SG Braunschweig, Urteil vom 23.05.2012 - S 6 KR 224/11
Fundstelle
openJur 2012, 69332
  • Rkr:

1. Gesetzlich Krankenversicherte haben auch in Wohnheimen der Hilfe für behinderte Menschen (§ 43a SGB XI) Anspruch auf häusliche Krankenpflege gemäß § 37 SGB V.2. Dieser Anspruch geht aber nicht weiter als wenn sie im eigenen Haushalt oder ihrer Familie leben würden; er ist durch § 37 Abs. 3 SGB V begrenzt.

Tenor

1. Die Bescheide der Beklagten vom 14. Dezember 2010, 30. Dezember 2010, 20. Januar 2011, 02. Februar 2011 und 04. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 2011 werden abgeändert.

2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin häusliche Krankenpflege nach ärztlicher Verordnung in Form des Verbandanlegens und -wechselns bei suprapubischem Katheter in der Zeit vom 01. Dezember 2010 bis 30. Juni 2011 zu gewähren.

3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

4. Die Beklagte hat der Klägerin und der Beigeladenen zu 1. die Hälfte der notwendigen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von häuslicher Krankenpflege in einer vollstationären Einrichtung der Hilfe für behinderte Menschen.

Die 1972 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Bei ihr besteht eine geistige Behinderung mit zahlreichen weiteren Behinderungen, z.B. Spastiken. Sie ist auf einen Rollstuhl angewiesen. In der gesetzlichen Pflegeversicherung ist Pflegestufe 3 anerkannt. Die Klägerin lebt im Wohnheim I., J. der Beigeladenen zu 1. Kostenträger ist die Beigeladene zu 2. In Anlage 2 des Wohn- und Betreuungsvertrags zwischen der Beigeladenen zu 1. und der Klägerin (Vorinformation zum Heimvertrag, zugleich auch Verbraucherinformation nach § 3 Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz - WBVG -), wird die Zielgruppe für die Wohnstätte I. wie folgt beschrieben: „Das Wohnangebot ist auch für Menschen mit Behinderungen geeignet, die einen erhöhten Hilfe- und Pflegebedarf haben, wie z.B. bei Bewegungseinschränkungen (Rollstuhl, Gehbehinderung) und/oder pflegerischem Unterstützungsbedarf.“ Unter „konzeptionelle Hinweise“ heißt es: „In der Wohnstätte können auch Menschen mit hohem Hilfebedarf Unterstützungsleistungen erhalten.“

Wegen eines Unfalls mit dem Rollstuhl befand sich die Klägerin in der Zeit vom 25. November bis 30. November 2010 stationär im Städtischen Klinikum J..

Am 13. Dezember 2010 stellte die Hausärztin K. eine ärztliche Verordnung zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung über einmal täglich Injektionen für die Zeit vom 01. Dezember bis 06. Dezember 2010 aus. Bereits am 07. Dezember 2010 hatte Frau K. eine ärztliche Verordnung für die Zeit vom 07. Dezember 2010 bis 01. Januar 2011 ausgestellt. Diese lautete über Injektionen einmal täglich und Verbandanlegen/-wechseln bei suprapubischem Katheter zweimal täglich.

Mit zwei Bescheiden vom 14. Dezember 2010 lehnte die Beklagte die mit den Verordnungen gestellten Anträge auf Gewährung entsprechender häuslicher Krankenpflege ab. Die Klägerin lebe und wohne in einer vollstationären Einrichtung der Hilfe für behinderte Menschen entsprechend § 43 a Sozialgesetzbuch, Elftes Buch -Gesetzliche Pflegeversicherung- (SGB XI). Anspruch auf häusliche Krankenpflege nach § 37 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch -Gesetzliche Krankenversicherung- (SGB V) bestehe deshalb nicht. Die Klägerin lebe weder in einem eigenen Haushalt noch sei das Wohnheim ein sonstiger geeigneter Ort im Sinne des § 37 SGB V.

Unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung der Hausärztin L. legte die Klägerin dagegen am 16. Dezember 2010 Widerspruch ein. Wegen des Unfalls sei sie vorübergehend bettlägerig. Bei Zustand nach Thrombose müsse sie deshalb Clexaneinjektionen erhalten. Außerdem sei regelmäßig der Verbandwechsel des bei ihr liegenden suprapubischen Katheters zur Harnableitung notwendig. Das Wohnheim, in dem sie lebe, sei kein Pflegeheim (§ 71 Abs. 4 SGB XI). Es sei eher einem eigenen Haushalt vergleichbar, also sonstiger geeigneter Ort im Sinne des § 37 SGB V.

Am 12. Januar 2011 hat die Klägerin Klagen gegen die beiden Ablehnungsbescheide vom 14. Dezember 2010 beim Sozialgericht Braunschweig erhoben. Die beiden Klageverfahren S 6 KR 11/11 und S 6 KR 12/11 wurden zum führenden Verfahren S 6 KR 11/11 miteinander verbunden und auf Antrag der Beteiligten ruhend gestellt. Die statistische Austragung erfolgte am 29. November 2011.

Im Ergebnis eines am 6. Dezember 2010 von der Klägerin anhängig gemachten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens bewilligte die Beklagte sodann häusliche Krankenpflege jeweils nach ärztlicher Verordnung unter dem Vorbehalt der Rückforderung je nach Ausgang des Hauptsacheverfahrens.

Im weiteren Verwaltungsverfahren beantragte die Klägerin bei der Beklagten unter Vorlage ärztlicher Verordnungen vom 20. Dezember 2010, 14. Januar 2011, 01. Februar 2011 und 31. März 2011 häusliche Krankenpflege in Form des Verbandanlegens und -wechselns bei suprapubischem Katheter und Setzen von Injektionen für die Zeit bis zum 30. Juni 2011. Mit Bescheiden vom 30. Dezember 2010, 20. Januar 2011, 02. Februar 2011 und 04. April 2011 lehnte die Beklagte die entsprechenden Anträge jeweils ab. Gegen jeden einzelnen Bescheid legte die Klägerin Widerspruch ein.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Juni 2011 wies die Beklagte die Widersprüche gegen alle Bescheide zurück. Anspruch auf häusliche Krankenpflege als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung habe die Klägerin aufgrund der Unterbringung in der Einrichtung nach § 43 a SGB XI nicht.

Soweit der Widerspruchsbescheid und die Ablehnungsbescheide die Zeit ab 02. Januar 2011 betrafen, hat die Klägerin dagegen am 07. Juli 2011 die hiesige Klage beim Sozialgericht Braunschweig erhoben.

Das Gericht hat das ruhende Klageverfahren S 6 KR 11/11 zum Aktenzeichen S 6 KR 179/12 WA wieder aufgenommen und im Termin zur mündlichen Verhandlung am 23. Mai 2012 mit dem hiesigen Verfahren verbunden.

Die Klägerin beantragt,

1. die beiden Bescheide der Beklagten vom 14. Dezember 2010 sowie die wei-teren Bescheide vom 30. Dezember 2010, 20. Januar 2011, 02. Februar 2011 und 04. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 2011 aufzuheben.

2. die Beklagte zu verurteilen , der Klägerin häusliche Krankenpflege nach ärzt-licher Verordnung für die Zeit vom 01. Dezember 2010 bis 30. Juni 2011 zu bewilligen,

3. hilfsweise die Beigeladene zu 2. zu verurteilen, der Klägerin häusliche Kran-kenpflege nach ärztlicher Verordnung für die Zeit vom 01. Dezember 2010 bis 30. Juni 2011 nach SGB XII zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beigeladene zu 1. schließt sich dem Antrag der Klägerin an.

Die Beigeladene zu 2. beantragt,

den hilfsweise gestellten Klageantrag zurückzuweisen.

Die Beklagte ist weiterhin der Auffassung, häusliche Krankenpflege sei in vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen.

