OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.08.2011 - 12 A 2087/10
Fundstelle
openJur 2012, 81284
  • Rkr:
Tenor

Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auch für das Zulassungsverfahren auf 89.530,40 € festgesetzt.

Gründe

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung ist unbegründet.

Das Zulassungsvorbringen rechtfertigt nicht die zunächst geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne des

§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Es stellt insbesondere nicht die von der Klägerin gerügte Annahme des Verwaltungsgerichts in Frage, der Klägerin sei die Berufung auf das Verstreichen der Jahresfrist nach § 47 Abs. 2 Satz 5 i. V .m. § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X aus Gründen von Treu und Glauben verwehrt, weil dies in einem unlösbaren Widerspruch zu ihrem früheren Verhalten stehe.

Die Behauptung der Klägerin, das Verwaltungsgericht habe nicht berücksichtigt, dass die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 SGB X (auch) der Rechtssicherheit und nicht nur dem Vertrauensschutz diene, trifft nicht zu. Das Verwaltungsgericht hat im Gegenteil seine Überlegungen zum Verstoß gegen Treu und Glauben maßgeblich an den Gesichtspunkt der Rechtssicherheit angeknüpft und festgestellt, dass Interessen der Rechtssicherheit wegen des widersprüchlichen Verhaltens der Klägerin nicht berührt seien. Dieser Vortrag geht im Übrigen auch deshalb ins Leere, weil das Verwaltungsgericht in einem ersten Schritt von der die Klägerin begünstigenden Anwendbarkeit der Jahresfrist auf den vorliegenden Sachverhalt ausgegangen ist und auch zugunsten der Klägerin angenommen hat, dass diese im Zeitpunkt des Widerrufs verstrichen war.

Die in einem zweiten Schritt erfolgte Prüfung, ob diese objektiv gegebene Rechtslage auch den Anforderungen des Grundsatzes von Treu und Glauben im Sinne des § 242 BGB entspricht, scheidet auch - anders als die Klägerin meint - nicht deshalb aus, weil die Einhaltung der Jahresfrist der §§ 47 Abs. 2 Satz 5, 45 Abs. 4 SGB X eine zwingende Vorgabe des Widerrufs ist.

Dass der Grundsatz von Treu und Glauben das gesamte öffentliche Recht einschließlich des Sozialrechts beherrscht, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundessozialgerichts und des Bundesverfassungsgerichts anerkannt.

Vgl. schon BSG, Urteil vom 25. Januar 1972 - 9 RV 238/71, juris; Urteil vom 25. Juni 2009 - B 10 EG 3/08 R -, NJW 2010, 1484, juris; z.B. BVerwG, Urteil vom 29. Juni 1990 - 8 C 22/89 -, BVerwGE 85, 213, juris, Beschluss vom 12. Januar 2004 - 3 B 101/03 -, NVwZ-RR 2004, 314, juris; Beschluss vom 1. April 2004 - 4 B 17/04 -, Buchholz 310 § 137 Abs. 1 VwGO Nr. 21, juris; Beschluss vom 22. April 2004 - 6 B 8/04 -, juris; Beschluss vom 1. Februar 2005 - 7 B 115/04 -, juris; Urteil vom 29. Januar 2009 - 4 C 15/07 -, BVerwGE 133, 85, juris; Beschluss vom 19. April 2011 - 4 BN 4/11 -, juris; Grüneberg, in: Palandt. BGB, 70. Auflage 2011, § 242, Rn. 17; Mansel, in: Jauernig, BGB,. 13. Auflage 2009, § 242, Rn. 11.

Der Maßstab von Treu und Glauben bildet auch eine allen Rechten, Rechtsstellungen, Rechtslagen, Rechtsinstituten und Rechtsnormen immanente Inhaltsbegrenzung.

Vgl. Grüneberg, in: Palandt, BGB, 70. Auflage 2011, § 242, Rn. 38; Mansel, in: Jauernig, BGB, 13. Auflage 2009, § 242, Rn. 32, jeweils m.w.N.

Eine Beschränkung dieses Grundsatzes von vorneherein nur auf disponibles Recht, wie sie die Klägerin wohl annimmt, besteht daher nicht.

