OLG Oldenburg, Beschluss vom 17.07.2012 - 2 SsBs 107/12
Fundstelle
openJur 2012, 88049
  • Rkr:
Tenor

Die Sache wird gemäß § 121 Abs. 2 GVG - analog - dem Bundesgerichtshof zur Beantwortung folgender Frage vorgelegt:

Ist ein nachträgliches Absetzen der Urteilsgründe innerhalb der in § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO vorgesehenen Frist in Bußgeldsachen zulässig, wenn der zu einer zweihundertfünfzig Euro übersteigenden Geldbuße verurteilte Betroffene von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen entbunden war und in der Hauptverhandlung durch einen Verteidiger vertreten wurde, die Staatsanwaltschaft nicht an der Hauptverhandlung teilgenommen hat und dieser zunächst ein durch den Richter unterzeichnetes Hauptverhandlungsprotokoll, welches alle für den Urteilskopf nach § 275 Abs. 3 StPO erforderlichen Angaben enthält, nebst eines ebenfalls durch den Richter unterzeichneten, als Anlage zum Protokoll genommenen Urteilsformulars, welches den vollständigen Tenor sowie die Auflistung der angewandten Vorschriften enthält, auf Veranlassung des Tatrichters mit der Bitte um Kenntnisnahme vom Protokoll der Hauptverhandlung sowie der Anfrage, ob auf Rechtsmittel und Begründung des Urteils verzichtet werde, zugeleitet und nachfolgend seitens des Betroffenen Rechtsbeschwerde eingelegt worden ist?

Gründe

I.

Das Amtsgericht Papenburg hat gegen den Betroffenen wegen Führens eines Kraftfahrzeuges unter Einfluss von Alkohol mit einer Blutalkoholkonzentration von 0,5 Promille oder mehr eine Geldbuße von 500,-- Euro festgesetzt sowie ihm für die Dauer eines Monats verboten, Kraftfahrzeuge jeder Art im Straßenverkehr zu führen.

Die Staatsanwaltschaft Osnabrück, die eine Begründung des Urteils lediglich für den Fall, dass nicht auf ein Fahrverbot erkannt werde, beantragt hatte, hat an dem Termin zur Hauptverhandlung nicht teilgenommen. Der Betroffene wurde von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden und in der Hauptverhandlung durch einen Verteidiger vertreten.

Mit Verfügung vom 02.03.2012 leitete die Amtsrichterin die Akten der Staatsanwaltschaft Osnabrück mit der Bitte um Kenntnisnahme vom Protokoll der Hauptverhandlung und der Anfrage, ob auf Rechtsmittel und Begründung des Urteils verzichtet werde, zu. Zu diesem Zeitpunkt befand sich in den Akten ein durch die Richterin unterzeichnetes Hauptverhandlungsprotokoll mit vollständigem Urteilskopf. Zu diesem war als Anlage ein Urteilsformular genommen worden, welches den vollständigen Urteilstenor nebst angewandter Vorschriften enthielt und ebenfalls durch die Richterin unterzeichnet worden war. Die Staatsanwaltschaft sandte die Akten ausweislich eines Stempelvermerks nach „Kenntnisnahme und Zustellung“ mit Rechtsmittelverzicht am 08.03.2012 zurück. Am selben Tage legte der Betroffene per Telefax Rechtsbeschwerde gegen das Urteil ein. Die Akten gingen am 12.03.2012 wieder beim Amtsgericht ein.

In der Folgezeit fertigte die Amtsrichterin ein mit Gründen versehenes Urteil, welches am 04.04.2012 zur Geschäftsstelle gelangte. Nach den Feststellungen dieses Urteils befuhr der Betroffene am 29.05.2011 gegen 2.43 Uhr mit einem Pkw VW, amtliches Kennzeichen ……………, die Hauptstraße in W……………, obwohl er vor Antritt der Fahrt, wie er wusste, Alkohol konsumiert hatte und deshalb, womit er hätte rechnen müssen, infolge des vorangegangenen Alkoholkonsums 0,95 Promille im Blut hatte.