Die Beigeladene zu 1. folgt im Wesentlichen der Rechtsauffassung der Klägerin und die Beigeladene zu 2. sieht im Sozialgesetzbuch, Zwölftes Buch -Sozialhilfe- (SGB XII) keine Anspruchsgrundlage, die den Hilfsantrag stützen könnte.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie der näheren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Gerichtsakten nebst Beiakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.

Gründe

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und teilweise auch begründet.

Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig, soweit darin die Gewährung von häuslicher Krankenpflege in Form des Verbandanlegens und -wechselns bei suprapubischem Katheter abgelehnt wird.

Die Klägerin hat entgegen der Rechtsansicht der Beklagten dem Grunde nach einen Anspruch auf Gewährung von häuslicher Krankenpflege nach § 37 SGB V. Dessen Absatz 2 Satz 1 lautet: „Versicherte erhalten in ihrem Haushalt, ihrer Familie oder sonst an einem geeigneten Ort, insbesondere in betreuten Wohnformen, Schulen und Kindergärten, bei besonders hohem Pflegebedarf auch in Werkstätten für behinderte Menschen als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn diese zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist; der Anspruch umfasst verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen auch in den Fällen, in denen dieser Hilfebedarf bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach den §§ 14 und 15 SGB XI zu berücksichtigen ist.“ Gemäß § 37 Abs. 3 SGB V besteht der Anspruch auf häusliche Krankenpflege nur, soweit eine im Haushalt lebende Person dem Kranken in dem erforderlichen Umfang nicht pflegen und versorgen kann. § 37 Abs. 6 SGB V bestimmt, dass der Gemeinsame Bundesausschuss in Richtlinien nach § 92 festlegt, an welchen Orten und in welchen Fällen Leistungen nach den Absätzen 1 und 2 auch außerhalb des Haushalts und der Familie des Versicherten erbracht werden können. Diesem Auftrag ist der Gemeinsame Bundesausschuss nachgekommen:

In der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege (häusliche Krankenpflege-Richtlinie vom 17. September 2009) heißt es in § 1 Abs. 2 Satz 2: „Anspruch auf häusliche Krankenpflege besteht auch an sonstigen geeigneten Orten, an denen sich die oder der Versicherten regelmäßig wiederkehrend aufhält und an denen die verordnete Maßnahme zuverlässig durchgeführt werden kann und für die Erbringung der einzelnen Maßnahme geeignete räumliche Verhältnisse vorliegen (z.B. im Hinblick auf hygienische Voraussetzungen, Wahrung der Intimsphäre, Beleuchtung), wenn die Leistung aus medizinisch-pflegerischen Gründen während des Aufenthalts an diesem Ort notwendig ist. Orte im Sinne des Satz 2 können insbesondere Schulen, Kindergärten, betreute Wohnformen oder Arbeitsstätten sein“. In § 1 Absatz 6 heißt es, „für die Zeit des Aufenthalts in Einrichtungen, in denen nach den gesetzlichen Bestimmungen Anspruch auf die Erbringung von Behandlungspflege durch die Einrichtungen besteht (z.B. Krankenhäusern, Rehabilitationseinrichtungen, Hospizen, Pflegeheimen), kann häusliche Krankenpflege nicht verordnet werden“. § 1 Abs. 7 Satz 2 lautet: „Eine Verordnung von Behandlungspflege ist auch für Versicherte in Pflegeheimen zulässig, die auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, einen besonders hohen Bedarf an medizinischen Behandlungspflege haben (§ 37 Abs. 2 Satz 3 SGB V)“.

