Bayerischer VGH, Beschluss vom 22.12.2010 - 19 B 09.824
Fundstelle
openJur 2012, 112807
  • Rkr:
Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 30. Januar 2007 und der Bescheid der Beklagten vom 27. Februar 2006 werden insoweit aufgehoben, als sie die Anordnung der Abschiebung des Klägers betreffen (vgl. Ziffer II. des Bescheides).

II. Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen tragen Kläger und Beklagte bis zur Aufhebung der Entscheidung des Senats vom 3. September 2008 durch Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. März 2009 je zur Hälfte. Ab der Zurückverweisung des Rechtsstreits durch das Bundesverwaltungsgericht trägt die Beklagte die Kosten alleine.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird zugelassen.

V. Der Streitwert wird auf 5.000,-- Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Die Verfahrensbeteiligten streiten (zuletzt) um die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Abschiebung des Klägers.

1. Der … geborene Kläger ist russischer Staatsangehöriger. Er reiste nach Durchführung eines Aufnahmeverfahrens für jüdische Emigranten am 29. September 1997 mit einem von der deutschen Botschaft in St. Petersburg ausgestellten Visum in das Bundesgebiet ein. Am 23. Oktober 1997 erhielt er von der Ausländerbehörde eine Bescheinigung, wonach er Flüchtling im Sinne des § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommener Flüchtlinge (HumHAG) vom 22. Juli 1980 (BGBl. I S. 1057) ist. Auf Antrag vom 9. Oktober 1997 wurde dem Kläger am 14. Oktober 1997 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt.

2. Mit Urteil der Strafkammer beim Landgericht Nürnberg-Fürth vom 18. Dezember 2003, rechtskräftig seit 6. Oktober 2004, wurde der Kläger wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren verurteilt. Das Gericht ging zugunsten des Klägers davon aus, dass seine Steuerungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat im Februar 2001 erheblich eingeschränkt gewesen sei und bejahte das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB. Aufgrund der beim Kläger vorliegenden undifferenzierten Schizophrenie könne eine erhebliche verminderte Schuldfähigkeit nicht ausgeschlossen werden.

3. Mit Schreiben der Beklagten vom 2. Mai 2005 wurde der Kläger zur beabsichtigten Ausweisung aus dem Bundesgebiet sowie zur Abschiebung in sein Heimatland angehört. Hierzu ließ er mit Schreiben vom 21. September 2005 vortragen, er leide unter schweren Erkrankungen. Ein kardiologisches Gutachten vom 13. Dezember 1999 attestiere ihm einen Doppelklappenersatz mit Mitralklappenersatz und Aortenklappenersatz bei Mitralinsuffizienz Grad 3 mit Sehnenfadenruptur und Aorteninsuffizienz Grad 3. Infolgedessen seien eine regelmäßige medizinische Betreuung auf höchsten Niveau sowie eine strenge Medikation erforderlich. Beides sei in seinem Heimatland nicht gewährleistet oder könne jedenfalls nicht finanziert werden. Darüber hinaus leide er unter einer schizophrenen Psychose. Auch deren medikamentöse Behandlung sei im Heimatland nicht gewährleistet. Im Falle der Rückführung sei deshalb mit einer deutlichen Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes zu rechnen.

4. Mit Bescheid vom 27. Februar 2006 wies die Beklagte den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziffer I), ordnete die Abschiebung unmittelbar aus der Haft heraus in die Russische Föderation oder einen Staat, in den er einreisen dürfe bzw. der zu seiner Übernahme verpflichtet sei, an (Ziffer II) und forderte den Kläger auf, das Bundesgebiet binnen einer Woche nach Haftentlassung zu verlassen, andernfalls er abgeschoben werde (Ziffer III).

5. Auf die hiergegen gerichtete Klage hob das Verwaltungsgericht Ansbach mit Urteil vom 30. Januar 2007 den Bescheid vom 27. Februar 2006 insoweit auf, als dem Kläger nach Entlassung aus der Haft das Verlassen des Bundesgebietes binnen Wochenfrist aufgegeben wurde. Soweit der Kläger begehrte, die Ausweisung und die Anordnung der Abschiebung aufzuheben, wurde die Klage abgewiesen.