Am 04.04.2012 verfügte das Amtsgericht die Übersendung der nunmehr um das mit Gründen versehene Urteil ergänzten Akten an die Staatsanwaltschaft gemäß § 41 StPO. Die Staatsanwaltschaft sandte die Akten erneut nach Kenntnisnahme und Zustellung zurück.

Dem Verteidiger des Betroffenen wurde das Urteil am 10.04.2012 zugestellt. Mit am 08.05.2012 beim Amtsgericht Papenburg eingegangenem Schriftsatz begründete der Betroffene durch seinen Verteidiger die Rechtsbeschwerde und beschränkte diese auf den Rechtsfolgenausspruch. Er rügte die Verletzung materiellen Rechts und beantragte, das Urteil des Amtsgerichts Papenburg im Rechtsfolgenausspruch zu ändern und festzustellen, dass das Fahrverbot durch die Zeit der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis bereits abgegolten sei.

Die Generalstaatsanwaltschaft Oldenburg hat die Akten auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gemäß § 347 Abs. 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.

Sie vertritt die Auffassung, das Nachschieben der Gründe stelle sich als unzulässig dar.

II.

Der Senat beabsichtigt, das nachträglich mit Gründen versehene Urteil seiner auf die Sachrüge hin vorzunehmenden Prüfung zugrunde zu legen und hierauf aufbauend lediglich den Rechtsfolgenausspruch einer inhaltlichen Prüfung zu unterziehen.

Dieses Urteil enthält ausreichende Feststellungen zu der dem Betroffenen angelasteten Ordnungswidrigkeit und ermöglicht deshalb eine vom Schuldspruch losgelöste rechtliche und tatsächliche Überprüfung des Rechtsfolgenausspruches, ohne die Prüfung des übrigen Urteilsinhaltes erforderlich erscheinen zu lassen. Die Beschränkung der Rechtsbeschwerde würde sich mithin als zulässig darstellen. An der beabsichtigten Vorgehensweise sieht sich der Senat jedoch durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 10.11.2011 - Aktenzeichen: 3 Ss OWi 1444/11 - gehindert.

Im besagtem Beschluss hat das Oberlandesgericht Bamberg entschieden, dass die nachträgliche Fertigung schriftlicher Urteilsgründe in Bußgeldverfahren auch vor Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO unzulässig sei, wenn das nicht mit Gründen versehene Urteil bereits aus dem inneren Dienstbereich des Gerichts herausgegeben worden ist, sofern nicht eine gesetzlich geregelte Ausnahme vorliege. Wenn das ohne Gründe in das Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommene oder diesem als Anlage beigegebene bzw. nachgeheftete Urteil zur Herbeiführung einer Rechtsmittelerklärung der Staatsanwaltschaft auf gerichtliche Anordnung der Staatsanwaltschaft bekanntgegeben werde, liege eine die nachträgliche Fertigung von Urteilsgründen sperrende Hinausgabe eines sog. Protokollurteils vor.

Auf der Grundlage dieser Rechtsauffassung wäre vorliegend das als Anlage zum Protokoll genommene, nicht mit Gründen versehene Urteil der auf die Sachrüge hin vorzunehmenden Prüfung zugrunde zu legen.

Das Protokoll ist auf Anordnung der Amtsrichterin der Staatsanwaltschaft mit den Akten zur Herbeiführung einer Rechtsmittelerklärung bekanntgegeben worden. Die einzige in Betracht kommende gesetzliche Regelung, welche vorliegend eine nachträgliche Fertigung schriftlicher Urteilsgründe zulassen könnte, ist § 77b OWiG. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind jedoch nicht gegeben, da § 77b Abs. 2 OWiG ein Nachschieben der Gründe für den Fall, dass der Betroffene Rechtsbeschwerde einlegt, nur gestattet, wenn die Voraussetzungen des § 77b Abs. 1 Satz 3 OWiG vorliegen. Dies wiederum setzt nicht nur voraus, dass der Betroffene von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden und im Verlaufe der Hauptverhandlung von einem Verteidiger vertreten worden ist, sondern darüber hinaus, dass im Urteil lediglich eine Geldbuße von nicht mehr als 250,-- Euro festgesetzt worden ist. An der zuletzt genannten Voraussetzung mangelt es vorliegend.