Die Klägerin lebt nicht in einem eigenen Haushalt oder mit ihrer Familie, sondern im Wohnheim I., J., einer unter der Trägerschaft der Beigeladenen zu 1. stehenden vollstationären Einrichtung der Hilfe für behinderte Menschen, in der die Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gemeinschaft, die schulische Ausbildung und die Erziehung behinderter Menschen im Vordergrund des Einrichtungszwecks stehen (§§ 43 a, 71 Abs. 4 SGB XI). Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 1 Abs. 2 Satz 2 häusliche Krankenpflege-Richtlinie handelt es sich dabei um einen sonstigen geeigneten Ort. Die Klägerin hält sich nämlich dort regelmäßig wiederkehrend auf und die verordnete Maßnahme kann dort zuverlässig durchgeführt werden, weil für die Erbringung der einzelnen Maßnahmen geeignete räumliche Verhältnisse unzweifelhaft vorliegen und die verordneten Leistungen aus medizinisch-pflegerischen Gründen während des Aufenthalts im Wohnheim notwendig sind. Wegen der Eindeutigkeit der Definition des sonstigen geeigneten Ortes in § 1 Abs. 2 Satz 2 häusliche Krankenpflegerichtlinien ist es unerheblich, dass die Wohnheime der Behindertenhilfe sich in der lediglich exemplarischen Aufzählung des § 1 Abs. 2 Satz 3 Krankenpflegerichtlinien nicht finden. Häusliche Krankenpflege ist nämlich nicht nach § 1 Absatz 6 Krankenpflegerichtlinie ausgeschlossen, weil es sich bei Wohnheimen der Hilfen für behinderte Menschen nicht um Einrichtungen handelt, in denen nach den gesetzlichen (!) Bestimmungen Anspruch auf die Erbringung von Behandlungspflege durch die Einrichtungen besteht. Der Ausnahmeregelung des § 1 Abs. 6 hätte es nicht bedurft, wenn die dort genannten Einrichtungen bereits dem Grunde nach keine geeigneten Orte im Sinne des § 37 SGB V wären.

Der Anspruch wäre auch nicht ausgeschlossen, wenn die Klägerin einen vertraglichen/privatrechtlichen Anspruch gegen Dritte auf Erbringung von medizinischer Behandlungspflege hätte. Sie hätte dann das Wahlrecht, die Leistung entweder von diesem Dritten oder von der Beklagten zu verlangen. Der Anspruch wäre allerdings ausgeschlossen, wenn Kostenpflichtiger eines solchen privatrechtlichen Anspruchs gegen Dritte ein anderer Sozialleistungsträger wäre. Eine solche Konstellation könnte hier vorliegen, wenn die Klägerin einen vertraglichen Anspruch gegenüber der Beigeladenen zu 1. (als Träger des Wohnheims) auf Bereitstellung von medizinischer Behandlungspflege hätte. Kostenträger des Wohnheimplatzes ist nämlich die Beigeladene zu 2. als Sozialhilfeträger. Die Klägerin hat aber keinen Anspruch gegenüber der Beigeladenen zu 1. auf Erbringung von häuslicher Krankenpflege entsprechend § 37 SGB V soweit diese Leistung der gesetzlichen Krankenkasse ist. Dies ergibt sich aus der Leistungs- und Prüfungsvereinbarung gemäß § 75 Abs.3 SGB XII zwischen der Beigeladenen zu 1. und dem Land Niedersachsen als überörtlichen Träger der Sozialhilfe. Dort sind zwar unter Nr. 3.3.1 g Hilfen zur Gesundheitsförderung und -erhaltung durch den Heimträger vorgesehen. Es heißt dort jedoch auch: „Individuelle Leistungsansprüche nach § 37 SGB V gegenüber den Krankenkassen bleiben von dieser Vereinbarung unberührt“. Soweit es im Wohn- und Betreuungsvertrag zwischen der Klägerin und der Beigeladenen zu 1. In § 2 unter 3c Satz 2 heißt: „Die Lebenshilfe J. erbringt keine verordneten Leistungen der medizinischen Behandlungspflege“ verstößt diese weitergehende Leistungseinschränkung (Ausschluss jeglicher medizinischer Behandlungspflege und nicht nur der, die zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenkassen gehört) gegen § 15 Abs. 2 WBVG und ist deshalb unwirksam.

