OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.05.2011 - 12 A 2844/10
Fundstelle
openJur 2012, 79718
  • Rkr:
Tenor

Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

Der Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, weil keiner der geltend gemachten Zulassungsgründe gegeben ist.

Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu ernstlichen Zweifeln im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Es vermag die entscheidungstragende Annahme des Verwaltungsgerichts, die Inobhutnahme sei zu Beginn des Heranziehungszeitraumes nicht mehr rechtmäßig gewesen, weil sie zu diesem Zeitpunkt durch die Gewährung von Hilfen nach dem SGB VIII - etwa von Hilfe zur Erziehung - bereits hätte abgelöst sein müssen, nachdem ein Hilfeplanverfahren durchlaufen und ein gegebenenfalls fehlendes Einverständnis der Sorgeberechtigten mit der vorgesehenen Hilfemaßnahme auf Initiative des Jugendamtes durch eine familiengerichtliche Entscheidung ersetzt worden sei, nicht in Frage zu stellen.

Es tritt nicht zu, wenn der Beklagte mit seinem Zulassungsvorbringen sinngemäß die Auffassung vertritt, eine Inobhutnahme sei solange rechtmäßig solange wie sie noch nicht beendet sei. § 42 Abs. 4 SGB VIII regelt nur, wann eine Inobhutnahme endet, und nicht, welchen Anforderungen sie zuvor genügen muss.

Wenn der Beklagte ferner meint, die Dauer der Inobhutnahme habe eine ausreichende Rechtfertigung in der Verzögerung des familienrechtlichen Verfahrens vor dem Amtsgericht - Familiengericht - in X. durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens gefunden, übersieht er seine Verpflichtungen, die sich aus § 42 Abs. 3 SGB VIII ergeben. Nach § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIII hat das Jugendamt - widersprechen die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten der Inobhutnahme - unverzüglich eine Entscheidung des Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohle des Kindes oder des Jugendlichen herbeizuführen. Aufgabe des Familiengerichtes ist es dann nicht, die Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme zu überprüfen oder lediglich ihre Fortdauer anzuordnen. Das Familiengericht hat vielmehr die notwendigen sorgerechtlichen Maßnahmen im Anschluss an die Eilmaßnahme der Inobhutnahme zu treffen. Kann es keine solche endgültige Entscheidung zu einem Eingriff in das Sorgerecht der Eltern zur Durchsetzung einer Anschlusshilfe treffen und hält es dennoch bis zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes einen Verbleib des Kindes- und Jugendlichen in fremder Obhut für erforderlich, hat es den Eltern zur Ermöglichung einer Anschlusshilfe vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht und regelmäßig das Recht zur Beantragung von Leistungen zur Hilfen zur Erziehung oder der Eingliederungshilfe nach §§ 27 ff. bzw. § 35a SGB VIII zu entziehen.

Vgl. DIJuF Rechtsgutachten vom 31. März 2008

- J 6.200 Ad - JAmt 2008, 250 (251/252) m.w.N.

Auch eine solche vorläufige Entscheidung des Familiengerichts hat das Jugendamt gegebenenfalls anzuregen. Dies ist letzlich auch dem Umstand geschuldet, dass der Zweck der Inobhutnahme nicht auf eine akute Notversorgung beschränkt ist, sondern ihr auch eine Clearing-Funktion im Hinblick auf die geeignete und notwendige Anschlusshilfe zukommt.

Vgl. etwa Wiesner, SGB VIII, 3. Auflage 2006, § 42 Rdnr. 40 m.w.N.; Trenczek in: SK-SGB VIII, 6. Auflage 2009, § 42 Rdnr. 27 m.w.N.

Dass der Beklagte im Verfahren vor dem Amtsgericht - Familiengericht - in X. auf eine vorläufige Entscheidung zur Ermöglichung einer Anschlusshilfe zur Überbrückung der Zeitdauer, die die Anfertigung eines familienpsychologischen Gutachtens in Anspruch nehmen würde, gedrängt hat, ist aber weder von der Beklagtenseite vorgetragen worden, noch sonstwie aus den dem Senat vorliegenden Akten ersichtlich.

