VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 29.09.2011 - 6z L 942/11
Fundstelle
openJur 2012, 82118
  • Rkr:

1. Nach der Rechtsprechung des BVerfG hat jeder hochschulreife Bewerber um einen Studienplatz das verfassungskräftige Recht auf eine Auswahlentscheidung, die ihm zumindest eine Chance auf Verwirklichung seines Studienwunsches belässt.

2. Soweit diese Chance für eine wesentliche Gruppe der Bewerber (allein) durch Einräumung einer Wartezeitquote gewährt wird, darf die für eine Zulassung zum Studium erforderliche Wartezeit die Grenze des Zumutbaren nicht überschreiten; diese Grenze ist zum Wintersemester 2011/2012 überschritten worden.

3. Aus den vorgenannten Umständen folgt nicht nur die objektive (teilweise) Verfassungswidrigkeit des derzeitigen Auswahlsystems, sondern auch ein individueller Zulassungsanspruch des Antragstellers.

4. Dieser Zulassungsanspruch kann auch im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig durchgesetzt werden; das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts steht dem nicht entgegen.

Tenor

Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, den Antragsteller zum Wintersemester 2011/2012 vorläufig zum Studium der Humanmedizin zuzulassen. Dabei hat die Zulassung an der Medizinischen Hochschule I. zu erfolgen. Sollten an dieser Universität - auch in der für das Auswahlverfahren der Hochschulen vorgesehenen Quote - keine freien Studienplätze mehr vorhanden sein, kann die Zulassung an einer anderen, vom Antragsteller in Bezug auf die Wartezeitquote genannten Hochschule erfolgen. Unter den Hochschulen, die noch zumindest einen freien Studienplatz zu vergeben haben, ist dabei diejenige zu wählen, welche der Antragsteller in seinem Zulassungsantrag mit der höchsten Ortspräferenz versehen hat. Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin; die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt die Zulassung zum Studium der Humanmedizin. Die Studienplätze dieses Studiengangs werden im zentralen Vergabeverfahren vergeben. Dabei kann das Studium an allen medizinischen Fakultäten in Deutschland zum Wintersemester, an neun medizinischen Fakultäten auch zum Sommersemester aufgenommen werden. Die Regelstudienzeit im Sinne von § 10 Abs. 2 Hochschulrahmengesetz beträgt für das Studium der Humanmedizin nach § 1 Abs. 2 der Approbationsordnung für Ärzte sechs Jahre und 3 Monate.

Der Antragsteller erlangte im Juni 2004 die allgemeine Hochschulreife mit der Gesamtnote 3,5. Danach absolvierte er die Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger. Zum Wintersemester 2011/2012 bewarb er sich erneut und fristgerecht auch in der Auswahl in der Wartezeitquote um einen Studienplatz der Humanmedizin. Dabei erklärte er sich mit einer Zulassung an jeder der den Studiengang Humanmedizin anbietenden Hochschulen einverstanden.

Diesen Antrag lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 12. August 2011 ab und führte zur Begründung aus, der Antragsteller sei in der Wartezeitquote mit einer Wartezeit von zwölf Halbjahren am Auswahlverfahren beteiligt worden. Er habe jedoch nicht ausgewählt werden können. Die Auswahlgrenze bei der Wartezeitauswahl habe bei zwölf Halbjahren gelegen. Unter den Bewerbern mit dieser Anzahl an Wartehalbjahren hätten jedoch nur diejenigen ausgewählt werden können, die eine Abiturnote von mindestens 2,7 aufwiesen.

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Antragsteller mit dem vorliegenden, am 8. September 2011 eingegangenen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, zu dessen Begründung er im Wesentlichen die Verfassungswidrigkeit des derzeitigen Auswahlsystems geltend macht.

II.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist, dass ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund im Sinne von § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht worden sind. Dies ist hier geschehen.

Ein Anordnungsanspruch ergibt sich allerdings nicht ohne Weiteres aus den einfachgesetzlichen Vorschriften des Hochschulzulassungsrechts: Die Studienplätze in dem begehrten Studiengang werden gemäß § 1 S. 2 in Verbindung mit Anlage 1 der Verordnung über die zentrale Vergabe von Studienplätzen (VergabeVO) in einem zentralen Vergabeverfahren nach Maßgabe der §§ 6 ff. VergabeVO vergeben. Dabei werden die Studienplätze, soweit die Antragsgegnerin für ihre Verteilung (originär) zuständig ist, im Wesentlichen nach der Rangfolge der von den Studienbewerbern erzielten Abiturdurchschnittsnoten (§ 11 VergabeVO) und der von ihnen erreichten Wartezeit (§ 14 VergabeVO) vergeben. Der Antragsteller hat keine Auswahl in der Abiturbestenquote zum Wintersemester 2011/2012 beantragt. In der Wartezeitquote erreichte er mit der von ihm bislang angesammelten Wartezeit (zwölf Halbjahre) zwar grundsätzlich die Auswahlgrenze von zwölf Wartehalbjahren. Unter den Bewerbern mit zwölf Wartehalbjahren ergab sich indes beim nachrangigen Auswahlkriterium Abiturnote (§ 18 Abs. 1 S. 2 VergabeVO) eine Auswahlgrenze von 2,7, an welcher der Antragsteller gescheitert ist.

Die Kammer ist jedoch bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Betrachtung der Óberzeugung, dass sich bei Einbeziehung der für die Zulassung zum Studium geltenden verfassungsrechtlichen Vorgaben ein Zulassungsanspruch des Antragstellers ergibt. Ob dieser unmittelbar aus dem Grundgesetz unter Verwerfung der entgegenstehenden hochschulzulassungsrechtlichen Regelungen folgt oder eine verfassungskonforme Auslegung dieser Regelungen möglich ist, braucht für das Eilverfahren nicht entschieden zu werden.

Nach der insoweit maßgeblichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat jeder hochschulreife Bewerber um einen Studienplatz das Recht auf eine Auswahlentscheidung, die ihm zumindest eine Chance auf Verwirklichung seines Studienwunsches belässt (dazu nachfolgend unter 1.). Soweit diese Chance für eine wesentliche Gruppe der Bewerber (allein) durch Einräumung einer Wartezeitquote gewährt wird, darf die für eine Zulassung zum Studium erforderliche Wartezeit die Grenze des Zumutbaren nicht überschreiten; diese Grenze ist zum Wintersemester 2011/2012 überschritten worden (dazu nachfolgend unter 2.). Aus den vorgenannten Umständen folgt nicht nur die objektive (teilweise) Verfassungswidrigkeit des derzeitigen Auswahlsystems, sondern ein individueller Zulassungsanspruch des Antragstellers (dazu nachfolgend unter 3.). Dass das verfassungsrechtlich gebotene Ergebnis durch eine verfassungskonforme Auslegung des geltenden Hochschulzulassungsrechts hergestellt werden kann, erscheint nicht undenkbar; die Frage braucht jedoch nicht entschieden zu werden (dazu nachfolgend 4.). Schließlich besteht auch ein Anordnungsgrund, und der Zulassungsanspruch kann auch im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig durchgesetzt werden; das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts steht dem nicht entgegen (dazu nachfolgend unter 5.).

1.

Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Beurteilung von Auswahlregelungen für zulassungsbeschränkte Studiengänge hat das Bundesverfassungsgericht folgende Grundsätze entwickelt:

"Aus dem in Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) gewährleisteten Recht auf freie Wahl des Berufs und der Ausbildungsstätte in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip folgt ein verfassungsmäßig gewährleistetes Recht des die subjektiven Zulassungsvoraussetzungen erfüllenden ("hochschulreifen") Staatsbürgers auf Zulassung zum Hochschulstudium seiner Wahl. Dieses Recht steht unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann; es ist auf gesetzlicher Grundlage regelbar und - unter der Voraussetzung erschöpfender Nutzung aller Ausbildungskapazitäten, die verfassungsrechtlich vorrangig vor Maßnahmen der Bewerberauswahl ist - einschränkbar. Werden infolge eines Bewerberüberhanges Zulassungsbeschränkungen und eine Auswahl zwischen den Bewerbern unerlässlich, darf bei den notwendigen Regelungen und Entscheidungen nicht außer acht bleiben, dass jede Auswahl zwischen hochschulreifen Bewerbern eine Ungleichbehandlung prinzipiell Gleichberechtigter in der Verteilung von Lebenschancen darstellt und dass sich ein absoluter Numerus Clausus, der zum Ausschluss eines erheblichen Teils hochschulreifer Bewerber vom Studium ihrer Wahl führt, am Rande des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren bewegt. Bei Zulassungsbeschränkungen haben sich daher die Verantwortlichen in steter Orientierung am Gerechtigkeitsgedanken um eine auch für die Benachteiligten zumutbare Auswahl nach sachgerechten Kriterien mit einer Chance für jeden Zulassungsberechtigten zu bemühen."

