im Beschwerdeverfahren dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, sind nicht geeignet, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts substantiiert in Frage zu stellen.

Der Antragsgegner meint, ohne vorherige Feststellung eines entsprechenden Bedarfs durch die Schulaufsichtsbehörde bestehe kein Anspruch auf Bestellung eines Schulbegleiters, weil in erster Linie die Förderschule den sonderpädagogischen Bedarf ihrer Schüler zu decken und die dafür erforderlichen Voraussetzungen bereitzustellen habe. Das greift nicht durch.

Der Nachranggrundsatz (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VIII), auf den der Einwand des Antragsgegners abhebt, steht der Bewilligung der vom Antragsteller begehrten Eingliederungshilfe nicht entgegen. Insoweit ist der Träger der Förderschule im konkreten Fall nicht vorrangig eintrittspflichtig, weil das Bayerische Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000 (GVBl S. 214, berichtigt S. 632), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Juli 2008 (GVBl S. 467), lediglich einen Anspruch auf sonderpädagogische Förderung gibt und sich die Aufgabe des Schulträgers darauf beschränkt, die für die sonderpädagogische Förderung erforderlichen qualifizierten Lehrpersonen bereitzustellen.

Nach Art. 19 Abs. 1 BayEUG ist es die Aufgabe der Förderschulen, Kinder und Jugendliche, die der sonderpädagogischer Förderung bedürfen und deswegen an einer allgemeinen oder beruflichen Schule nicht oder nicht ausreichend gefördert und unterrichtet werden können, zu diagnostizieren, zu erziehen, zu unterrichten, zu beraten und zu fördern. Die Förderschulen erfüllen den sonderpädagogischen Förderbedarf, indem sie unter Berücksichtigung der Behinderung oder der Krankheit eine den Anlagen der individuellen Eigenart der Kinder und Jugendlichen gemäße Bildung und Erziehung vermitteln (Art. 19 Abs. 3 Satz 1 BayEUG). Bei der Abgrenzung der "Aufgaben" nach Art. 19 Abs. 3 BayEUG von der Individualhilfe geht es um die Frage, was der Bereich "Schule" leisten kann und muss und was demgegenüber Hilfe zu den Verrichtungen des täglichen Lebens eines behinderten Kindes- oder Jugendlichen bedeutet. Die Individualhilfe ist nicht in der Lage, gleichzeitig auch anderen Kindern regelmäßige Hilfe zu leisten, weil sie durch die ständige Aufmerksamkeit für das eine anvertraute Kind gebunden ist. Der Schulträger hat die Personal- und Sachkosten zu tragen, die zur Erfüllung der Schulpflicht in einer Förderschule angemessen und üblich sind, nämlich hierzu qualifiziertes Lehrpersonal und die besonderen, der Eigenart ihrer jeweiligen Schüler entsprechenden und ihren Schulungs- und Erziehungsauftrag gerecht werdenden Förderinstrumentarien und gegebenenfalls - vor allem in Schulen mit Körperbehinderten - Hilfskräfte zu ergänzenden praktischen Hilfestellungen für die am Unterricht teilnehmenden Schüler zu stellen. Die Lehrer führen den in Art. 19 BayEUG normierten Unterrichts- und Erziehungsauftrag aus und tragen im Rahmen der dort niedergelegten Aufgaben die unmittelbare pädagogische Verantwortung für die Erziehung und Bildung der Schüler. Die alle Schüler umfassende pädagogische Arbeit, die durch das Lehrpersonal gesichert wird, ist zu unterscheiden von den Dienstleistungen und Maßnahmen, die im Einzelfall erforderlich sind, damit der betreffende Schüler das pädagogische Angebot überhaupt wahrnehmen kann. Derartige, den jeweiligen Einzelfall betreffende Maßnahmen unterfallen typischerweise den Kosten einer angemessenen Schulbildung im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII, auf den § 35a Abs. 3 SGB VIII verweist (vgl. Senatsbeschluss vom 25.10.2001 Az. 12 CE 01.1734 und Urteil des Senats vom 6.7.2005 FEVS 57, S. 138/139). Davon ist auch im Falle des Antragstellers auszugehen.

Die vom Antragsteller begehrte Förderleistung soll nicht den üblicherweise und allgemein durch Behinderungen bedingten Betreuungsaufwand in einer Förderschule decken, der durch Hilfskräfte - soweit an der Schule vorhanden - in der Regel für mehrere Behinderte gleichzeitig erbracht wird. Es handelt sich vielmehr um eine Individualförderung, die erforderlich und geeignet ist, dem beim Antragsteller vorhandenen Integrationsrisiko entgegenzuwirken. Das ergibt sich nach der im Eilverfahren gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung insbesondere aus der Hilfeplan-Fortschreibung Nr. 7 vom 4. Juli 2008, aus der Stellungnahme des Psychologischen Fachdienstes des Antragsgegners vom 27. Dezember 2008 und den ärztlich-psychologischen Berichten von Fachärztinnen für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Heckscher-Klinikum gGmbH vom 8. Juli 2008 und vom 28. Januar 2009.

Die Situationsbeschreibung der Hilfeplan-Fortschreibung Nr. 7 enthält unter anderem die Feststellung, dass der (zum damaligen Zeitpunkt achtjährige) Antragsteller nach verstärktem unkontrolliert aggressivem Verhalten bis Ende des Schuljahres von der Schule ausgeschlossen worden sei. Der Antragsteller habe Schulregeln nicht eingehalten, auf Erwachsene eingeschlagen und die Leistung verweigert. In völlig hilflosen Situationen sei der Antragsteller bis zu 40 Minuten weinend dagesessen, ohne dass er hätte beruhigt werden können. Die Hilfeplanfortschreibung enthält die Vereinbarung, die Unterzeichnende werde die Möglichkeit einer Schulbegleitung durch die Jugendhilfe abklären. Frau M. S., Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Heckscher Klinikum gGmbH kommt in ihrem ärztlich-psychologischem Bericht vom 8. Juli 2008 zusammenfassend unter anderem zu der Beurteilung, eine Schulbegleitung erscheine aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht unumgänglich, um das aggressive Verhalten des Antragstellers frühzeitig zu begrenzen und ihn besser in die Gruppe zu integrieren. Der Psychologische Fachdienst des Antragsgegners führt in seiner Stellungnahme vom 27. Dezember 2008 aus: „Anhand der bisher vorliegenden Stellungnahmen der Heckscher-Klinik und des Förderzentrums Brannenburg sowie aufgrund der persönlich geführten Gespräche komme ich zu der fachlichen Einschätzung, dass eine Schulbegleitung derzeit für Michael Maste die geeignete und notwendige Maßnahme ist, um dem eindeutig vorhandenen Integrationsrisiko des Jungen entgegenzuwirken.“ Schließlich stellt Frau C. W., Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Heckscher-Klinikum gGmbH in der ärztlich-psychologischen Stellungnahme vom 28. Januar 2009 fest, Alternative zu einer Schulbegleitung wäre die Fremdunterbringung in einer vollstationären Einrichtung. Diese sollte jedoch wegen der für den Antragsteller bestehenden Diagnose einer reaktiven Bindungsstörung nicht in Erwägung gezogen werden, weil sie höchstwahrscheinlich zu einer Zunahme der Verhaltensauffälligkeiten führen würde.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.

3. Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 152 Abs. 1, § 158 Abs. 1 VwGO).