Dem Grunde nach hat deshalb die Klägerin auch im Wohnheim, in dem sie dauerhaft lebt, einen Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung von häuslicher Krankenpflege in Form der Behandlungspflege. Dieser Anspruch steht ihr in gleichem Umfang zu, als wenn sie in einem eigenen Haushalt oder in ihrer Familie leben würde.

Inhalt und Umfang der als häusliche Krankenpflege in Form der Behandlungspflege verordnungsfähigen Versorgung bestimmt sich ebenfalls nach der häuslichen Krankenpflege-Richtlinie.

Die von der Hausärztin K. verordneten Maßnahmen gehören auch zu den Leistungen der medizinischen Behandlungspflege.

Für die verordneten Clexane-Injektionen (einem niedermolekularen Heparin, welches mit einer Fertigspritze subkutan - unter die Haut - gespritzt wird) ergibt sich das aus Nr. 18 der Anlage zur häuslichen Krankenpflege-Richtlinie -Verzeichnis verordnungsfähiger Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege (Leistungsverzeichnis)- . Die in den dortigen Bemerkungen beschriebenen Voraussetzungen liegen vor, denn die Klägerin ist wegen ihrer Behinderung unzweifelhaft nicht in der Lage, sich die Injektionen selbst zu verabreichen.

Die Versorgung der Katheteraustrittstelle ist unabhängig von den dort bestehenden Wundverhältnissen häusliche Krankenpflege im Sinne des § 37 SGB V. Unter Nr. 22 des Leistungsverzeichnisses ist die Versorgung eines suprapubischen Katheters genannt. Diese Versorgung umfasst ausweislich der Leistungsbeschreibung den Verbandwechsel der Katheteraustrittstelle einschließlich Pflasterverband und einschließlich Reinigung des Katheters, Desinfektion der Wunde, ggf. Wundversorgung und Anwendung ärztlicher verordneter Medikamente. Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen der Nr. 22 des Leistungsverzeichnisses, da unstreitig ist, dass der Verbandwechsel am suprapubischen Katheter im verordneten Umfang medizinisch notwendig und die Klägerin nicht in der Lage ist, den Verbandwechsel selbst durchzuführen.

Dem steht nicht entgegen, dass unter der Rubrik „Bemerkung“ bei Nr. 22 auf Nr. 28 (Stomabehandlung) verwiesen wird und der Verbandwechsel nur in Verbindung mit akuten entzündlichen Veränderungen mit Läsionen der Haut für verordnungsfähig erklärt wird. Dieser Hinweis enthält keine nähere Definition der Voraussetzungen bzw. des Umfangs der in der Rubrik Leistungsbeschreibung aufgeführten Maßnahmen. Zwar werden auch in der Rubrik „Bemerkung“ Hinweise bzw. Erläuterungen der verordnungsfähigen Leistungen gegeben. Diese Hinweise werden jedoch ausdrücklich aufgeführt und erläutert. Hinsichtlich des Hinweises auf die Stomabehandlung in Nr. 28 fehlt eine ausdrückliche Erläuterung des Leistungsumfangs. Insbesondere fehlt der Hinweis darauf, dass eine Versorgung eines suprapubischen Katheters durch Verbandswechsel nur unter den Voraussetzungen der Nr. 28 des Leistungsverzeichnisses verordnungsfähig ist. Eine derartige ausdrückliche Einschränkung ist jedoch erforderlich, um entgegen dem klaren Wortlaut der Leistungsbeschreibung der Nr. 22 eine Einschränkung der Verordnungsfähigkeit zu begründen (so bereits die erkennende Kammer im Urteil vom 15. Februar 2010 - S 6 KR 310/07, bestätigt durch Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 22. Dezember 2010 - L 1 KR 81/10 -).