So BVerfG, Urteil vom 8. Februar 1977 - 1 BvF 1/76 u. a. -, BVerfGE 43, 291, 313 f. ("Numerus Clausus II"); grundlegend auch BVerfG, Urteil vom 18. Juli 1972 - 1 BvL 32/70 u. a. -, BVerfGE 33, 303 ff. ("Numerus Clausus I").

Zu der Frage, wann ein Auswahlsystem den vorgenannten verfassungskräftigen Anforderungen entspricht, hat das Bundesverfassungsgericht in der ersten Numerus-Clausus-Entscheidung (1972) ausgeführt:

"[Es wäre] jedenfalls bei der derzeitigen Regelung der Hochschulreife nicht gerechtfertigt, die Zulassung ausschließlich nach dem auf Abiturnoten fußenden Leistungsprinzip vorzunehmen. Dieses kann sich bei der Auswahlentscheidung chancenerhöhend auswirken, indem beispielsweise die Zulassungsquote nach dem Leistungsprinzip höher bemessen wird, als nach dem Jahrgangsprinzip [...]. Eine ausnahmslose Anwendung des Leistungsprinzips würde aber bei Erschöpfung der Gesamtkapazität chancenausschließend wirken, nämlich dazu führen, dass ein Teil der hochschulreifen Bewerber von vornherein und auf Dauer vom Studium ihrer Wahl ausgeschlossen bliebe. Ein solches Ergebnis, bei dem die Zulassung oder Ablehnung von einem auf mehrere Stellen hinter dem Komma berechneten und je nach Bewerberzahl und Ausbildungskapazität schwankenden Notendurchschnitt abhängen würde, bezeichnet die Westdeutsche Rektorenkonferenz [...] zu Recht als offensichtlich unsachlich."

So BVerfG, Urteil vom 18. Juli 1972 - 1 BvL 32/70 u. a. -, BVerfGE 33, 303 (350); vgl. zur Tauglichkeit der Abiturnote als alleinigen oder vorrangigen Auswahlkriteriums auch BVerfG, Beschluss vom 3. April 1974 - 1 BvR 282/73 -, BVerfGE 37, 104 ff. ("Bonus-Malus-Regelung").

In seinem Urteil vom 8. Februar 1977 ("Numerus Clausus II") hat das Bundesverfassungsgericht an diese Óberlegungen angeknüpft und festgestellt:

"Unter Anwendung der zuvor genannten Beurteilungsmaßstäbe hat das Bundesverfassungsgericht das bisherige Auswahlverfahren zwar gebilligt, aber von Anfang an betont, dass die Würdigung von den derzeitigen Gegebenheiten und dem Stand der jeweiligen Erfahrung abhänge [...]. Im Malus-Beschluss [...] wird ausdrücklich auf die vereinbarte Verpflichtung hingewiesen, die staatsvertragliche Regelung nach drei Jahren zu überprüfen, sofern nicht das Hochschulrahmengesetz ohnehin zur Neuregelung führe [...]. Inzwischen hat sich die tatsächliche Ausbildungssituation in einer Weise verschärft, die nicht mehr ohne Auswirkung auf die verfassungsrechtliche Beurteilung bleiben kann.

[...] Bei der Würdigung des gegenwärtigen Auswahlsystems wurde es als sachgerecht beurteilt, die Auswahl bevorzugt nach dem Grad der Eignung vorzunehmen. Als bislang praktisch unvermeidlich wurde es dabei bezeichnet, den Grad der Eignung nach der Durchschnittsnote des Schulabschlusses zu bestimmen. Doch wurde mit zunehmender Deutlichkeit auf die damit verbundenen Bedenken hingewiesen und demgemäß die Anwendung der derzeitigen Auswahlkriterien als "problematisch" gewertet [...]. Trotz dieser Bedenken war eine verfassungsrechtliche Billigung solange vertretbar, wie durch eine kumulative Anwendung des Leistungsprinzips und des Wartezeitprinzips die nachteiligen Auswirkungen verschiedener Auswahlkriterien einigermaßen ausgeglichen wurden und zudem die Zahl der zulassungsbeschränkten Studiengänge noch gering war. Denn bei einer Kumulation wirkt die notenabhängige Anwendung des Leistungsprinzips nicht chancenausschließend sondern lediglich chancenerhöhend in dem Sinne, dass von der Leistungsliste zwar die sofortige Zulassung ohne zeitliche Verzögerung abhängt, dass jedoch die zunächst abgewiesenen Bewerber über die Wartezeit eine Zulassungschance behalten. Diese Wirkung hat aber zur Bedingung, dass die Anforderungen an Durchschnittsnoten und Wartezeit ein erträgliches Maß nicht überschreiten; bei höheren Grenzwerten setzt das Funktionieren eines solchen Systems [...] zumindest eine Tendenz zum Abbau von Zulassungsbeschränkungen als vorübergehender Mangelerscheinung voraus, von der das Numerus Clausus-Urteil aufgrund der damaligen Angaben noch ausgehen konnte [...]. Unter diesen Voraussetzungen erfüllt ein solches System weitgehend die Forderung nach Chancenoffenheit, da es praktisch allen Bewerbern eine hohe Zulassungschance lässt. Demgemäß genügt bei vertretbaren Grenzwerten eine durch eine Härteklausel ergänzte Auswahl nach Durchschnittsnoten und Wartezeit nach wie vor den verfassungsrechtlichen Anforderungen, namentlich dann, wenn sie durch die in § 32 Abs. 3 HRG vorgesehenen Modifizierungen (Gewichtung von Leistungen, die über die Eignung besonderen Aufschluss geben; Gleichbehandlung geringfügig abweichender Qualifikationsgrade; rangverbessernde Berücksichtigung beruflicher Tätigkeiten und Ausbildungen) verbessert wird." [...]

So BVerfG, Urteil vom 8. Februar 1977 - 1 BvF 1/76 u. a. -, BVerfGE 43, 291 (317 ff.).

An diesen Grundsätzen, namentlich an dem zentralen Gedanken, dass aus verfassungsrechtlicher Sicht jeder "hochschulreife" Bewerber eine Chance auf Zulassung zum Hochschulstudium seiner Wahl haben muss, hält das Bundesverfassungsgericht auch in jüngeren Entscheidungen grundsätzlich fest, ohne dass in diesen Entscheidungen allerdings eine vertiefte Auseinandersetzung mit ihnen stattgefunden hätte.

Vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 18. Februar 2002 - 1 BvR 13/02 -, Juris, und vom 21. Juli 2005 - 1 BvR 584/05 -, Juris; siehe auch Reich, Hochschulrahmengesetz, Kommentar, 10. Aufl. 2007, § 32 Rdnr. 17; Lindner, in: Hartmer/ Detmer (Hrsg.), Hochschulrecht, 2. Aufl. 2010, Kapitel XI Rdnr. 105 (einschl. Fußn. 209) und 111; Bahro/Berlin, Das Hochschulzulassungsrecht in der BRD, 4. Aufl. 2003, Einleitung, S. 32, S. 37 ff. und Art. 14 StV Rdnr. 1; krit. Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. 2004, Rdnr. 834.

Aus den vorstehend wiedergegebenen Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts wird die Funktion der Wartezeitquote im Gesamtsystem deutlich: Sie ist aus Sicht des Verfassungsrechts als notwendiges Korrektiv zu den übrigen, am Leistungsprinzip orientierten Auswahl(haupt)quoten anzusehen. Allerdings unterscheidet sich das heutige Auswahlsystem von dem der siebziger Jahre. Während damals noch 60% der Studienplätze in den medizinischen Studiengängen allein nach der Abiturnote vergeben wurden, ist der Anteil heute geringer. Er liegt indes bei weit mehr als einem Fünftel. Zwar werden in der von der Antragsgegnerin verwalteten eigentlichen Abiturbestenquote nur noch 20% der Studienplätze vergeben. Bei der Betrachtung des Gesamtsystems sind jedoch die Studienplätze derjenigen Hochschulen hinzuzurechnen, die auch im Auswahlverfahren der Hochschulen allein nach der Abiturnote auswählen. Das sind z. B. im Studiengang Humanmedizin immerhin acht Hochschulen; die Auswahlgrenzen lagen hier im vergangenen Wintersemester je nach Hochschule zwischen 1,0 (N. ) und 1,5 (T. ). An einigen anderen Hochschulen ist die Möglichkeit, den Rangplatz durch weitere Kriterien zu verbessern, so gering, dass die Abiturdurchschnittsnote weiterhin nahezu das alleinige Zulassungskriterium darstellt (z. B. LMU München: maximale Verbesserung der Abiturnote: 0,1 - Auswahlgrenze im Wintersemester 2010/2011: 1,3).