Widersprechen die Personensorgeberechtigten der Inobhutnahme nicht, so ist nach § 42 Abs. 3 Satz 5 SGB VIII vom Jugendamt unverzüglich ein Hilfeplanverfahren mit dem Ziel der Gewährung einer Anschlusshilfe einzuleiten. Stellen die Sorgeberechtigten im Rahmen des Hilfeplanverfahrens keinen Antrag auf die sich als notwendig erweisende Anschlusshilfe - etwa von Hilfe zur Erziehung - muss zur Klärung der Situation und zur Beendigung der Inobhutnahme in gleicher Weise vom Jugendamt eine Entscheidung des Gerichts zur Legitimierung des Sorgerechtseingriff herbeigeführt werden.

Vgl. auch: Bohnert, in: Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand Januar 2011, SK § 42 Rdnr. 22; DIJUF-Rechtsgutachten vom 31. März 2008 - J 6.200 Ad - a.a.O., S. 252.

Auch wenn § 42 Abs. 4 Nr. 2 SGB VIII so ausgelegt werden muss, dass eine Inobhutnahme erst beendet ist, wenn eine Überleitung in eine andere Hilfe tatsächlich erfolgt ist,

vgl. Trenczek, in: SK-SGB VIII, a.a.O. Rdnr. 43,

hängt die Rechtmäßigkeit der fortdauernden Inobhutnahme davon ab, dass das Jugendamt unverzüglich dafür Sorge trägt, dass das Familiengericht das fehlende Einverständnis der Sorgeberechtigten mit den für erforderlich anzusehenden Anschlussmaßnahmen ersetzt. Nur eine überlange Dauer eines solchen - zumindest auf eine vorläufige Anschlusshilfe gerichteten - Verfahrens vor dem Familiengericht hat auf die Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme keinen Einfluss, so dass es hier auf die endgültige Entscheidung des Amtsgerichts - Familiengerichts - X. vom 11. November 2009 im Verfahren F zum Aufenthaltsbestimmungsrecht sowie zum Recht der Gesundheitsvorsorge für die Tochter der Klägerin nicht ankommt.

Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen trifft es auch nicht zu, dass der Beklagte erst Mitte Februar 2010, nachdem die Klägerin und der Kindesvater in der öffentlichen Sitzung des Amtsgerichts - Familiengerichts - X. vom 17. Februar 2010 im Verfahren F ihr Einverständnis damit erklärt hatten, dass T. in dem N. N1. wohne und sich dort in Vollzeitpflege in Form von Heimerziehung befinde, die Gewährung der entsprechenden Hilfe zur Erziehung in die Wege leiten und damit die Inobhutnahme beenden konnte. Vielmehr hätte der Beklagte eine vorläufige Entscheidung des Familiengerichts, mit der das bis dahin fehlende Einverständnis der Eltern ersetzt worden wäre, initiieren können und müssen.

Eine Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Ziffer 2 VwGO kommt nicht in Betracht, da der Beklagte nicht i. S. v. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt hat, worin konkret besondere Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Art bestehen sollen.

Die Berufung kann auch nicht nach § 124 Abs. 2 Ziffer 3 VwGO zugelassen werden. Die Sache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr von Seiten des Beklagten zugemessen wird.

Die von der Beklagten als grundsätzlich aufgeworfene Frage zu 1.,

"welche Anforderungen sind an die Beendigung der Inobhutnahme im Sinne des § 42 Abs. 5 SGB VIII zu stellen?",

stellt sich im vorliegenden Verfahren nach Maßgabe der obigen Ausführungen von vornherein nicht. Entsprechendes gilt für die von dem Beklagten unter 3. aufgeworfene Frage

"wie ist die Tatbestandsvoraussetzung "Entscheidung über die Gewährung von Hilfen" des § 42 Abs. 5 SGB VIII auszulegen?"

Abgesehen davon, dass es hier nicht auf die Beendigung der Inobhutnahme und damit auch nicht auf deren Ausformung nach § 42 Abs. 4 Nr. 2 SGB VIII ankommt, wird der Wortlaut dieser Vorschrift von Rechtsprechung und Literatur einhellig dahingehend verstanden, dass eine Inobhutnahme erst beendet ist, wenn eine Überleitung in eine andere Hilfeform tatsächlich erfolgt ist.

Schließlich bedarf auch die Frage zu 2.,

"wie wirkt sich die Dauer eines familiengerichtlichen Verfahrens, sofern sich selbiges durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens verzögert, auf die Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme aus?"

für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits keiner Beantwortung, weil ein berücksichtigungsfähiges familiengerichtliches Verfahren zur vorläufigen Regelung nach den oben stehenden Ausführungen vom Beklagten nicht eingeleitet worden ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.

Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist nunmehr rechtskräftig (§ 124 Abs. 5 Satz 4 VwGO).

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