6. Die dagegen eingelegte Berufung blieb mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. September 2008 – Az. 19 B 07.2762 – ohne Erfolg. Der Senat ging trotz des jüdischen Kontingentflüchtlingen in entsprechender Anwendung von Art. 33 GFK/§ 60 Abs. 1 AufenthG im Grundsatz zugebilligten Ausweisungsschutzes (vgl. BayVGH, Beschluss vom 7.8.2008 – 19 B 07.1777 –, InfAuslR 2009, 98) davon aus, dass im Fall des Klägers ein solcher aufgrund des Vorliegens der einschränkenden Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG nicht gegeben sei. Revision wurde deshalb nicht zugelassen.

7. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hob das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 13. März 2009 – 1 B 20.08 – die Entscheidung des Senats insoweit auf, als diese die Anordnung der Abschiebung des Klägers betrifft. Die Ausweisung selbst erwuchs in Rechtskraft. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger rüge zu Recht, dass der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Einholung eines fachpsychiatrischen Sachverständigengutachtens abgelehnt habe. Die eigene Sachkunde des Gerichts sei hinsichtlich der Beurteilung der Wiederholungsgefahr nicht belegt. Da der Senat auch keine aktuellen Auskünfte zum Verhalten des Klägers im Vollzug und dessen psychischer Verfassung eingeholt habe, lasse sich seine Sachkunde auch nicht auf das fachpsychiatrische Gutachten vom 18. Oktober 2001 stützen. Gleichzeitig verwies das Bundesverwaltungsgericht den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurück.

8. Nach der Zurückverweisung erhob der Senat Beweis durch Einholung eines fachpsychiatrischen Gutachtens (vgl. Beweisbeschluss vom 10.6.2009), eines kardiologischen Gutachtens (vgl. Beweisbeschluss vom 26.11.2009), eines fachorthopädischen Gutachtens (vgl. Beweisbeschluss vom 26.11.2009), eines arbeitsmedizinischen Gutachtens (vgl. Beweisbeschluss vom 26.11.2009) sowie eines Gutachtens des Auswärtigen Amtes zu medizinischen und landeskundlichen Fragen (vgl. Beweisbeschluss vom 11.5.2010). Wegen der Einzelheiten wird auf die jeweiligen Beweisbeschlüsse und die in der Senatsakte enthaltenen Gutachten verwiesen. Das arbeitsmedizinische Gutachten von Prof. Dr. med. … D… vom 19. April 2010 kommt unter Bezugnahme auf das kardiologische und fachorthopädische Gutachten zu der Einschätzung, dass vom Kläger nur noch leichte Tätigkeiten (z. B. Bürotätigkeiten) vollschichtig verrichtet werden können.

9. Das fachpsychiatrische Gutachten von Herrn Dr. … W… vom 12. November 2009 stellt unter Berücksichtigung des Gutachtens von Herrn Dr. … G… vom 21. Juli 2009 im Hinblick auf die Frage der Wiederholungsgefahr fest, dass sich im Rahmen der aktuellen Exploration keinerlei Anhaltpunkte dafür hätten finden lassen, dass die Wesensstruktur des Klägers zwischenzeitlich eine nachhaltige Änderung erfahren habe. Hervorzuheben sei insbesondere, dass die zumindest anteilig für die begangene Tat mitverantwortliche schizophrene Psychose nach wie vor unbehandelt sei, so dass die prinzipiell einer Risikoreduktion zugänglichen Aspekte unverändert fortbestünden. Eine Argumentation, die der Hypothese entgegenstehe, dass der Kläger in einer vergleichbaren Situation (mit besonders ungewöhnlicher Belastung) in gleicher Art und Weise handeln werde, wie dies im Februar 2001 geschehen sei, könne somit aus sachverständiger Sicht nicht geführt werden. Eine Wiederholung des Tatgeschehens stelle sich deshalb nicht nur als eine gleichsam entfernte Möglichkeit, sondern als eine hinreichend konkret einzuschätzende Gefahr dar. Eine unabhängig davon bestehende Tendenz zu neuen vergleichbaren Straftaten (Gewalttaten, insbesondere Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit Dritter) lasse sich dagegen lediglich dahingehend beschreiben, dass die Gefahr entsprechender Delikte beim Kläger in dem Rahmen erhöht sei, wie sie allgemein bei Menschen beschrieben werden könne, die – wie der Kläger – unter schizophrenen Psychosen leiden.