Auch bei denjenigen Hochschulen, deren Auswahl im Auswahlverfahren der Hochschulen nach differenzierteren Kriterien erfolgt, stehen die Abiturnote und das dahinter stehende Leistungsprinzip jeweils stark im Vordergrund. Dies entspricht der gesetzlichen Forderung an die Hochschulen, dem Grad der Qualifikation bei der Ausgestaltung ihres Auswahlverfahrens "maßgeblichen Einfluss" zu geben (§ 32 Abs. 3 Satz 2 Hochschulrahmengesetz; Art. 10 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung vom 5. Juni 2008). Nach Einschätzung der Kammer führen die Auswahlkriterien in der Praxis dazu, dass auch im Auswahlverfahren der Hochschulen praktisch nur diejenigen zum Zuge kommen können, deren Abiturnote zumindest überdurchschnittlich gut ist. Im Jahre 2009 lag die durchschnittliche Abiturnote je nach Bundesland zwischen 2,3 und 2,65; rund die Hälfte aller erfolgreichen Abiturienten in Deutschland wies eine Abiturnote von 2,5 oder schlechter auf (Aufstellung des Sekretariats der KMK vom 6. Dezember 2010). Nach summarischer Einschätzung der Kammer, die im Hauptsacheverfahren zu überprüfen sein wird, ist die Möglichkeit, mit einer - gemessen an diesen Zahlen - unterdurchschnittlich guten Abiturnote einen Studienplatz in einem human-, veterinär- oder zahnmedizinischen Studiengang zu bekommen, auch in dieser Auswahlquote praktisch nicht gegeben.

Eine große Gruppe von potentiellen "hochschulreifen Bewerbern" - nämlich etwa die Hälfte aller Abiturienten - hat somit in den Hauptquoten "Abiturbestenquote" und "Auswahlverfahren der Hochschulen" keine Chance auf Zulassung zum Studium. Folglich stellt sich das vom Bundesverfassungsgericht herausgestellte Problem einer Ungleichbehandlung grundsätzlich gleichberechtigter, nämlich hochschulreifer Bewerber, die vor allem dann, wenn der Unterschied sich auf wenige Zehntelpunkte bei der Abiturnote beschränkt, nicht ohne Weiteres mit sachlichen Gründen von hinreichender Tragfähigkeit gerechtfertigt werden kann. Damit dürfte die Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach einem Korrektiv, das für alle Bewerber die realistische Chance einer Zulassung wahrt, nach wie vor geltendem (Verfassungs-) Recht entsprechen.

2.

Da nach Lage der Dinge auch im heutigen Auswahlsystem nur die Auswahlmöglichkeit in der Wartezeitquote die Funktion eines solchen Korrektivs erfüllen kann, stellt sich nach den oben wiedergegebenen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts die Frage, ob die Anforderungen an die Wartezeit sich auf ein noch "erträgliches Maß" beschränken. Nur in diesem Falle bewirkt die Zulassungsmöglichkeit in der Wartezeitquote aus Sicht der Verfassungsrechtsprechung, dass die Fokussierung auf die Abiturnote nicht chancenausschließend, sondern nur chancenerhöhend wirkt. Zu der Frage, wann ein erträgliches Maß nicht mehr gegeben ist, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung "Numerus Clausus II" ausgeführt:

"Die genannten tatsächlichen Voraussetzungen sind in den harten Numerusclausus-Fächern Humanmedizin, Zahnmedizin und Tiermedizin sowie Psychologie und Pharmazie nicht mehr gegeben. Hier hängt die Zulassung von ständig gestiegenen Anforderungen ab und erfordert inzwischen Durchschnittsnoten bis zu 1,7 und Wartezeiten bis zu sechs Jahren (bei Bewerbern mit ungünstigeren Durchschnittsnoten jeweils ein Jahr länger). Auch bei diesen Fächern mag es zwar nicht ungerecht sein, dass Bewerber mit sehr guten Noten und langen Wartezeiten eine Zulassung erhalten. Für die Vielzahl der Abgewiesenen hingegen, unter denen sich zahlreiche Bewerber befinden, die für den angestrebten Beruf mindestens ebenso und mitunter sogar besser geeignet sind als die Zugelassenen, ist es weder sachgerecht noch zumutbar, wenn auf der Schnittstelle zwischen 1,7 und 1,8 darüber entschieden werden soll, wer sofort studieren kann oder aber bis zu sieben Jahren auf eine Zulassung zum Studium seiner Wahl warten muss.

Führt eine steigende Óberfüllung zu überhöhten Leistungsanforderungen und unzumutbaren Wartezeiten, dann haben diese quantitativen Veränderungen zugleich eine qualitative Auswirkung. Óberlange Wartezeiten, deren Dauer der Einzelne durch eigenes Zutun nicht beeinflussen kann und die sogar die Zeit eines normalen Studiums erreichen oder übersteigen, können namentlich von Bewerbern aus sozial schwächeren Kreisen nicht durchgehalten werden und verlieren für diese ihre chancenausgleichende Funktion. Für einen großen Teil der nach der Leistungsliste abgewiesenen Bewerber - das sind gegenwärtig beim Medizinstudium nahezu 90% - bestimmt daher die Dauer der Wartezeit nicht mehr allein darüber, wann sie das angestrebte Studium aufnehmen können, sondern ob ihnen das überhaupt noch möglich ist, wobei durch die Einbeziehung weiterer Fächer in den Numerus Clausus zugleich die Ausweichmöglichkeiten schwinden. Zudem verschieben lange Wartezeiten die endgültige Berufsentscheidung in einer sowohl persönlich wie pädagogisch und volkswirtschaftlich unvertretbaren Weise in eine höhere Altersstufe und belasten die ohnehin begrenzten Ausbildungskapazitäten in und außerhalb der Hochschule doppelt, wobei die bisherige Nutzung der Wartezeit durch ein diese Zeit milderndes Parkstudium den Numerus Clausus auf Nachbarfächer zum Nachteil anderer unmittelbar interessierter Bewerber überwälzt. Soweit die chancenausgleichende Funktion der Wartezeit entfällt, verwandelt sich zugleich die zunächst nur chancenerhöhend gedachte Auswahl nach Durchschnittsnoten aus einer bloßen sofortigen Zulassung zu einer endgültigen chancenausschließenden Selektionsentscheidung. Für eine solche definitive Entscheidung über die Verteilung von Lebenschancen sind aber überhohe Durchschnittsnoten schon deshalb ungeeignet, weil ihr Prognosewert für Studienerfolg und Berufserfolg ungesichert ist und weil sie wegen der Subjektivität der Notengebung und der Gleichbehandlung ganz verschiedenartiger Hochschulzugangsberechtigungen nicht vergleichbar sind. Davon abgesehen stünden sie als Zulassungsvoraussetzungen außer Verhältnis zu den Erfordernissen des angestrebten Berufs. Zahlreichen geeigneten Bewerbern - selbst solchen mit guten Noten oder besonderen fachspezifischen Begabungen - lassen sie nicht einmal die Chance, ihre Zulassungsaussichten durch eigenes studienbezogenes und berufsbezogenes Zutun zu verbessern. Hinzu kommen schädliche Nebenwirkungen dieses Zulassungssystems, die bei der verfassungsrechtlichen Gesamtwürdigung nicht außer acht bleiben dürfen. Nicht nur kann es Spitzenschüler dazu verleiten, entgegen ihren Neigungen und Fähigkeiten verknappte Prestigefächer mit guten Verdienstaussichten vorzuziehen; vor allem übt der Funktionswandel der Schulnoten in ausschlaggebende Elemente der Studienzulassung - entgegen den in den Länderverfassungen normierten Erziehungszielen - schädliche Einflüsse auf Schülerverhalten und Schülermentalität sowie auf das gesamte Schulsystem aus [...]."

So BVerfG, Urteil vom 8. Februar 1977 - 1 BvF 1/76 u. a. -, BVerfGE 43, 291 (319 ff.); das Vorstehende knapp zusammenfassend auch BVerfG, Beschluss vom 3. November 1981 - 1 BvR 632/80 -, BVerfGE 59, 1 ("Altwarter").

