OLG Köln, Beschluss vom 17.05.1994 - Ss 169/94 (B) - 93 B
Fundstelle
openJur 2012, 74324
  • Rkr:
Tenor

Das angefochtene Urteil wird mit seinen Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Bergisch Gladbach zurückverwiesen.

Gründe

 

Das Amtsgericht hat den Betroffenen

wegen vorsätzlicher Óberschreitung der zulässigen

Höchstgeschwindigkeit (§§ 41 Abs. 2 Nr. 7 - Zeichen 274 -, 49 Abs.

3 Nr. 4 StVO i.V.m. § 24 StVG) zu einer Geldbuße von 400,-- DM

verurteilt. Es hat folgende Feststellungen getroffen:

 

 

"Der Betroffene befuhr am 4. Juni 1993

gegen 19.12 Uhr die Landstraße L . in R. Ra. in Fahrtrichtung R..

Auf dieser Strecke ist die zulässige Höchstgeschwindigkeit durch

Zeichen 274 zu § 41 StVO auf 60 km/h begrenzt. Diese

Geschwindigkeitsbeschränkung war dem Betroffenen, der die Strecke

täglich benutzt, bekannt. Auf der Gegenfahrbahn näherte sich dem

Fahrzeug des Betroffenen ein Kleintransporter mit offener

Ladefläche, auf der sich mehrere, nicht besonders gegen Herabfallen

gesicherte Schaltafeln befanden. Eine dieser Holztafeln fiel von

der Ladefläche des Transporters herab und verfehlte das Fahrzeug

des Betroffenen in Höhe der Windschutzscheibe. Der Betroffene

setzte seine Fahrt zunächst ein Stück fort, wendete alsdann bei der

nächsten Möglichkeit sein Fahrzeug und fuhr dem Kleintransporter

sodann mit erhöhter Geschwindigkeit nach, um den Fahrer auf den

verkehrswidrigen Zustand der Ladung aufmerksam zu machen. Hierbei

nahm er die Óberschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit

zumindest billigend in Kauf. Nicht feststellbar ist, ob weitere

Ladung von dem Transporter herabzufallen drohte und hierbei in

unmittelbarer Nähe befindliche Verkehrsteilnehmer gefährdet worden

sind. In Höhe der auf der L ... befindlichen stationären

Geschwindkeitsmeßanlage betrug die Geschwindigkeit seines

Fahrzeugs abzüglich eines Toleranzwerts 111 km/h."

 

Dem Argument des Betroffenen, der

Geschwindigkeitsverstoß, den er einräume, sei nach dem

festgestellten Sachverhalt gemäß § 16 OWiG wegen Notstands

gerechtfertigt gewesen, hat sich das Amtsgericht nicht

angeschlossen. Es hat vielmehr die Auffassung vertreten, eine

Gefahr für Leib, Leben, Gesundheit oder Eigentum habe zur Tatzeit

weder für den Betroffenen selbst noch für andere

Verkehrsteilnehmer bestanden, weil nicht feststellbar gewesen sei,

daß weitere Schaltafeln herabgefallen seien oder ein solches

Ereignis unmittelbar bevorgestanden habe. Durch die ungesicherte

Ladung einerseits und die Geschwindigkeitsüberschreitung

andererseits sei gleichermaßen lediglich eine Gefährdung der

allgemeinen Verkehrssicherheit hervorgerufen worden. Somit könne

nicht davon ausgegangen werden, daß - wie nach § 16 OWiG

erforderlich - das geschützte Interesse das beeinträchtigte

wesentlich überwiege. Auch eine Pflichtenkollision habe nicht

vorgelegen, weil dem Betroffenen keine Verpflichtung oblegen habe,

die Verfolgung des Kleintransporters aufzunehmen, um ein erneutes

Herabfallen von Ladung zu verhindern. Soweit der Betroffene

irrtümlich angenommen habe, zur Gefahrenabwehr die Geschwindigkeit

überschreiten zu dürfen, handele es sich um einen vermeidbaren

Verbotsirrtum, weil als allgemein bekannt gelten müsse, daß

Gefahrenabwehr Sache der hierfür zuständigen Behörden sei. Mit

Rücksicht auf die geringere Vorwerfbarkeit der Tat wegen des

vermeidbaren Verbotsirrtums sei es angemessen, statt der für eine

vorsätzliche Zuwiderhandlung dieser Art regelmäßig zu verhängenden

Geldbuße von 600,-- DM (Regelsatz für eine Fahrlässigkeitstat nach

5.3.5 des Buß-geldkatalogs: 300,-- DM) eine solche von 400,-- DM

festzusetzen und von der Anordnung des an sich verwirkten

Regelfahrverbots abzusehen.