Die Geltung dieses Grundsatzes im öffentlichen Recht ist unumschränkt und umfasst u.a. das vom Verwaltungsgericht herangezogene Institut der unzulässigen Rechtsausübung. Dessen Anwendungsbereich ist im öffentlichen Recht auch nicht nur oder - wie die Klägerin wohl annimmt - überwiegend auf die Fälle der sog. Verwirkung beschränkt. Vielmehr sind - neben anderen hier nicht einschlägigen Fallgruppen - auch die Fälle widersprüchlichen Verhaltens ("venire contra factum proprium") erfasst.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. August 1996 - 4 B 135/96 -, BauR 1997, 281, juris

Das Verwaltungsgericht hat auch zu Recht einen Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben in Form der unzulässigen Rechtsausübung angenommen.

Unzulässige Rechtsausübung ist jede Geltendmachung eines "an sich" gegebenen Rechts oder jede Ausnutzung einer "an sich" gegebenen Rechtsposition oder - wie hier - jede Berufung auf eine "an sich" gegebenen Rechtslage, die im Widerspruch zu den Anforderungen von Treu und Glauben steht. Der Begriff der Treue verweist dabei auf die Rechtstugenden der Verlässlichkeit, der Zuverlässigkeit, des Worthaltens, der Rücksichtnahme und der Loyalität, während der Begriff des Glaubens das Vertrauen des anderen Teils auf diese Treue meint.

Vgl. Grüneberg, in: Palandt, BGB, 70. Auflage 2011, § 242, Rn. 4 und 38; Mansel, in: Jauernig, BGB, 13. Auflage 2009, § 242, Rn. 3 und 38.

Eine Rechtsausübung ist gemessen hieran unzulässig, wenn entweder ein unredliches früheres Verhalten vorliegt, ein schutzwürdiges Eigeninteresse fehlt, eine nur geringfüge Interessenverletzung gegeben ist oder wenn widersprüchliches Verhalten vorliegt. Widersprüchliches Verhalten ist missbräuchlich, wenn entweder für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand entstanden ist oder wenn andere besondere Umstände die Rechtausübung als treuwidrig erscheinen lassen. Auch, wenn kein besonderer Vertrauenstatbestand zugunsten des anderen Beteiligten begründet worden ist, kann widersprüchliches Verhalten daher unzulässig sein, wenn der Berechtigte aus seinem früheren Verhalten erhebliche Vorteile gezogen hat oder wenn sein Verhalten sonst zu einem unlösbaren Selbstwiderspruch führt.

Vgl. Grüneberg, in: Palandt, BGB, 70. Auflage 2011, § 242, Rn. 38ff. 55ff.; Mansel, in: Jauernig, BGB, 13. Auflage 2009, § 242, Rn. 32ff, 48ff.; BGH, Urteil vom 20. September 1995 - 8 ZR 52/94 -, BGHZ 130, 371, juris.

Dies zu Grunde gelegt kann die Klägerin sich nicht auf den wegen des Ablaufs der Jahresfrist verspäteten Erlass des Widerrufs berufen. Sie setzt sich damit treuwidrig in einen unlösbaren Selbstwiderspruch zu ihrem früheren Verhalten. Der Klägerin ist hier insbesondere das Ausnutzen des ihr ab dem 1. September 2005 vom Beklagten gewährten Aufschubs des Widerrufs entgegen zu halten. Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, dass dieser Aufschub (nur) auf ihre Anregung hin und ausschließlich zu ihren Gunsten erfolgte, und zum anderen, dass die Klägerin dabei von einem so nicht geschuldeten Entgegenkommen des Beklagten profitierte, trotz ihrer Verstöße gegen Zuwendungsvorgaben eine kooperative und für sie trag- und zumutbare Rückabwicklung des Zuwendungsverhältnisses durchzuführen. Bei dieser Sachlage entspricht es jedoch dem Gebot der Loyalität, nur aufgrund des gewährten Aufschubs beim Beklagten eingetretene Rechtsnachteile außer acht zu lassen.