Dass diese Óberlegungen grundsätzlich auch heute noch verfassungsrechtlicher Maßstab für die Beurteilung des Auswahlsystems sind, hat das Bundesverfassungsgericht selbst betont. Im Zusammenhang mit der Verringerung der Wartezeitquote auf (zunächst) 25% anlässlich der Einführung des "Auswahlverfahrens der Hochschulen" hat das Gericht nämlich angemerkt, es werde zu überprüfen sein, ob "die festgelegte Wartezeitquote von 25 vom Hundert als zu gering anzusehen [sei]" und fährt fort: "Hierbei werden die Verwaltungsgerichte die bekannten verfassungsrechtlichen Vorgaben (vgl. BVerfGE 33, 303; 43, 291; 59, 1) zu beachten haben".

BVerfG, Beschluss vom 18. Februar 2002 - 1 BvR 13/02 -, Juris.

Dem entsprechend haben verschiedene Gerichte in den vergangenen Jahren im Zusammenhang mit der Entwicklung der Wartezeit auf die genannten Grundsätze rekurriert und sind davon ausgegangen, dass die Wartezeitzulassung ihre chancenwahrende Funktion erfüllt, solange sie unterhalb der in der Entscheidung "Numerus Clausus II" für verfassungswidrig gehaltenen Dauer von sechs bis sieben Jahren bleibt.

Vgl. etwa BayVerfGH, Entscheidung vom 4. Mai 2007 - Vf.9-VII-06 -, Juris (dort Rdnr. 64); BayVGH, Beschluss vom 23. März 2006 - 7 CE 06.10174 -, Juris (dort Rdnr. 26 ff.); OVG Saarlouis, Beschluss vom 27. Januar 2009 - 3 B 454/08 -, NVwZ-RR 2009, 418; VG Köln, Beschluss vom 9. Februar 2006 - 6 L 1727/05 -; wohl auch OVG NRW, Beschluss vom 16. Juni 2011 - 13 C 45/11 u. a. -, Juris.

Auch die beschließende Kammer hat sich in der Vergangenheit an dieser Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts orientiert.

Vgl. aus der Rechtsprechung der Kammer: Urteil vom 27. Mai 2003 - 6 K 4839/02 -, Gerichtsbescheid vom 15. Mai 2006 - 6 K 3036/05 -, Urteil vom 12. Dezember 2008 - 6 K 4872/08 - und Beschluss vom 7. Oktober 2010 - 6 L 917/10 -, Juris; letzterer mit dem Hinweis, die Kammer halte die Entwicklung der Wartezeit für sehr problematisch.

Inzwischen ist jedoch, nachdem die Auswahlgrenze hinsichtlich aller medizinischer Studiengänge in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen ist, in Bezug auf die Wartezeitquote ein Zustand erreicht, der demjenigen, welcher der Numerus Clausus II-Entscheidung im Jahre 1977 zugrunde lag, mehr oder weniger gleich kommt. Die erforderliche Wartezeit für einen Human- oder Tiermedizinstudienplatz beläuft sich zum Wintersemester 2011/2012 auf mindestens zwölf Halbjahre. Innerhalb der Gruppe der Bewerber mit "nur" zwölf Halbjahren kamen überdies lediglich diejenigen zum Zuge, die eine Abiturnote von mindestens 2,7 (Humanmedizin) bzw. 3,3 (Tiermedizin) vorzuweisen hatten. Für Bewerber, die wegen ihrer schwächeren Abiturnote unterhalb dieser Auswahlgrenze liegen und die deshalb trotz einer Wartezeit von zwölf Halbjahren nicht ausgewählt worden sind, wird die Wartezeit im Fach Tiermedizin (wegen der Zulassung ausschließlich zum Wintersemester) mindestens vierzehn Halbjahre betragen. Für entsprechende Bewerber im Fach Humanmedizin wird die Wartezeit mindestens dreizehn Halbjahre betragen, wobei schon zum Sommersemester 2011 selbst unter den Bewerbern mit dreizehn Halbjahren die mit den schwächsten Abiturnoten nicht ausgewählt worden sind. Verschärfend kommt hinzu, dass die Wartezeiten - wie bereits angedeutet - in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen sind. Ein Bewerber, der vor sechs Jahren seine Hochschulzugangsberechtigung erworben hat, hat sich in seiner Lebensplanung also nicht auf eine Wartezeit von sieben Jahren einstellen können. Vor sechs Jahren, also im Jahre 2005, betrug z. B. die Wartezeit für einen Humanmedizinstudienplatz noch vier Jahre.

Eine entsprechende Wartezeit von sechs, im Falle eines schwächeren Abiturs sogar noch mehr Jahren hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Numerus Clausus II-Entscheidung - wie oben aufgezeigt - für verfassungswidrig gehalten. Auch in der Literatur wurden auf der Grundlage dieser Entscheidung allenfalls Wartezeiten von vier oder fünf Jahren für verfassungsrechtlich vertretbar gehalten.

Vgl. Bode, in: Dallinger/Bode/Dellian, Hochschulrahmengesetz, Kommentar, 1978, § 32 Rdnr. 46; Hauck, in: Denninger (Hrsg.), Hochschulrahmengesetz, Kommentar, 1984, § 33 Rdnr. 5.

Obwohl mancher Punkt innerhalb der oben wiedergegebenen Argumentation heute in anderem Licht erscheinen mag, vermag die Kammer bei summarischer Prüfung im Ergebnis nicht zu erkennen, dass die Maßstäbe, die das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1977 aufgestellt hat, heute nicht mehr gelten sollen:

Bei summarischer Betrachtung lässt sich schwerlich begründen, dass die vom Ersten Senat seinerzeit hervorgehobene Gefahr einer sozialen Selektion damals wahrscheinlicher war als heute. Die Arbeitslosenquoten der siebziger Jahre lagen unter denen der Gegenwart. Dass es einem Bewerber heute eher möglich ist, einen Arbeitsplatz zu erlangen, um während der Wartezeit seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, ist vor diesem Hintergrund wenig wahrscheinlich. Bahro/Berlin sprechen in diesem Zusammenhang schon bei Wartezeiten von drei Jahren unter Hinweis auf die grundlegenden Änderungen auf dem Arbeitsmarkt von selektiven Wirkungen bei der Realisierung von Studienabsichten.

Vgl. Bahro/Berlin, Das Hochschulzulassungsrecht in der BRD, 4. Aufl. 2003, Art. 13 StV Rdnr. 15.

Dass es "pädagogisch und volkswirtschaftlich" von Nachteil ist, wenn das Einstiegsalter in das Studium und damit auch das spätere Einstiegsalter in den Beruf für die Wartezeitbewerber immer weiter erhöht wird, dürfte heute wie damals gelten. Im bildungspolitischen Diskurs der Gegenwart wird jedenfalls stets auf die Bedeutung hingewiesen, welche einem möglichst frühzeitigen Studienabschluss gerade in Bezug auf den Berufseinstieg und nicht zuletzt mit Blick auf Absolventen anderer europäischer Länder zukomme.

Das vom Bundesverfassungsgericht des Weiteren angeführte Argument, durch das Park- oder Ausweichstudium langjähriger "Warter" würden zusätzlich Hochschulkapazitäten gebunden, greift heute zwar nicht mehr ohne Weiteres, weil Halbjahre, in denen der Bewerber an einer deutschen Hochschule eingeschrieben ist, nicht als Wartehalbjahre gelten (§ 14 Abs. 6 VergabeVO). Großes Gewicht dürfte dieses Argument indes schon im Jahre 1977 nicht gehabt haben, weil eine entsprechende, ein Park- und Ausweichstudium ausschließende Regelung zum Zeitpunkt der Numerus Clausus II-Entscheidung bereits im novellierten Hochschulrahmengesetz enthalten war, die Problematik also eine auslaufende war. Die parallele Problematik, dass die wartenden Bewerber in Ausbildungsberufe drängen und damit die vorhandenen Ausbildungskapazitäten außerhalb der Hochschulen belasten, dürfte angesichts des Auslaufens der Möglichkeit eines Parkstudiums heute eher noch stärker bestehen.

Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang ferner, dass nach dem Numerus-Clausus II-Urteil bei hohen Auswahlgrenzen "zumindest eine Tendenz zum Abbau von Zulassungsbeschränkungen als vorübergehender Mangelerscheinung" erforderlich sein soll. Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem in den letzten Jahren zu verzeichnenden Anstieg der Wartezeit nicht etwa um ein durch die aktuellen Entwicklungen hervorgerufenes, erkennbar vorübergehendes Phänomen handelt. Die Folgen der doppelten Abiturjahrgänge und der Wehrpflichtabschaffung werden sich auf die Dauer der Wartezeit jedenfalls erst auswirken, wenn die davon konkret betroffenen Bewerber mit ihrer Wartezeit in den Bereich der Auswahlgrenzen gelangen. Eine Tendenz zum Abbau des somit nicht nur vorübergehenden Engpasses vermag die Kammer bei summarischer Betrachtung nur bedingt zu erkennen. Zwar wurden und werden im Rahmen der Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Hochschulen (v. a. "Hochschulpakt 2020") in anerkennenswerter Weise die Voraussetzungen für die Bereitstellung zusätzlicher Studienplätze geschaffen. Konkrete Bemühungen, gerade dem Problem des Studienplatzmangels in den medizinischen Studiengängen und der steigenden Wartezeiten zu begegnen, sind aber wohl nur begrenzt vorhanden. Das Konzept des Hochschulpakts 2020 etwa scheint die Medizinstudiengänge zunächst eher ausgeklammert zu haben. Denn im Gegensatz zu den sog. MINT-Fächern werden die medizinischen Studienfächer in den Verwaltungsvereinbarungen zum Hochschulpakt nicht erwähnt. Zudem deutet die vereinbarte pauschale Kostenerstattung für die Schaffung zusätzlicher Studienplätze, die von Kosten eines Studiums in Höhe von 22.000,- EUR (erste Programmphase) bzw. 26.000,- EUR (zweite Programmphase) ausgeht, darauf hin, dass die medizinischen Studiengänge ausgeklammert bleiben sollten.

So auch CHE-Arbeitspapier Nr. 118 "Zwei Jahre Hochschulpakt 2020 (1. Phase) - eine Halbzeitbilanz" (April 2009), S. 102.

Inzwischen sind zwar die Bemühungen in gewissem Umfang auch auf die medizinischen Studiengänge ausgeweitet worden. So sollen zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen zwischen 2011 und 2015 insgesamt 935 zusätzliche Medizinstudienplätze geschaffen und dabei auch mit Mitteln aus dem Hochschulpakt finanziert werden.

So die entsprechende Pressemitteilung des Ministeriums für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen vom 5. Mai 2011.

Mit diesen Studienplätzen soll aber - ausweislich der entsprechenden Verlautbarungen der Wissenschaftsverwaltung - in erster Linie die zusätzliche Nachfrage befriedigt werden, die sich in den kommenden Jahren wegen doppelter Abiturjahrgänge und anderer Umstände ergeben wird. Dass mit den geplanten Maßnahmen auch der bereits seit Jahren bestehende Engpass, welcher sich in der kontinuierlich ansteigenden Auswahlgrenze der Wartezeitquote manifestiert, verringert werden wird, erscheint bei summarischer Betrachtung zumindest fraglich, wenngleich ein gewisser Teil der zusätzlichen Studienplätze natürlich in der Wartezeitquote wird vergeben werden können. Ein Anspruch auf Schaffung zusätzlicher (kostenaufwändiger) Studienplatzkapazitäten in den medizinischen Studiengängen dürfte zwar nach wie vor nicht bestehen. Denn auch der grundrechtliche Anspruch ist auf dasjenige beschränkt, was der Einzelne (vor dem Hintergrund überschuldeter öffentlicher Haushalte) berechtigterweise von der Gesellschaft erwarten kann. Aus Sicht der Numerus Clausus-Rechtsprechung bleibt aber zu konstatieren, dass eine Tendenz zum nachhaltigen Abbau von Studienbeschränkungen als vorübergehender Mangelerscheinung derzeit nur bedingt erkennbar ist und dass deshalb der chancenausgleichenden Funktion des Auswahlsystems besonderer Wert beizumessen ist.

Wenn man - mit dem Bundesverfassungsgericht - die Grenze des Erträglichen dann erreicht sieht, wenn die Wartezeit "die Zeit eines normalen Studiums erreicht oder überschreitet", so muss man im Óbrigen konstatieren, dass die Dauer eines "normalen Studiums" in den vergangenen Jahrzehnten abgenommen haben dürfte. So ist ausweislich der im Internet-Angebot des Bundesministeriums für Bildung und Forschung abrufbaren Zahlen die durchschnittliche Studiendauer - bei Einbeziehung aller Universitäts- und Fachhochschulstudiengänge - allein zwischen 1997 und 2009 von 12,5 Hochschulsemester/10,9 Fachsemester auf 11,1 Hochschulsemester/9,2 Fachsemester gesunken. Auch dies spricht dafür, dass die Grenze des im Sinne der Verfassungsrechtsprechung Erträglichen heute jedenfalls nicht höher anzusiedeln ist als in der Numerus Clausus II-Entscheidung. Die Kammer neigt in diesem Zusammenhang allerdings zu der Auffassung, dass es nicht sachgerecht sein dürfte, sich hinsichtlich der Grenze der zumutbaren Wartezeit an der Regelstudienzeit des jeweils betroffenen Studiengangs zu orientieren. Dass dem Bewerber um einen Humanmedizin-Studienplatz eine längere Wartezeit zugemutet werden kann als etwa dem Bewerber um einen Tier- oder Zahnmedizin-Studienplatz, dürfte sich nämlich nicht begründen lassen. Festzuhalten bleibt aber, dass die Dauer eines "normalen", also durchschnittlichen Studiums bei einer Wartezeit von sechs bis sieben Jahren offenbar deutlich überschritten ist.

Soweit das Bundesverfassungsgericht schließlich für die verfassungsrechtliche Bewertung auch darauf abgestellt hat, ob der Bewerber die Wartezeit "durch eigenes Zutun beeinflussen" kann, ist festzustellen, dass dies inzwischen nicht mehr der Fall ist. Die von dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in diesem Zusammenhang genannten Möglichkeiten des § 14 Abs. 3 und 4 VergabeVO,

vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 11. Januar 2001 - 13 B 1727/00 -, n. v., vom 7. März 2006 - 13 B 174/06 -, Juris, und vom 3. März 2009 - 13 B 80/09 -, Juris; krit. zur erstgenannten Entscheidung Bahro/Berlin, a. a. O., Art. 13 Rdnr. 14 f.,

lassen sich nach Auffassung der Kammer insoweit wohl kaum heranziehen. Die Verkürzung der Wartezeit durch Nachteilsausgleich gemäß § 14 Abs. 3 VergabeVO steht nur demjenigen Studienbewerber offen, der aufgrund von nicht selbst zu vertretenden Gründen daran gehindert gewesen ist, die Hochschulzugangsberechtigung zu einem früheren Zeitpunkt zu erwerben. Durch "eigenes Zutun" kann ein Studienbewerber die Voraussetzungen für diesen Nachteilsausgleich also gerade nicht schaffen. Die in § 14 Abs. 4 VergabeVO enthaltene Privilegierung des zweiten Bildungsweges betrifft nur eine bestimmte Gruppe von Studienbewerbern, nicht aber den Regelfall desjenigen, der seine Hochschulzugangsberechtigung unmittelbar erworben hat. Die Schullaufbahn mit Blick auf eine spätere Bonierung in der Wartezeitquote vor Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung vorläufig abzubrechen und erst nach Erwerb eines ersten berufsqualifizierenden Abschlusses wieder aufzunehmen und abzuschließen, kann von einem späteren Studienbewerber nicht verlangt werden. Im Óbrigen handelt es sich um auslaufendes Recht; von der Privilegierung profitieren nur noch solche Bewerber, die die Hochschulzugangsberechtigung vor dem 16. Juli 2007 erworben haben. Die früher vorhandene Möglichkeit, die Wartezeit durch Erwerb eines berufsqualifizierenden Abschlusses nach Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung zu verkürzen, ist bereits vor einigen Jahren ausgelaufen. Insgesamt sind Möglichkeiten, die Wartezeit durch eigenes Zutun zu verkürzen, nicht mehr erkennbar.

Nach alledem ist die Kammer der Auffassung, dass das derzeitige Auswahlsystem, soweit es zu Wartezeiten von mehr als sechs Jahren führt, das aus Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip abgeleitete Teilhaberecht aller hochschulreifen Bewerber verletzt.

3.

Nach Óberzeugung des Gerichts folgt aus der (jedenfalls teilweisen) Verfassungswidrigkeit des Auswahlsystems auch ein Recht des einzelnen, unter einer überlangen Wartezeit leidenden Studienbewerbers auf Zulassung zum Studium.

Das vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip abgeleitete derivative Teilhaberecht des Bewerbers um einen Studienplatz wird als ein subjektiv-öffentliches Recht auf Aufnahme in eine entsprechende Ausbildungseinrichtung verstanden, welches durch die vorhandenen Aufnahmekapazitäten beschränkt ist und sich im Falle der Óbernachfrage auf eine vollständige Ausschöpfung der Kapazität und auf eine grundsätzlich gleichberechtigte Partizipation am Vorhandenen richtet.