 

Gegen dieses Urteil richtet sich die

Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er die Verletzung

formellen und materiellen Rechts rügt. Insbesondere macht er

geltend, das Amtsgericht habe mangels abweichender Feststellungen

im Zweifel zu seinen Gunsten von einer gerechtfertigten

Notstandshilfe, jedenfalls aber von einem Putativnotstand infolge

unverschuldeten Irrtums, ausgehen müssen, weshalb unter Aufhebung

der angegriffenen Entscheidung auf Freispruch zu erkennen sei.

 

Das zulässige Rechtsmittel hat mit der

Sachrüge (vorläufigen) Erfolg. Es führt zur Aufhebung des Urteils

und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz. Die

Verfahrensrüge bedarf danach keiner Erörterung.

 

Die Urteilsfeststellungen belegen, daß

der Betroffene, wie er selbst einräumt, am 4. Juni 1993 gegen

19.12 Uhr auf der L ... in R.-Ra. mit seinem Pkw die dort geltende

zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h zumindest bedingt

vorsätzlich um vorwerfbare 51 km/h überschritten und damit den

Tatbestand der §§ 41 Abs. 2 Nr. 7 - Zeichen 274 -, 49 Abs. 3 Nr. 4

StVO i.V.m. § 24 StVG erfüllt hat. Diese Ausführungen sind frei von

Rechtsfehlern.

 

Soweit das Amtsgericht dagegen den

Rechtfertigungsgrund des § 16 OWiG verneint hat, halten die

Feststellungen und Erwägungen zu diesem Punkt der rechtlichen

Nachprüfung nicht stand. Sie lassen vielmehr besorgen, daß der

Tatrichter die Voraussetzungen und den Anwendungsbereich des

rechtfertigenden Notstandes verkannt hat.

 

Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 OWiG handelt

nicht rechtswidrig, wer in einer gegenwärtigen, nicht anders

abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder

ein anderes Rechtsgut eine Handlung begeht, um die Gefahr von sich

oder einem anderen abzuwenden, wenn bei Abwägung der

widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen

Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das

geschützte Interesse das beinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies

gilt jedoch nur, soweit die Handlung ein angemessenes Mittel ist,

die Gefahr abzuwenden (§ 16 Satz 2 OWiG).

 

In Rechtsprechung und Literatur ist

einhellig anerkannt, daß der Rechtfertigungsgrund des § 16 OWiG

auch bei Verletzung von Verkehrsvorschriften Anwendung findet (vgl.

OLG Köln VRS 75, 116; 64, 298; 59, 53; OLG Düsseldorf VRS 82, 204,

205; 81, 468, 469; BayObLG DAR 1992, 368; VRS 80, ...;

KK-OWiG-Rengier § 16 Nr. 3; Göhler, OWiG, 10. Aufl., § 16 Rn. 2;

Jagusch/Hentschel, StVR 32. Aufl. Einl. 117, 118; jeweils

m.w.N.).

 

§ 16 Satz 1 OWiG erfordert zunächst

eine Notstandslage, d.h. eine gegenwärtige Gefahr für ein

Rechtsgut, die nicht anders als durch Verletzung eines anderen

Rechtsgutes abwendbar ist (vgl. OLG Düsseldorf VRS 81, 468,

470).

 

Eine gegenwärtige Gefahr ist gegeben,

wenn nach menschlicher Erfahrung bei natürlicher Weiterentwicklung

der gegebenen Sachlage der Eintritt einer Schädigung sicher,

zumindest aber höchstwahrscheinlich ist, wenn nicht alsbald

Abwehrmaßnahmen ergriffen werden (vgl. BGHSt 18, 271; Rengier

a.a.0. § 16 Rn. 12; Göhler a.a.0. § 16 Rn. 3). Hingegen genügt die

bloße Möglichkeit oder gar die fernere Möglichkeit einer Schädigung

nicht (vgl. BGHSt 19, 371).

 

Gegenwärtig ist eine Gefahr nicht nur,

falls die Schädigung bereits begonnen hat, sondern schon dann, wenn

sie unmittelbar oder in nächster Zeit bevorsteht (vgl. BGH NStZ

1988, 554; OLG Düsseldorf a.a.0.; Rengier a.a.0. § 16 Rn. 14).