10. Mit Schreiben vom 17. März 2010 teilte der Bevollmächtigte des Klägers dem Senat mit, dass sein Mandant mittlerweile aufgrund seines eigenen Willensentschlusses mit Neuroleptika behandelt werde und ihm durch den Konsiliarpsychiater der JVA das Medikament „Zyprexa“ verordnet worden sei. Gleichzeitig wurde eine ergänzende Begutachtung des Klägers beantragt. Unter dem 23. März 2010 bat der Senat Dr. W… um Prüfung, ob sich durch die vom Klägerbevollmächtigten mitgeteilte Behandlung mit dem Medikament „Zyprexa“ Veränderungen im Hinblick auf die Beurteilung im Gutachten vom 12. November 2009 ergeben.

11. Mit Schreiben vom 27. Mai 2010 teilte Dr. W… mit, dass aus der Behandlung mit dem Neuroleptikum „Zyprexa“ ein günstiger Effekt abgeleitet werden könne. Wenngleich nicht zu erwarten sei, dass der Kläger durch den Einsatz dieses Medikaments in einen psychopathologisch völlig unauffälligen Zustand versetzt werde, könne dennoch von einer Stabilisierung ausgegangen werden. Mit der Einleitung der neuroleptischen Behandlung werde eine wesentliche Problematik angegangen, die im Rahmen des Gutachtens vom November 2009 thematisiert worden sei. Es sei davon auszugehen, dass hierdurch eine erhebliche Reduktion der Wiederauftretenswahrscheinlichkeit neuerlicher Krankheitsschübe bewirkt werde. Wenn man darüber hinaus davon ausgehe (was naheliegend sei), dass der Kläger im Rahmen der medikamentösen Therapie auch regelmäßig fachärztlich vorgestellt werde, könne man nunmehr von einer adäquaten Behandlung sprechen. Im Hinblick auf die vom Kläger ausgehende Gefahr sei von einer Reduktion der speziell aufgrund der schizophrenen Psychose abzuleitenden Risiken auszugehen. Insbesondere könne festgehalten werden, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger im Rahmen einer vergleichbaren Situation wie dem Tatgeschehen, das der Verurteilung zugrunde liege, in gleicher Art und Weise wie damals handeln werde, als geringer angesetzt werden könne. Unter der Hypothese, dass der Kläger die nunmehr eingeleitete Medikation dauerhaft einnehme und hierbei fachärztlich begleitet werde, sei die verbleibende Gefahr vergleichbarer Taten als so weit reduziert einzuschätzen, dass dieselbe nicht mehr als so hinreichend konkret beschrieben werden könne, wie dies im Gutachten vom November 2009 festgehalten worden sei. Auch die Gefahr sonstiger Straftaten könne beim Kläger für den Fall kontinuierlich eingesetzter neuroleptischer Therapie im Hinblick auf Delikte, bei denen die psychotische Erkrankung von Bedeutung sei, als reduziert angesehen werden.

12. Mit Schreiben vom 8. Juni 2010 bat der Senat den Gutachter, seine Feststellungen im Hinblick auf den Beweisbeschluss vom 10. Juni 2009 und die darin gestellte Frage,

„drohen in der Zukunft – beispielsweise bei einer Wiederholung der äußeren Umstände des der Verurteilung zugrunde liegenden Verhaltens – neue, vergleichbare Straftaten (Gewalttaten, insbesondere Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit Dritter) des Klägers im Sinne einer konkreten Wiederholungsgefahr oder erscheint eine solche lediglich als eine bloße – gleichsam entfernte – Möglichkeit“,

um nochmalige Konkretisierung seiner Feststellungen.

13. Unter dem 20. Juli 2010 teilte Herr Dr. W… mit, es könne festgehalten werden, dass nach der in der Stellungnahme vom 27. Mai 2010 dargestellten Reduktion der Wahrscheinlichkeit neuerlicher schwerwiegender Straftaten nicht mehr mit der bei prognostischen Beurteilungen üblicherweise zu fordernden Sicherheit von einer konkreten Wiederholungsgefahr vergleichbarer Straftaten (Gewalttaten, insbesondere Delikten gegen die körperliche Unversehrtheit Dritter) gesprochen werden könne, sondern vielmehr – stets die Fortführung der aktuellen Medikation vorausgesetzt – von einer Risikoabnahme auszugehen sei, die ein solches Geschehen deutlich unwahrscheinlicher mache, was auch eine Interpretation im Sinne einer bloßen – gleichsam entfernten – Möglichkeit in Betracht kommen lasse.