Vgl. Mann, in Sachs (Hrsg), Grundgesetz, 5. Aufl. 2010, Art. 12 Rdnr. 160; Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Kommentar, Stand: Mai 2011, Art. 12 Rdnr. 71 und 441 ff.

Dass der in dem Grundrecht enthaltene Anspruch auf erschöpfende Kapazitätsnutzung im Falle freigebliebener Kapazitäten zu einem Anspruch auf Zulassung zum Studium erstarkt, ist unbestritten. Eben dieser grundrechtliche Anspruch ist die materiellrechtliche Grundlage des sog. Kapazitätsrechtsstreits, in welchem - mangels einfachgesetzlicher Rechtsgrundlage - unmittelbar aus dem verfassungskräftigen Teilhaberecht um die Zulassung zum Studium gestritten wird. In diesem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht im Óbrigen mehrfach betont, dass zu den wesentlichen Bestandteilen eines verfassungsmäßigen Rechts gerade seine Durchsetzbarkeit gehört.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. April 1975 - 1 BvR 344/74 -, BVerfGE 39, 276 ff., und Beschluss vom 21. Oktober 1981

- 1 BvR 802/78 -, BVerfGE 59, 172 (215).

Die mit dem Grundrecht des Weiteren verbundene Verpflichtung, ein Auswahlsystem zu verwenden, das jedem hochschulreifen und damit gleichberechtigt zu berücksichtigenden Bewerber die realistische Chance auf eine Zulassung verschafft, richtet sich naturgemäß zunächst an den Gesetz- bzw. Verordnungsgeber. Die Kammer ist vor diesem Hintergrund nach wie vor der Auffassung, dass ein Bewerber, dessen eigene angesammelte Wartezeit den kritischen Bereich von sechs und mehr Jahren noch nicht erreicht hat, aus den derzeitigen, kritischen Auswahlgrenzen keinen unmittelbaren Zulassungsanspruch ableiten kann. Denn die oben dargestellten Óberlegungen führen nicht zwingend dazu, dass das derzeitige Auswahlsystem insgesamt verworfen werden müsste. Das Gesamtsystem ist grundsätzlich wohl geeignet, den grundrechtlichen Anforderungen gerecht zu werden. So dürfte sich etwa durch eine vergleichsweise überschaubare Modifikation des Inhalts, dass jedem Studienbewerber, der eine Wartezeit von zwölf oder mehr Halbjahren vorzuweisen hat, stets ein Studienplatz in der Wartezeitquote zugeteilt und dass die Wartezeitquote zu diesem Zweck im Einzelfall zu Lasten einer anderen Hauptquote auf mehr als 20% der Studienplätze erweitert wird, wohl verhindern lassen, dass die Grenzen des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren überschritten werden.

Nach Óberzeugung der Kammer muss aber demjenigen Studienbewerber, der trotz einer Wartezeit von zwölf oder mehr Halbjahren nicht ausgewählt worden ist, ein unmittelbar aus dem Teilhaberecht folgender Zulassungsanspruch zuerkannt werden. Denn wenn das in Rede stehende Grundrecht des Studienbewerbers, wie vom Bundesverfassungsgericht ausgeführt, auf Aufnahme in eine Ausbildungseinrichtung gerichtet ist und die Festlegung von Kapazitätsgrenzen sowie die Statuierung von Auswahlkriterien als rechtfertigungsbedürftige Eingriffe in dieses Recht aufzufassen sind, so muss, wenn die Eingriffe sich als verfassungsrechtlich unhaltbar erweisen, dem Grundrecht zur Wirksamkeit verholfen werden, der Anspruch "auf Aufnahme in die Ausbildungseinrichtung" also zum Tragen kommen. Andernfalls liefe das Recht auf Teilhabe an den vorhandenen Kapazitäten als subjektives Recht leer.

Dem steht auch nicht etwa der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts entgegen, seine Grundsätze über das Recht eines jeden hochschulreifen Bewerbers auf Zulassung zum Studium seien nicht so zu verstehen, dass jedem Bewerber eine Zulassung zum Studium "garantiert" werden müsse; die Einräumung von Chancen schließe "schon begrifflich das Risiko eines Fehlschlags ein".

So BVerfG, Urteil vom 8. Februar 1977 - 1 BvF 1/76 u. a. -, BVerfGE 43, 291 (316), und Beschluss vom 3. November 1981 - 1 BvR 632/80 -, BVerfGE 59, 1 (25).

Denn im Kontext der oben (unter Ziffer 1. und 2.) wiedergegebenen Grundsätze der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung kann diese Klarstellung nur dahin verstanden werden, dass nicht jeder Bewerber eine sofortige Zulassung verlangen kann. Dass aber rund die Hälfte aller potentiellen Bewerber ohne jede zumutbare Chance auf eine Studienzulassung bleibt, kann nach Auffassung der Kammer mit den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätzen nicht in Einklang gebracht werden.

Soweit die Antragsgegnerin einwendet, das Bundesverfassungsgericht habe einen Anspruch bzw. ein Leistungsrecht nur bei evidenter Verfassungswidrigkeit erwogen, ist darauf hinzuweisen, dass die entsprechenden, von der Antragsgegnerin zitierten Óberlegungen des Senats sich auf die - oben bereits angesprochene - Frage beziehen, unter welchen Umständen dem Studienbewerber ein Recht auf Schaffung von Studienplätzen, also auf Erweiterung der Kapazität, zustehen könnte. Vorliegend geht es hingegen um die Verwirklichung des in Bezug auf die vorhandenen Kapazitäten gegebenen Teilhaberechts.

Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat in diesem Zusammenhang allerdings jüngst darauf hingewiesen, dass das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung "Numerus Clausus II" nicht von der Verfassungswidrigkeit wegen überlanger Wartezeiten auf die Nichtigkeit der Auswahlregelungen geschlossen, sondern sich auf eine Verpflichtung des Gesetzgebers beschränkt habe.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Juni 2011 - 13 C 45/11 u. a. -, Juris (dort unter Rdnr. 20).

Die Kammer hält diesen Einwand in Bezug auf das vorliegende Verfahren für letztlich nicht durchgreifend. Dabei ist zunächst festzustellen, dass die Befugnis, eine als verfassungswidrig erkannte Norm für vorläufig weiter anwendbar zu erklären, wohl nur dem Bundesverfassungsgericht zusteht. Allenfalls könnte die Kammer im Rahmen der für die Entscheidung gemäß § 123 VwGO anzustellenden Prognose über die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren erwägen, ob das Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines etwaigen Vorlageverfahrens den Ausspruch der Nichtigkeit vermeiden und sich auf eine Verpflichtung des Gesetzgebers beschränken würde. Entscheidend ist jedoch (abgesehen von den Unwägbarkeiten einer solchen Prognose), dass die heutige Situation mit der des Jahres 1977 nicht zu vergleichen ist. Im Zeitpunkt der Entscheidung "Numerus Clausus II" hatte der Bundesgesetzgeber das Hochschulrahmengesetz bereits (unter anderem) mit Blick auf die zunehmenden Probleme in der Wartezeitquote dahingehend geändert, dass das "Allgemeine Auswahlverfahren" bei Bedarf durch ein "Besonderes Auswahlverfahren" ersetzt werden soll. Dem entsprechend sah wenig später der Vergabestaatsvertrag der Länder aus dem Jahr 1978 den Óbergang auf das Besondere Auswahlverfahren vor, wenn die Wartezeit in einem Studiengang drei Jahre (!) überschreitet. Das Bundesverfassungsgericht entschied also vor dem Hintergrund laufender gesetzgeberischer Bemühungen mit dem Ziel, dem Problem der steigenden Wartezeiten durch Änderungen des Auswahlsystems zu begegnen. Dem Gesetzgeber in dieser Situation Gelegenheit zu geben, die Probleme des Auswahlsystems selbst zu beseitigen, drängte sich geradezu auf. Dies ist heute anders. Obwohl das Problem massiv ansteigender Wartezeiten seit Jahren erkennbar ist, sind Bestrebungen, diesem Problem durch Änderungen am Auswahlsystem zu begegnen, offenbar nicht vorhanden. Die gesetzgeberischen Maßnahmen der jüngeren Vergangenheit, etwa die Abschaffung der Möglichkeit, sich durch Erwerb eines berufsqualifizierenden Abschlusses zusätzliche Wartesemester zu verschaffen, die Verringerung der Wartezeitquote von 25% auf 20% und die Abschaffung des Nachrückverfahrens im zentralen Vergabeverfahren, haben sich vielmehr durchweg zu Lasten der Wartezeitbewerber ausgewirkt. Da sich der Verfassungsverstoß zu Lasten der langjährig Wartenden - wie oben bereits angedeutet - im gerichtlichen Verfahren vergleichsweise einfach und unter weitgehender Wahrung des bestehenden Systems (vorläufig) beseitigen lässt, hält die Kammer es nicht für angezeigt, die Lösung des Problems (allein) dem Gesetzgeber zu überantworten und bis zu dessen Tätigwerden eine sukzessive - quantitative und qualitative - Erweiterung der Grundrechtsverletzung zu akzeptieren.