Auch eine Dauergefahr kann hiernach gegenwärtig sein. Darunter ist

ein Zustand zu verstehen, bei dem die Gefahr jederzeit - also auch

alsbald - in einen Schaden umschlagen kann, mag auch die

Möglichkeit offen bleiben, daß der Eintritt des Schadens noch eine

Zeitlang auf sich warten läßt (vgl. BGH NJW 1979, 2053, 2054;

Rengier a.a.0. § 16 Rn. 14).

 

Das Amtsgericht hat eine (konkrete)

Gefahr für den Betroffenen selbst oder andere Verkehrsteilnehmer

als "nicht feststellbar" verneint und lediglich eine (abstrakte)

Gefährdung der allgemeinen Verkehrssicherheit angenommen. Diese

Erwägungen sind unvollständig und insgesamt nicht frei von

Rechtsfehlern.

 

Daß der Betroffene selbst nach Meinung

des Amtsgerichts nicht (mehr) konkret gefährdet war, nachdem die

herabfallende Schaltafel sein Fahrzeug knapp verfehlt hatte, steht

der Annahme einer Notstandslage im Sinne von § 16 OWiG nicht

entgegen. Das bedrohte Rechtsgut muß nicht dem Eingreifenden,

sondern kann nach § 16 Satz 1 OWiG auch "einem anderen" zustehen

("Notstandshilfe"; vgl. Rengier a.a.0. § 16 Rn. 8). Hier kommen als

schützenswerte Rechtsgüter u.a. die Gesundheit, die körperliche

Unversehrtheit und das Eigentum von Passanten oder sonstigen

Verkehrsteilnehmern in Betracht, die von weiteren herabfallenden

Teilen der ungesicherten Ladung getroffen, verletzt oder sonstwie

beeinträchtigt werden konnten. Soweit das Amtsgericht nicht

festzustellen vermochte, ob solche Schäden bei anderen tatsächlich

eingetreten sind, schließt das eine Notstandshilfe nicht aus. Wie

dargelegt genügt bereits die konkrete Gefahr einer

Schadensentstehung, wobei das Gefahrurteil allerdings nicht dem

subjektiven Standpunkt des - möglicherweise irrenden - Täters

folgt, sondern dem nachträglich getroffenen Urteil eines

sachverständigen Beobachters in der konkreten Handlungssituation,

der mit etwaigem Spezialwissen des Täters ausgestattet ist (vgl.

Rengier a.a.0., § 16 Rn. 12 m.w.N.). Danach reicht der bloße

Hinweis des Amtsgerichts, es sei "nicht feststellbar" gewesen, daß

eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer durch Herabfallen

weiterer Schaltafeln unmittelbar bevorstand, nicht aus, um eine

objektive Gefahrenlage im Sinne des § 16 Satz 1 OWiG

rechtsfehlerfrei zu verneinen. Der Tatrichter darf nicht "im

Zweifel" zuungunsten des Betroffenen entscheiden (vgl. Rengier

a.a.0. § 12 Rn. 128). Er muß vielmehr auf der Grundlage einer

Gesamtwürdigung der festgestellten Indizien eine Gefahrenprognose

treffen (vgl. Rengier a.a.0. § 16 Rn. 12). Daran fehlt es hier. Das

Amtsgericht hat nicht positiv festgestellt, daß nach der

Beschaffenheit von Lkw und Ladung objektiv kein Herabfallen

weiterer Schaltafeln (mehr) zu befürchten war. Ebensowenig finden

sich im Urteil nähere Ausführungen dazu, daß andere

Verkehrsteilnehmer weder im Gefahrenbereich gewesen seien noch bei

planmäßiger Fortentwicklung der Ereignisse ohne das Einschreiten

des Betroffenen dorthin gelangt wären. Im Gegenteil spricht die vom

Amtsgericht als erwiesen angesehene Tatsache, daß unmittelbar vor

dem Fahrzeug des Betroffenen eine Schaltafel von der Ladefläche des

entgegenkommenden Lkw herabfiel und den Pkw nur knapp verfehlt hat,

nach der Lebenserfahrung dafür, daß die unter anderem aus mehreren

Schaltafeln bestehende Ladung ungesichert war und daher

jederzeit, etwa nach einem Bremsmanöver oder durch

Fahrzeugbewegungen infolge von Bodenunebenheiten, ins Rutschen

geraten und von der offenen Ladefläche geschleudert werden konnte.

Mit dieser naheliegenden Möglichkeit hat sich das Amtsgericht im

Rahmen seiner Prognoseentscheidung ebensowenig auseinandergesetzt

wie mit dem Erfahrungssatz, daß an einem Werktag (Freitag, dem 4.