14. Mit Schreiben vom 27. Juli 2010 teilte die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Moskau mit, dass die vom Kläger benötigten Medikamente (jedenfalls dem Wirkstoff nach) auch in der Russischen Föderation zugelassen und verfügbar seien. Zwar gebe es in der Russischen Föderation am Ort der Registrierung eine kostenlose medizinische Behandlung und Versorgung mit Medikamenten, sofern diese im Medikamentenverzeichnis aufgeführt seien. Allerdings entspreche diese Versorgung nicht dem Standard, der in der Bundesrepublik vorzufinden sei. Nach Auskunft der konsultierten Vertrauensärztin seien die für den Kläger erforderlichen Behandlungsmaßnahmen zwar erhältlich, die monatlichen Kosten hierfür beliefen sich jedoch auf etwa 300,-- Euro.

15. Am 3. August 2010 teilte der Senat den Verfahrensbeteiligten mit, dass nach den nunmehrigen Feststellungen des psychiatrischen Fachgutachters – die Beibehaltung der aktuellen Medikation unterstellt – nicht mehr vom Fortbestehen einer konkreten Wiederholungsgefahr im Hinblick auf die Begehung von Gewalttaten, insbesondere von Delikten gegen die körperliche Unversehrtheit Dritter ausgegangen werden könne, so dass die Voraussetzungen des Ausschlusstatbestandes des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG – entgegen der bisherigen Auffassung des Senats – nicht mehr vorlägen, was zur Folge habe, dass der Kläger unter den Schutz des Abschiebungsverbots aus Art. 33 GFK/§ 60 Abs. 1 AufenthG falle. Angesichts der gegenüber den ursprünglichen Feststellungen des Sachverständigen vom 12. November 2009 diametral veränderten Beurteilung regte der Senat die Erteilung einer Bewährungsduldung an. Die Beklagte lehnte dies mit Schreiben vom 19. August 2010 ab.

16. Unter Bezugnahme auf die eingeholten Gutachten sieht der Kläger die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach Art. 33 Abs. 1 GFK/§ 60 Abs. 1 AufenthG und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG als erfüllt an.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

unter teilweiser Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 30. Januar 2007 die Abschiebungsandrohung in Ziffer II des Bescheids der Beklagten vom 27. Februar 2006 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung führt sie mit Schreiben vom 19. August und 20. Dezember 2010 im Wesentlichen aus, auch angesichts der ergänzenden Stellungnahmen des psychiatrischen Fachgutachters vom 20. Juli 2010 sei beim Kläger von einer konkreten Wiederholungsgefahr auszugehen, da die dauerhafte Medikamenteneinnahme und begleitende fachärztliche Behandlung nicht gewährleistet werden könne. Die bisher über den Kläger vorliegenden Erkenntnisse rechtfertigten die Annahme, dass dieser die nunmehr begonnene Einnahme des Medikaments „Zyprexa“ in Zukunft wieder einstellen werde. Daran sei trotz der mit Beschluss des Landgerichts Bayreuth vom 18. Oktober 2010 erfolgten Betreuerbestellung festzuhalten. Aufgrund der Auskunft der deutschen Botschaft in Moskau vom 27. Juli 2010 stehe zudem fest, dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen. Der Kläger habe im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation am Ort seiner Registrierung das Recht auf kostenlose medizinische Behandlung. Aufgrund seiner Vorbildung als Ingenieur sei es ihm möglich, auf dem russischen Arbeitsmarkt eine Bürotätigkeit zu finden, die ihm eine Sicherung seines Lebensunterhalts garantiere. Falls er tatsächlich Kosten für Medikamente aufbringen müsse, könne er diese durch eine Berufstätigkeit selbst finanzieren oder sich der Unterstützung seiner im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen (Mutter und zwei Geschwister) bedienen.

17. Mit Schreiben vom 26. November 2010 teilte die deutsche Botschaft in Moskau auf weitere Anfrage mit, dass zusätzlich zu den auf der Grundlage der übersandten fachärztlichen Gutachten ermittelten monatlichen Behandlungskosten in Höhe von 300,-- Euro rund 100,-- Euro für Medikamente anfallen. Der monatliche Mindestbedarf für Lebenshaltungskosten betrage (ohne Wohnung) zur Zeit ca. 110,-- Euro. Eine bescheidene 1 Zimmer-Wohnung am Stadtrand von Sankt Petersburg, der früheren Heimatstadt des Klägers, sei für ca. 400,-- Euro monatlich zu mieten. Des Weiteren wurde umfangreich zu den Verdienstmöglichkeiten des Klägers Stellung genommen. Diese bewegen sich zwischen 14 000 und 23 000 Rubel (337,56 – 554,56 Euro) monatlich. Die Verurteilung zu einer 12-jährigen Haftstrafe wegen Mordes stehe der Aufnahme einer Arbeit auf dem freien Arbeitsmarkt nach Einschätzung der Botschaft nicht entgegen.