4.

Es erscheint nicht von vornherein undenkbar, dass das Ergebnis einer (teilweisen) Verfassungswidrigkeit der hochschulzulassungsrechtlichen Regelungen durch eine verfassungskonforme Auslegung vermieden werden kann. Insoweit dürfte vor allem die Härtefallquote des § 6 Abs. 2 S. 1 Nr.1 VergabeVO in den Blick zu nehmen sein. Nach dieser Vorschrift sind von der Gesamtzahl der festgesetzten Zulassungszahlen (bis zu) zwei Prozent für Fälle außergewöhnlicher Härte abzuziehen. Die Studienplätze der Härtefallquote werden gemäß § 15 S. 1 VergabeVO auf Antrag an Bewerberinnen und Bewerber vergeben, für die es eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde, wenn sie für den genannten Studiengang keine Zulassung erhielten. Eine außergewöhnliche Härte liegt vor, wenn in der eigenen Person liegende besondere soziale oder familiäre Gründe die sofortige Aufnahme des Studiums oder einen sofortigen Studienortwechsel zwingend erfordern (§ 15 S. 2 VergabeVO). Die Rangfolge wird durch den Grad der außergewöhnlichen Härte bestimmt (§ 15 S. 3 VergabeVO).

Eine Härte in diesem Sinne auch bei denjenigen Studienbewerbern anzunehmen, die bereits seit mindestens sechs Jahren auf einen Studienplatz warten, erscheint durchaus erwägenswert. Problematisch ist allerdings, dass es sich um "in der eigenen Person liegende besondere soziale oder familiäre Gründe" handeln muss. Die Kammer ist - wie vorstehend unter Ziffern 1. bis 3. ausgeführt - der Auffassung, dass jeder erfolglose Studienbewerber, dessen angesammelte Wartezeit sechs Jahre erreicht oder überschreitet, ohne Weiteres in seinem verfassungskräftigen Recht auf Aufnahme in eine Ausbildungseinrichtung verletzt wird. Insofern sind also gerade keine "in der eigenen Person liegenden" und auch keine "besonderen sozialen und familiären" Umstände erforderlich. Ob Wortlaut und Sinn der Härtefallregelung es gestatten, von einer Härte generell bei allen seit mindestens sechs Jahren Wartenden zu sprechen, wird die Kammer im Hauptsacheverfahren klären müssen.

Hinzu kommt, dass die Härtefallquote auf maximal zwei Prozent begrenzt ist. Für die Beseitigung des hier angenommenen Verfassungsverstoßes darf es aber nicht darauf ankommen, ob nach Berücksichtigung anderer Härtefallbewerber noch Plätze in dieser Quote unbesetzt geblieben sind. Ob eine verfassungskonforme Auslegung dahingehend möglich ist, dass die Quote bei Bedarf auf mehr als zwei Prozent der Studienplätze erweitert wird, erscheint fraglich. Denn die verschiedenen Auswahlquoten sind durch den Gesetz- bzw. Verordnungsgeber nicht nur in differenzierter Weise austariert, sondern darüber hinaus auch verschiedenen Rechtsträgern zur Verteilung überantwortet worden. Insoweit stößt eine verfassungskonforme Erweiterung des Härtefallbegriffs unter Auflösung des vorhandenen Zweiprozentlimits auf systematische und praktische Probleme.

Im Óbrigen ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass Studienplätze der Härtefallquote, die nicht vergeben werden, weil die Zahl der anerkannten Härtefälle bei unter zwei Prozent der festgesetzten Zulassungszahlen liegt, als zusätzliche Studienplätze in der Wartezeitquote verteilt werden können (§ 6 Abs. 6 S. 1 VergabeVO). Dies ist nach Einschätzung der Kammer in der Vergangenheit auch regelmäßig geschehen. Würde man den langjährig Wartenden nun Studienplätze aus der Härtefallquote zusprechen, würde sich also wohl die Zahl der in der Wartezeitquote de facto zu vergebenden Studienplätze weiter verringern. Insgesamt wäre wohl wenig gewonnen.

Im vorliegenden Verfahren kann die Frage, ob eine verfassungskonforme Auslegung möglich ist, letztlich offen bleiben. Denn wie unter Ziffern 1. bis 3. aufgezeigt, steht dem Antragsteller auch ohne Inanspruchnahme der Härtefallregelung ein - unmittelbar aus dem Grundgesetz folgender - Zulassungsanspruch zu. Da dieser Anspruch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch ohne eine Vorlage der in Rede stehenden Regelungen an das Bundesverfassungsgericht verwirklicht werden kann (dazu sogleich unter 5.), ergibt sich für die vorliegende Entscheidung im Ergebnis kein Unterschied.

5.

Der Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung ist auch im Sinne von § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO notwendig, um wesentliche Nachteile abzuwehren; es besteht also ein Anordnungsgrund. Die einstweilige Anordnung als Bestandteil effektiven Rechtsschutzes ist insbesondere dann geboten, wenn dem Rechtsschutzsuchenden ohne vorläufigen Rechtsschutz eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in einem Grundrecht droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende besonders gewichtige Gründe entgegen stehen.

Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 25. Oktober 1988 - 2 BvR 745/88 -, BVerfGE 79, 75, und vom 25. Januar 1995 - 2 BvR 2689/94 u. a. -, NJW 1995, 950; Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 16. Aufl. 2009, § 123 Rdnr. 3.

Vorliegend ist - wie oben ausgeführt - eine Grundrechtsverletzung bereits eingetreten, da der Antragsteller trotz einer Wartezeit von sechs Jahren nicht zum Studium zugelassen worden ist. Mit jedem Monat, der ohne eine entsprechende Zulassung vergeht, erneuert und vertieft sich diese Grundrechtsverletzung. Frühestens zum Sommersemester 2012 könnte der Antragsteller erneut auf eine Zulassung zum Studium der Humanmedizin hoffen, die im Hinblick auf die zum Sommersemester in deutlich geringerem Umfang zur Verfügung stehenden Studienplätze und der bereits zum Sommersemester 2011 auf 13 Halbjahre gestiegenen Wartezeit allerdings wenig wahrscheinlich erscheint. Unter diesen Umständen hält die Kammer einen Anordnungsgrund ohne Weiteres für gegeben, ohne dass es auf die konkreten Lebensumstände des Antragstellers ankäme.

Der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch Erlass einer einstweiligen Anordnung stehen auch keine sonstigen Hindernisse entgegen; namentlich die mit dem Erlass der einstweiligen Anordnung verbundene, jedenfalls teilweise Vorwegnahme der Hauptsache ist vorliegend geboten. Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit dem durch Art. 19 Abs. 4 GG geschützten Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt - gerade auch in Bezug auf die Wahrung des (Teilhabe-) Rechts auf Studienzulassung - mehrfach die Bedeutung eines wirksamen vorläufigen Rechtsschutzes hervorgehoben.

Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 21. Juli 2005 - 1 BvR 584/05 -, Juris, und vom 31. März 2004 - 1 BvR 356/04 -, NVwZ 2004, 1112 f.

Die Óberprüfung hoheitlicher Maßnahmen im Eilverfahren schließt dabei grundsätzlich auch das Verfassungsrecht ein: Die Rechtsschutzgarantie verlangt, dass sich die Gerichte auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes mit berechtigten Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit und damit Gültigkeit von entscheidungserheblichen Normen sowie mit den Möglichkeiten ihrer verfassungskonformen Auslegung und Anwendung auseinandersetzen.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Juli 1996 - 1 BvR 638/96 -, DVBl. 1997, 1367 f.