Da die Prüfung, welche der vorliegenden Urteilsversionen zugrunde zu legen ist, nicht von der Erhebung einer Verfahrensrüge abhängig ist, sondern bereits auf die Sachrüge hin zu erfolgen hat, wäre allein das Protokollurteil zugrunde zu legen. Dieses enthält keine Feststellungen zum Schuldspruch, so dass es an einer Grundlage für eine auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Prüfung mangelt. Die Beschränkung der Rechtsbeschwerde auf den Rechtsfolgenausspruch erwiese sich mithin als unzulässig, das Urteil unterläge zwangsläufig insgesamt der Aufhebung (vgl. BGHSt 43, 22; OLG Oldenburg 2 SsBs 80/12; Brandenburgisches Oberlandesgericht VRS 122, 151 f). Die Klärung der Frage, ob eine nachträgliche Fertigung der schriftlichen Urteilsgründe zulässig war, erweist sich mithin unabhängig davon als entscheidungserheblich, ob sich die Rechtsbeschwerde im Falle einer zulässigen Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch als begründet oder unbegründet darstellt.

Es entspricht allgemeiner Auffassung, der sich auch der Senat angeschlossen hat, dass ein im Sinne der §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG, 275 Abs. 1 Satz 1 StPO vollständig in das Sitzungsprotokoll aufgenommenes oder diesem als Anlage beigefügtes Urteil unbeschadet der in § 77b Abs. 2 OWiG geregelten Ausnahmen nicht mehr verändert werden darf, sobald es dadurch auf Anordnung des Gerichtes aus dessen innerem Dienstbereich herausgegeben worden ist, dass es der Staatsanwaltschaft zum Zwecke der Zustellung gemäß § 41 StPO übersandt wurde (vgl. OLG Oldenburg NZV 2012, 352; Brandenburgisches Oberlandesgericht, VRS 122, 151; OLG Celle, VRS 122, 137 f; OLG Bamberg, ZfSch 2009, 175; OLG Rostock, Beschluss vom 06.10.2004, Aktenzeichen: 2 Ss (OWi) 259/04 / 174/04, zitiert nach juris). Das Oberlandesgericht Bamberg hat in seiner Entscheidung vom 10.11.2011 darüber hinausgehend die Auffassung vertreten, auch in dem Falle, in welchem der Amtsrichter das in das Protokoll aufgenommene Urteil lediglich zur Kenntnisnahme oder gar ausdrücklich unter Verwahrung gegen eine Zustellungsabsicht der Staatsanwaltschaft zuleite, sei ein Urteil aus dem inneren Dienstbereich des Gerichts in einer Weise herausgegeben worden, welche eine nachträgliche Ergänzung hindere. Der Tatrichter habe sich bewusst für die Hinausgabe eines Urteils in einer nicht mit Gründen versehenen Fassung entschieden, um dadurch eine beschleunigte Stellungnahme zur Frage der Rechtsmitteleinlegung herbeizuführen. Damit habe ein schriftliches Urteil ohne Gründe den inneren Dienstbereich des Gerichts verlassen und sei mit der Bekanntgabe an die Staatsanwaltschaft nach außen hin in Erscheinung getreten.

Dieser Auffassung vermag sich der Senat nicht anzuschließen.