18. Die als Vertreterin des öffentlichen Interesses am Verfahren beteiligte Landesanwaltschaft Bayern teilt die Auffassung der Beklagten.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der beigezogenen Behördenakten sowie der Gerichtsakten beider Instanzen verwiesen.

II.

Der Senat entscheidet nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss über die von ihm zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers; er hält diese in dem nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. März 2009 allein noch anhängigem Umfang – der Abschiebungsanordnung in Ziffer II des Bescheides vom 27. Februar 2006 – einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung weder im Hinblick auf die Berufungsbegründung des Klägers noch wegen des Vorbringens der Beklagten und der Landesanwaltschaft Bayern für erforderlich (§ 130 a VwGO).

Nach dem Ergebnis der schriftlichen Beweisaufnahme lässt sich, anders als noch in der Entscheidung des Senats vom 3. September 2008 – Az. 19 B 07.2762 – angenommen, eine (konkrete) Wiederholungsgefahr im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG nicht mehr aufrecht erhalten, so dass es nunmehr entscheidungserheblich auf den Rechtsstatus des Klägers als jüdischer Emigrant aus der ehemaligen Sowjetunion ankommt, den der Senat wie bereits in der Entscheidung vom 7. August 2008 – Az. 19 B 07.1777 –, InfAuslR 2009, 98 – beantwortet (vgl. hierzu im Folgenden unter 1.). Darüber hinaus liegen im Fall des Klägers nunmehr auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor (vgl. dazu im Folgenden unter 2.). Die Abschiebungsanordnung ist daher wegen Verstoßes sowohl gegen § 102 Abs. 1 Satz 1, Art. 33 Abs. 1 GFK/§ 60 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit § 1 Abs. 1 HumHAG als auch gegen § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Verstoß gegen § 102 Abs. 1 Satz 1, Art. 33 Abs. 1 GFK/§ 60 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit § 1 Abs. 1 HumHAG

a) Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschluss vom 7.8.2008 – 19 B 07.1777 –, InfAuslR 2009, 98) genießen jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion aufgrund des Beschlusses der Ministerpräsidentenkonferenz vom 9. Januar 1991 die Rechtsstellung eines Kontingentflüchtlings entsprechend § 1 Abs. 1 HumHAG und können sich auch ohne Vorliegen eines Verfolgungsschicksals auf den Schutz des Abschiebungsverbotes nach Art. 33 Abs. 1 GFK/§ 60 Abs. 1 AufenthG berufen (ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 19.12.2005, ZFSH/SGB 2006, 339 [341 f.]; in dieselbe Richtung auch OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 15.9.2004 – 1 L 106/02 –, LKV 2005, 510 [512]; VG Osnabrück, Urteil vom 10.7.2006 – 5 A 53/06 – <juris>; VG Neustadt, Urteil vom 6.10.1999, NVwZ 2000, 1447 [1448]; a.A. OVG Berlin, Beschluss vom 5.2.2001, DVBl 2001, 574 [575 f.]; BayVGH, Beschluss vom 15.5.2002 – 12 CE 02.659 – <juris>; OVG Berlin, Beschluss vom 15.11.2002, EZAR 018, Nr. 2, S. 4; BayVGH, Beschluss vom 20.12.2004 – 12 CE 04.3232 – <juris>; VG Augsburg, Urteil vom 11.7.2000, NVwZ 2000, 1449 [1450], jedoch allesamt zu Fragen mit sozialrechtlichem Hintergrund; auch bezüglich des Ausweisungs- und Abschiebungsschutzes hingegen: VG Augsburg, Urteil vom 18.9.2001 – Au 1 K 01.451 – <juris>; VG Augsburg, Beschluss vom 11.7.2007 – Au 1 S 07.622 – <juris>).