Die somit dem Grunde nach bestehenden Ansprüche der Klägerin gegen die Beklagte auf Gewährung häuslicher Krankenpflege gemäß § 37 SB V können jedoch nicht weitergehen als die der Versicherten, die in einem eigenen Haushalt oder in ihrer Familie leben. Der für diesen Personenkreis geltende Vorbehalt des § 37 Abs. 3 SGB V (siehe oben) muss deshalb sinngemäß auch für Versicherte wie die Klägerin, die die Leistungen an einem sonstigen geeigneten Ort erhalten, gelten. Das ergibt sich bereits als Ausfluss des in der gesetzlichen Krankenversicherung geltenden Subsidiaritätsprinzips und des Eigenverantwortungs- und Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 1 Satz 2, § 2 Abs. 4, § 12 Abs. 1 SGB V). Abzustellen ist dabei auf das Wohnheimpersonal. Vergleichsmaßstab ist der durchschnittliche gesunde erwachsene Familien- oder Haushaltsangehörige. Das Gericht geht davon aus, dass es sich bei Wohnheimpersonal regelmäßig genau um diesen Personenkreis handelt. Immer dann, wenn eine ärztlich verordnete Verrichtung von einer im Haushalt lebenden Person (oder hier: dem Heimpersonal) zumutbar (!) verrichtet werden kann, entfällt nach der gesetzgeberischen Konzeption des § 37 Abs. 3 SGB V der Anspruch auf häusliche Krankenpflege.

Ausgehend von diesen Überlegungen gilt hier Folgendes:

Die Versorgung des suprapubischen Katheters gehört nicht zu den Verrichtungen, die die Krankenkasse jedem gesunden erwachsenen Haushalts- oder Familienangehörigen abverlangen kann. Zwar wird es im Regelfall so sein, dass insbesondere Familienangehörige eine solche Leistung (und auch weitaus belastendere) klaglos erbringen. Das erkennende Gericht geht jedoch davon aus, dass die Versorgung eines suprapubischen Katheters nicht zu den Verrichtungen gehört, die jedem durchschnittlichen gesunden Erwachsenen abverlangt werden können. Die Austrittstelle des Katheterschlauchs ist eine künstlich geschaffene Wunde, die immer mit besonderen gesundheitlichen Risiken (Entzündungen, Infektionen etc.) verbunden ist. Es bedarf deshalb einer mehr als einfachen Überwindung, sich die Versorgung der Katheteraustrittstelle zuzumuten.

Etwas anderes gilt für die verordneten Injektionen. Clexane- und auch Heparin-Injektionen werden subkutan (unter die Haut) mit Fertigspritzen verabreicht. Diese sind im Regelfall mit einer Selbstapplikationshilfe versehen. Die zahlreichen Einschränkungen der Verordnungsfähigkeit von subkutanen Injektionen, die sich in den Bemerkungen zu Nr. 18 des Leistungsverzeichnisses in der Anlage zur Krankenpflegerichtlinie finden, zeigen, dass es sich hierbei um eine so einfache Verrichtung handelt, dass sie einem durchschnittlichen Erwachsenen unproblematisch zuzumuten ist.

Der Anspruch auf häusliche Krankenpflege in Form der Verabreichung von Injektionen besteht somit gemäß § 37 Abs. 3 SGB V bei der Klägerin nicht. Daraus folgt, dass sich die Beigeladene zu 1. nicht auf einen vertraglichen Leistungsausschluss berufen kann. Dieser bezieht sich nämlich nur auf bestehende Ansprüche gegen eine Krankenkasse auf häusliche Krankenpflege/Behandlungspflege nach dem SGB V. Die Injektionen gehören damit zu den Hilfen zur Gesundheitsförderung und Erhaltung gemäß Nr. 3.3.1 g der Leistungsvereinbarung (siehe oben).

Der Hilfsantrag der Klägerin ist unbegründet. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch gegen die Beigeladene zu 2. als Sozialhilfeträger bereits deshalb nicht zu, weil wegen der Leistungsverpflichtung der Beigeladenen zu 1. keine Bedürftigkeit der Klägerin besteht.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 Sozialgerichtsgesetz und berücksichtigt das ungefähr hälftige Obsiegen und Unterliegen. Dabei war die Beigeladene zu 1. kostenrechtlich der Klägerin gleichzustellen, weil die Interessenlage gleich ist.

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