Dafür, dass sie - wie die Klägerin im Zulassungsverfahren vorträgt - davon ausgegangen sein will, dass allenfalls eine Verzögerung von zwei Jahren und nicht von vier Jahren zu erwarten sei, gibt weder der Gesprächsvermerk vom 1. September 2005 noch das Bestätigungsschreiben vom 8. September 2005 etwas her. Ungeachtet dessen muss die Klägerin sich insoweit entgegenhalten lassen, dass sie den ihr bedingungslos gewährten Vorteil, von Rückzahlungsansprüchen zunächst verschont zu bleiben, tatsächlich bis zu dem von ihr gewünschten Termin - dem Vorliegen der abschließenden Prüfung des Verwendungsnachweises - in Anspruch genommen hat, obwohl der Beklagte sie schon in dem Schreiben vom 8. September 2005 darauf hingewiesen hatte, dass ein früherer Widerruf und eine frühere Rückzahlung bei einem entsprechenden Sinneswandel der Klägerin jederzeit, d.h. auch vor der abschließenden Prüfung des Verwendungsnachweises, möglich sei. Darauf, ob die Klägerin durch ihr Verhalten beim Beklagten auch das Vertrauen begründet hat, sie werde sich nicht auf den Ablauf der Jahresfrist berufen, kommt es angesichts dieses Treueverstoßes ebenso wenig an wie darauf, ob der Beklagte sich auf eine solches Vertrauen berufen könnte. Das Verwaltungsgericht hat zur Recht auch nicht hierauf abgestellt.

Der Wertung, das Verhalten der Klägerin sei treuwidrig, steht schließlich auch nicht ein treuwidriges Verhalten des Beklagten seinerseits entgegen. Ein Treueverstoß liegt insbesondere nicht darin, dass der Beklagte die Rückforderungsansprüche gegen die Klägerin nicht wie gewünscht in "einem Paket" abgewickelt hat, sondern mit Bescheid vom 23. September 2008 den Zuwendungsbescheid Nr. 72/17/97 wegen zweckwidriger Verwendung der Mittel - nämlich Durchführung einer eingestreuten, statt einer solitären Kurzzeitpflege - vor der abschließenden Prüfung des Verwendungsnachweises im März 2009 teilweise widerrufen hat. Der Beklagte hat in dem, das Ergebnis der Besprechung vom 1. September 2005 zusammenfassenden und bestätigenden Schreiben vom 8. September 2005 nämlich lediglich zugesagt, er werde die angekündigte Rückforderung aufgrund der vorliegenden Verstöße gegen die VOL bis zum endgültigen Abschluss der Verwendungsnachweisprüfung zurück stellen. Die erst ab dem 1. Januar 2007 erfolgte zweckwidrige Verwendung der Mittel war nicht und konnte auch nicht Gegenstand dieser Zusage des Beklagten sein. Hinsichtlich der Vergabeverstöße, die allein Anlass und Gegenstand der Besprechung vom 1. September 2005 und des Schreibens vom 8. September 2005 waren, hat der Beklagte seine Zusage vollumfänglich eingehalten und diese "im Paket" rückabgewickelt. Wenn die Klägerin im Zusammenhang mit der Abwicklung der neuen Verstöße auch die vorzeitige Abwicklung der früheren Verstöße gewünscht haben sollte, oblag es ihr, den Beklagten auf diesen Sinneswandel hinzuweisen.

Die Sache weist auch keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO auf. Die Frage, ob die Grundsätze, die die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung für den Beginn des Laufs der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG entwickelt hat, auch im Sozialrecht und dort auf die Vorschrift des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X anwendbar sind, stellt sich vorliegend nicht. Das Verwaltungsgericht ist nämlich von dem - für die Klägerin günstigen - Ablauf der Frist ausgegangen. Vor diesem Hintergrund ist auch die weitere Frage, ob die Vorschrift des § 45 SGB X nur dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit oder auch dem Vertrauensschutz der Beteiligten dient, nicht entscheidungserheblich. Dass der Grundsatz von Treu und Glauben im gesamten öffentlichen Recht - und damit auch im Zusammenhang mit Rücknahme- oder Widerrufentscheidungen nach §§ 44ff. SGB X - gilt, ist nach der oben angeführte Rechtsprechung als geklärt anzusehen. Die inzident enthaltene weitere Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Verstoß gegen Treu und Glauben gegeben ist, ist von der Würdigung der konkrete Umstände des Einzelfalls abhängig und entzieht sich einer abstrakten und allgemein gültigen Beantwortung.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO; die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 3, 52 Abs. 3 GKG. Sie entspricht der Höhe nach dem geltend gemachten Interesse der Klägerin an der Aufhebung des Widerrufs- und Erstattungsbescheides vom 16. März 2010.

Mit diesem Beschluss, der nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar ist, wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).