Juni 1993) gegen 19.12 Uhr der Verkehr auf den Landstraßen im

Einzugsbereich von Köln regelmäßig noch nicht so abgeflaut ist, daß

man - wie etwa zur Nachtzeit - ernsthaft annehmen könnte, eine

Begegnung des gefahrträchtigen Lkw mit anderen Verkehrsteilnehmern

werde nicht stattfinden. Hätte das Amtsgericht unter diesen

Umständen eine objektive Gefahrenlage gleichwohl verneinen wollen,

wäre es erforderlich gewesen, die näheren Einzelheiten des gesamten

Vorgangs (z.B. Bauart des Transporters, Beschaffenheit und

Anordnung der Ladung, Verkehrsverhältnisse zur Tatzeit) durch

Befragung des Betroffenen, der als einzige Auskunftsquelle zur

Verfü-gung steht, zu ermitteln, im Urteil darzustellen und

nachvollziehbar zu begründen, weshalb trotz der oben angeführten

gegenteiligen Beweisanzeichen eine objektive Gefahrenlage nicht

gegeben sein soll. Eine erschöpfende Beweiswürdigung, die alle

maßgeblichen Gesichtspunkte einbezieht und dadurch eine rechtliche

Nachprüfung ermöglicht (vgl. KK-OWiG Senge § 71 Rn. 81 m.w.N.),

liegt hier nicht vor. Schon deshalb kann das angefochtene Urteil

keinen Bestand haben.

 

Selbst wenn eine - allein dem

Tatrichter obliegende (vgl. KK OWiG-Steindorf § 79 Rn. 125 m.w.N.)

- vollständige Beweiswürdigung rechtsfehlerfrei ergeben hätte, daß

eine objektive Gefahrenlage nicht vorhanden war, hätte der

Tatrichter erörtern müssen, ob der Betroffene aufgrund der ihm

bekannten Indizien (Herabfallen einer Schaltafel unmittelbar vor

seinem Wagen) irrtümlich und schuldlos Tatsachen angenommen hat,

die sein Vorgehen als Putativnotstandshilfe gerechtfertigt

erscheinen lassen (vgl. Rengier a.a.0. § 16 Rn. 68 ff.). Auch dazu

fehlen indes hinreichende Feststellungen.

 

Lückenhaft ist das Urteil ferner,

soweit es um die Erforderlichkeit ("nicht anders abwendbar") der

Notstandshandlung geht. Diese muß geeignet und notwendig sein, die

Gefahrenlage zu beenden (vgl. Rengier a.a.0. § 16 Rn. 16). Wie bei

dem Gefahrurteil handelt es sich auch bei der

Erforderlichkeitsfrage um eine Prognoseentscheidung, die nach

sachverständigem expost-Urteil in der konkreten Handlungssituation

zu treffen ist (vgl. Rengier a.a.0). Hiernach ist das ausgewählte

Abwehrmittel ungeeignet, wenn es die Gefahr nicht beseitigen oder

allenfalls einen unwesentlichen Beitrag dazu leisten kann (vgl.

Regnier a.a.0. § 16 Rn. 17). So entfälllt die Eignung der

Rettungshandlung bei Geschwindigkeitsverstößen, wenn sie nur einen

unwesentlichen Zeitgewinn bringen (vgl. Rengier a.a.0.; Göhler

a.a.0. § 16 Rn. 8; jeweils m.w.N.). In diesem Zusammenhang hätte

das Amtsgericht prü-fen müssen, ob nach den örtlichen Gegebenheiten

der Plan des Betroffenen, dem Transporter nachzusetzen und dessen

Fahrer wegen der ungesicherten Ladung zu warnen, nicht ebensogut

auch ohne eine Óberschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit

durchführbar gewesen wäre. Sollte nämlich die

Geschwindkeitsbeschränkung nur auf einer verhältnismäßig kurzen

Strecke, etwa für eine Ortsdurchfahrt, bestanden haben, wäre das

vom Betroffenen verfolgte Ziel, den Transporter einzuholen, um den

Fahrer warnen zu können, insgesamt nur unbedeutend verzögert

worden, wenn er in diesem Bereich die vorgeschriebene

Höchstgeschwindigkeit eingehalten hätte. Etwas anderes würde nur

gelten, wenn er hätte befürchten müssen, bei einer Reduzierung der

Geschwindigkeit auf das zulässige Maß das verfolgte Fahrzeug aus

den Augen zu verlieren. Ob nach den örtlichen Verhältnissen Anlaß

für eine solche Besorgnis bestand, hätte das Amtsgericht im

einzelnen untersuchen müssen. Das ist unterblieben, so daß die

angefochtene Entscheidung auch in diesem Punkt unvollständig

ist.