Allerdings ist die Ergänzung eines Urteils in Bußgeldverfahren ebenso wie in Strafverfahren auch innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht zulässig, wenn es bereits aus dem inneren Dienstbereich herausgegeben worden ist (vgl. BGHSt 43, 22 m.w.N.). Dies setzt jedoch voraus, dass es sich bei dem aus dem Dienstbereich herausgegebenen Schriftstück um ein „Urteil“ in diesem Sinne handelt. Nach Auffassung des Senats ist dies in Fällen wie dem vorliegenden nicht gegeben. Sowohl im Strafverfahren als auch in Bußgeldverfahren ist dem Gericht die Möglichkeit eröffnet, das Urteil entweder schriftlich zu den Akten zu geben oder es in das Sitzungsprotokoll aufzunehmen. Im Strafverfahren erfordert dies gemäß § 275 Abs. 1 StPO zwingend die Aufnahme der vollständigen Urteilsgründe in das Sitzungsprotokoll. In gleicher Weise kann gemäß § 71 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 275 Abs. 1 StPO im Bußgeldverfahren vorgegangen werden. Hier besteht weitergehend aber auch die Möglichkeit, von der Fertigung von Urteilsgründen unter den Voraussetzungen des § 77b OWiG gänzlich abzusehen, so dass sich das Urteil in Rubrum, Tenor und Angabe der angewandten Vorschriften erschöpft. Diese Angaben sind gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 OWiG i.V.m. den §§ 272, 273 StPO aber unabhängig davon, ob ein abgekürztes oder ein mit Gründen versehenes Urteil gefertigt werden soll, in das Hauptverhandlungsprotokoll aufzunehmen. Dieses muss u. a. den Ort und Tag der Verhandlung, die Namen der Richter und Schöffen, des Beamten der Staatsanwaltschaft, des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, die Bezeichnung der Straftat, die Namen des Betroffenen, des Verteidigers und die Urteilsformel enthalten. Während sich im Strafverfahren mit Rücksicht darauf, dass in diesem Falle die Gründe in das Sitzungsprotokoll aufgenommen werden müssen, bereits aus diesem ergibt, ob das Gericht ein sog. „Protokollurteil“ fertigen wollte oder beabsichtigte, das Urteil im Nachhinein schriftlich niederzulegen, findet eine entsprechende Entscheidung des Richters in Bußgeldsachen aufgrund der geschilderten Besonderheiten nicht zwingend Niederschlag im Protokoll. Ebenso wie es im Strafverfahren im Ermessen des Vorsitzenden steht, zu entscheiden, ob das Urteil in das Protokoll aufgenommen oder schriftlich zu den Akten gegeben werden soll (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 275 Rz. 1; KK-Engelhardt, StPO, 3. Aufl., § 275 Rz. 3; LR-Gollwitzer, StPO, 25. Aufl., § 275 Rz. 20) bedarf es auch im Bußgeldverfahren einer Ermessensentscheidung des Bußgeldrichters. Obwohl jedes Hauptverhandlungsprotokoll zwingend die erforderlichen Bestandteile eines der Gründe entkleideten Urteils enthält, stellt sich dieses erst dann nicht mehr nur als Verhandlungsprotokoll, sondern darüber hinaus als Urteil dar, wenn der Tatrichter die Entscheidung getroffen hat, es hierbei zu belassen und von einer schriftlichen Begründung abzusehen. Eine derartige Entscheidung hat der Richter erkennbar zum Ausdruck gebracht, wenn er die Akten gemäß § 41 StPO zum Zwecke der Zustellung der Staatsanwaltschaft zuleitet (vgl. OLG Celle VRS 75, 461). Hat der Tatrichter demgegenüber eine Übersendung lediglich zum Zwecke der Kenntnisnahme vorgenommen oder sogar ausdrücklich klargestellt, dass eine Zustellung nicht beabsichtigt ist, so ist hiermit keiner entsprechenden Entscheidung Ausdruck verliehen worden. Vielmehr behält sich das Gericht erkennbar weiterhin vor, ein schriftliches Urteil abzusetzen, was ihm grundsätzlich innerhalb der Absetzungsfrist gestattet ist. Aus diesem Grunde stellt sich nach Auffassung des Senats die Übersendung vorliegend lediglich als eine solche des Hauptverhandlungsprotokolls, nicht jedoch als eine solche eines Urteils dar, welche eine Sperrwirkung für die nachträgliche Fertigung von Urteilsgründen entfalten würde.