Auch das sog. "Verwerfungsmonopol" des Bundesverfassungsgerichts, also die in Art. 100 Abs. 1 GG statuierte Verpflichtung der Gerichte, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn sie eine gesetzliche Regelung für verfassungswidrig halten, steht dem auf die Verfassungswidrigkeit der hochschulzulassungsrechtlichen Regelungen gestützten Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht entgegen. Fraglich könnte dabei (abgesehen von der oben erörterten Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung) bereits sein, ob das Verwerfungsmonopol im vorliegenden Zusammenhang überhaupt zum Tragen kommt, da die Studienzulassung jedenfalls zum Teil auf untergesetzlichen Rechtsgrundlagen beruht, auf die Art. 100 Abs. 1 GG keine Anwendung findet. Diese Frage kann aber im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes offen bleiben. Denn wenn ein Gericht eine für seine Entscheidung maßgebliche Gesetzesnorm für verfassungswidrig hält, so ist es durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht gehindert, vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsache dadurch nicht vorweggenommen wird.

So BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 1992 - 1 BvR 1028/91 - BVerfGE 86, 382 ff.; vgl. auch Sieckmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2010, Art. 100 Rdnr. 9 ff.

Dabei ist die zuletzt genannte, vom Bundesverfassungsgericht postulierte Einschränkung nicht als ein striktes Verbot der Hauptsachevorwegnahme zu verstehen. Denn letztlich geht es darum, den prinzipiellen Geltungsanspruch gesetzlicher Regelungen, den Art. 100 Abs. 1 GG für den Bereich der Rechtspflege schützen soll, gegen das aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG folgende Gebot einer effektiven Rechtsschutzgewährleistung abzuwägen. Da die "Missachtung" der Gesetzesbindung nur eine den konkreten Fall betreffende und überdies vorläufige ist, während der durch Verweigerung effektiven Rechtsschutzes teilweise, nämlich zumindest für den Zeitraum bis zur Hauptsacheentscheidung eintretende Rechtsverlust ein endgültiger ist, wird das Verwerfungsmonopol im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes regelmäßig hinter die Rechtsschutzgarantie zurücktreten müssen und auch eine (teilweise) Vorwegnahme der Hauptsache zulässig sein.

Vgl. Puttler, in: Sodan/Ziekow (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 3. Aufl. 2010, § 123 Rdnr. 13 ff.; Schoch, in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, Stand: Mai 2010, § 80 Rdnr. 267 ff. und § 123 Rdnr. 127 ff.; Kuhla, in: Posser/Wolff, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 2008, § 123 Rdnr. 164 f.; Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 16. Aufl. 2009, § 123 Rdnr. 16.

So liegen die Dinge auch im vorliegenden Fall. Der bereits angesprochene Umstand, dass die bei summarischer Prüfung gegebene Grundrechtsverletzung des Antragstellers sich ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit jedem weiteren Monat erneuert und vertieft, lässt vor dem Hintergrund der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG den Erlass einer einstweiligen Anordnung unter teilweiser Vorwegnahme der Hauptsache zwingend erscheinen. Dies wird auch nicht durch die Óberlegung in Frage gestellt, dass durch die (vorläufige) Zulassung des Antragstellers möglicherweise ein anderer Bewerber keine Zulassung innerhalb der Kapazität wird erhalten können. Denn dieser andere Bewerber, der mit seiner Abiturnote und etwaigen weiteren Aufnahmekriterien im Bereich der Auswahlgrenze der anderen Hauptquoten, insbesondere des Auswahlverfahrens der Hochschulen liegt, hat eine realistische Chance auf Zulassung zum Studium gehabt und bewegt sich offenbar (noch) nicht in dem Bereich unerträglicher Zulassungshürden. Damit ist seinem Grundrecht derzeit genüge getan. Gegenüber dem in seinem Grundrecht bereits verletzten Antragsteller hat er zurückzustehen.

Dem Erlass einer einstweiligen Anordnung steht schließlich auch nicht etwa entgegen, dass eine solche Anordnung von der Antragsgegnerin nicht mehr umgesetzt werden kann, weil sie nach Abschluss des Zulassungsverfahrens in den von ihr verwalteten Auswahlquoten über keine zu verteilenden Studienplätze mehr verfügt (vgl. § 9 VergabeVO). Fraglich ist bereits, ob das Gericht auf ein solches faktisches Problem überhaupt Rücksicht nehmen dürfte. So hat das Bundesverfassungsgericht etwa für den Bereich des Zugangs zu einem in öffentlicher Regie veranstalteten Markt entschieden, die Erschöpfung der Platzkapazität rechtfertige nicht die Versagung effektiven einstweiligen Rechtsschutzes. Ergebe die Óberprüfung der versagenden Vergabeentscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, dass ein Standplatz zu Unrecht vorenthalten worden sei, habe das Fachgericht eine entsprechende Verpflichtung des Marktanbieters auszusprechen. Es sei dann die im Einzelnen vom Gericht nicht zu regelnde Sache des Marktanbieters, diese Verpflichtung umzusetzen.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. August 2002 - 1 BvR 1790/00 -, DVBl. 2003, 257, mit weiteren Nachweisen.

Ungeachtet dieser Frage hat die Kammer sich allerdings wegen der Besonderheit der vorliegenden Konstellation des Problems der Umsetzbarkeit ihrer einstweiligen Anordnung angenommen. Die Besonderheit besteht darin, dass zum jetzigen Zeitpunkt zwar durchaus noch unverteilte Studienplätze vorhanden sein dürften, dass die Antragsgegnerin auf diese Studienplätze aber keinen unmittelbaren Zugriff hat, weil sie der Verteilung durch die Hochschulen unterliegen. Selbst Studienplätze der von der Antragsgegnerin verwalteten Quoten, die nach der (einmaligen) Vergabe frei geblieben sind, etwa weil die erfolgreichen Bewerber die Zulassung nicht angenommen haben, fallen nämlich gemäß § 9 S. 2 VergabeVO automatisch in das Auswahlverfahren der Hochschulen, können von der Antragsgegnerin also nicht mehr (erneut) vergeben werden. Im Auswahlverfahren der Hochschulen jedoch hat soeben erst die zweite Stufe des regulären Verteilungsverfahrens stattgefunden. Erst am 6. und am 18. Oktober 2011 werden die Bescheide in den Nachrückverfahren zum Auswahlverfahren der Hochschulen versandt. Nach Einschätzung der Kammer sind auch regelmäßig noch nicht angenommene Studienplätze zur Verteilung im Nachrückverfahren verblieben. Da die von der Kammer angenommene Grundrechtsverletzung nicht speziell auf dem Handeln der Antragsgegnerin oder (allein) auf dem von ihr anzuwendenden Teil des Hochschulzulassungsrechts, sondern auf dem Auswahlsystem bzw. der Zusammensetzung der Quoten insgesamt beruht und die Hochschulen ebenfalls an die verfassungsrechtlichen Vorgaben gebunden sind, sind diese Studienplätze aus dem Auswahlverfahren der Hochschulen erforderlichenfalls zur Umsetzung der einstweiligen Anordnung heranzuziehen. Da dies die Rechte der betroffenen Hochschule berührt, welche (einfachrechtlich) zur eigenverantwortlichen Verteilung der in Rede stehenden Plätze berechtigt ist, hat die Kammer diejenigen Hochschulen, welche Studienplätze im Studiengang Humanmedizin anbieten, gemäß § 65 VwGO beigeladen. Die Hochschulen sind damit gemäß § 121 VwGO, der auch auf Beschlüsse des vorläufigen Rechtsschutzes Anwendung findet, an die vorliegende Entscheidung gebunden und haben an ihrer Umsetzung mitzuwirken.

Nachdem die Antragsgegnerin auf die entsprechende Anfrage der Kammer mit Telefax vom 26. September 2011 mitgeteilt hat, dass der Antragsteller, wäre er in der Wartezeitquote ausgewählt worden, einen Studienplatz an der Medizinischen Hochschule I. erhalten hätte, hält die Kammer es für sachgerecht, dass der Antragsteller aufgrund der einstweiligen Anordnung (vorläufig) einen Studienplatz an dieser Hochschule erhält. Denn der Antragsteller ist vorläufig so zu stellen, wie er ohne den Verfassungsverstoß gestanden hätte. Sollten jedoch an der Medizinischen Hochschule I. bereits heute, also vor dem ersten Nachrückverfahren, keine Studienplätze des ersten Fachsemesters Humanmedizin mehr zu vergeben sein, kann die Antragsgegnerin auch auf Studienplätze an den anderen medizinischen Fakultäten zurückgreifen, wobei die Antragsgegnerin sich an der von dem Antragsteller in seiner Bewerbung hinsichtlich der Wartezeitquote aufgestellten Reihenfolge zu orientieren hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 52 Abs. 2 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 1 des Gerichtskostengesetzes und entspricht der Praxis des erkennenden Gerichts in Verfahren der vorliegenden Art.

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