 

Schließlich muß der Täter unter

mehreren zur Abwendung der Gefahr geeigneten Mitteln das mildeste

auswählen. Die Rechtfertigung gemäß § 16 OWiG entfällt demnach,

wenn weniger einschneidende Maß-nahmen den Gefahrzustand ebenso

rasch und wirksam wie das angewandte Mittel hätten beseitigen

können (vgl. OLG Köln VRS 64, 298; 75, 116; OLG Karlsruhe Justiz

1983, 346, 347; Rengier a.a.0. § 16 Rn. 18). Dabei ist namentlich

an die Inanspruchnahme staatlicher Hilfe zu denken (vgl. Rengier

a.a.0. § 16 Rn. 19). Auch diesen Gesichtspunkt hätte das

Amtsgericht anhand der Umstände des Einzelfalles näher erörtern

müssen. Allein der Hinweis, daß "Gefahrenabwehr Sache der hierfür

zuständigen Behören ist", genügt dafür erkennbar nicht.

 

Aus den dargelegten Gründen ist das

Urteil wegen materiellrechtlicher Unvollständigkeit aufzuheben.

Da nicht ausgeschlossen werden kann, daß sich in einer neuen

Verhandlung noch weitere, für eine Verurteilung insgesamt

ausreichende Feststellungen treffen lassen, ist die Sache gemäß §

79 Abs. 6 OWiG an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

 

Ergänzend wird bemerkt:

 

Soweit es um die Frage geht, ob der

Tatrichter überhaupt die Óberzeugung gewinnen kann, daß die vom

Betroffenen geschilderte Gefahrensituation vorgelegen hat, darf

auch das bei der Geschwindigkeitsmessung hergestellte Lichtbild in

die Gesamtwürdigung einbezogen werden. Rechtlich ist es nicht zu

beanstanden, wenn aus einem solchen Foto, dessen wesentlicher

Aussagegehalt dann knapp im Urteil darzustellen ist (vgl. § 267

Abs. 1 Satz 3 StPO; Senat NZV 1991, 122), denkgesetzlich mögliche

Schlüsse auf die Befindlichkeit der abgebildeten Person gezogen

werden. Bei einem Fahrer, der in ersichtlich entspannter Haltung

hinter dem Steuer sitzt und dieses nur mit einer Hand bedient, kann

gegebenenfalls ohne Rechtsfehler angenommen werden, daß er zur

Zeit der Lichtbildaufnahme keiner Streß-, Belastungs- oder

Gefahrensituation ausgesetzt war. Derartige Schlußfolgerungen,

sollten sie hier möglich sein, können allerdings das Ergebnis

regelmäßig nicht allein tragen, sondern bedürfen der Absicherung im

Rahmen einer eingehenden Würdigung aller Beweisanzeichen. Sollte

der Tatrichter unter Beachtung des Grundsatzes, wonach im Zweifel

zugunsten des Betroffenen zu entscheiden ist (vgl. Rengier a.a.0. §

11 Rn. 128 m.w.N.), zu der Óberzeugung gelangen, daß die vom

Betroffenen geschilderte Gefahrenlage bestanden hat, wird die

weitere Prüfung nach den oben angeführten Gesichtspunkten

vorzunehmen sein, wobei Eignung und Notwendigkeit der

Notstandshandlung auch von den örtlichen Gegebenheiten abhängen,

die im Urteil darzulegen sind. Sofern die genannten Voraussetzungen

des § 16 OWiG als erfüllt angesehen werden, hat schließlich eine

Abwägung der widerstreitenden Interessen stattzufinden (vgl. Göhler

a.a.0. § 16 Rn. 6 ff.), bei der auch zu berücksichtigen sein wird,

ob und inwieweit durch die Fahrweise des Betroffenen andere

gefährdet worden sind (vgl. OLG Hamm NJW 1977, 1892). Falls sich

Anhaltspunkte für einen vorsatzausschließenden

Erlaubnistatbestandsirrtum (Putativnotstand) ergeben sollten, etwa

weil der Betroffene unter falschen tatsächlichen Voraussetzungen

irrig vom Bestehen einer in Wirklichkeit nicht vorhandenen

Gefahrenlage oder von der tatsächlich nicht gegebenen

Erforderlichkeit der Notstandshandlung ausgegangen ist, wäre

außerdem zu prüfen, ob eine Ahndung wegen fahrlässiger

Óberschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in Betracht

kommt oder ob der Irrtum des Betroffenen als unverschuldet

angesehen werden kann.

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