Soweit der 10. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs dem mit Urteil vom 29. Juli 2009 – 10 B 08.2447 –, InfAuslR 2010, 26 unter Berufung auf das „Kodifikationsprinzip“ entgegengetreten ist, vermag der Senat dem schon deshalb nicht zu folgen, weil es ein solches Prinzip im Bereich der (leistungs-) gewährenden Verwaltung, zu der auch die Einräumung der Rechtsstellung eines Kontingentflüchtlings entsprechend § 1 Abs. 1 HumHAG gehört, nicht gibt (vgl. BVerfGE 8, 155 [167 f.]; 68, 1 [109]; BVerwGE 45, 8 [11]; 58, 45 [48]). Aus der Tatsache, dass in den letzten Jahrzehnten die Organisation und das Verfahren der Verwaltungsbehörden in zunehmendem Umfang durch Gesetze oder Rechtsverordnungen geregelt worden sind, lässt sich nicht ableiten, dass eine solche Regelung verfassungsrechtlich ausnahmslos geboten wäre (vgl. BVerfGE 8, 155 [167]). Das Grundgesetz kennt weder einen Totalvorbehalt des Gesetzes noch eine Kompetenzregelung, die besagen würde, dass alle „objektiv wesentlichen“ Entscheidungen vom Gesetzgeber selbst zu treffen wären (vgl. BVerfGE 68, 1 [109]). Der zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) verpflichtete Richter darf es deshalb nicht bei der Feststellung, es fehle die gesetzliche Grundlage, bewenden lassen. Der Vorbehalt des Gesetzes ist kein Generalvorbehalt, der für jede Handlung der Exekutive eine Ermächtigung verlangen würde (vgl. auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 10. Aufl., 2009, Art. 20 RNr. 52). Dessen ungeachtet erfolgte die Aufnahme der jüdischen Emigranten nicht im gesetzesfreien Raum, sondern entsprechend § 1 Abs. 1 HumHAG.

Die Rechtstellung nach § 1 Abs. 1 HumHAG entsteht zwar ausschließlich kraft Gesetzes, weil es insoweit ein Anerkennungs- oder Feststellungsverfahren nicht gibt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27.2.1996, InfAuslR 1996, 322 [324]) mit der Folge, dass auch die amtliche Bescheinigung, die gemäß § 2 HumHAG jeder Flüchtling im Sinne des § 1 HumHAG zum Nachweis seiner Rechtsstellung erhält, nur deklaratorische Bedeutung besitzt (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 26.11.1999, InfAuslR 2000, 466). Daraus kann indes nicht geschlossen werden, dass die aus der ehemaligen Sowjetunion stammenden jüdischen Emigranten nicht unter den Anwendungsbereich des § 1 Abs. 1 HumHAG fielen, weil es bei ihnen – insoweit unstreitig – an einer konkreten Verfolgungssituation (vgl. zu diesem Erfordernis BVerwG, Urteil vom 17.2.1992, NVwZ 1993, 187 [188]; Beschluss vom 27.2.1996, InfAuslR 1996, 322 [324]) fehlt und sie sich deshalb nicht auf den in § 1 Abs. 1 HumHAG verheißenen Schutz von Art. 2 bis 34 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) berufen dürften (so aber VG Augsburg, Urteil vom 18.9.2001 – Au 1 K 01.451 – <juris>; VG Augsburg, Beschluss vom 11.7.2007 – Au 1 S 07.622 – <juris>). Dies würde weder der Quellenlage noch der historischen Dimension der Aufnahme der jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion gerecht (vgl. hierzu VG Karlsruhe, Urteil vom 19.12.2005, ZFSH/SGB 2006, 339 [341 f.]; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 15.9.2004 – 1 L 106/02 –, LKV 2005, 510 [512]; VG Osnabrück, Urteil vom 10.7.2006 – 5 A 53/06 – <juris>) und stünde nicht zuletzt auch mit der bisherigen Verwaltungspraxis – nicht nur der Beklagten – in Widerspruch.

b) Die Aufnahme der jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion ist vor dem Hintergrund der historischen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für die Verbrechen des Nationalsozialismus erfolgt. Nachdem bereits der Ministerrat der ehemaligen DDR am 11. Juli 1990 beschlossen hatte, in zu begrenzendem Umfang ausländische jüdische Bürger, deren Verfolgung oder Diskriminierung im Heimatstaat droht, aus humanitären Gründen Aufenthalt in der DDR zu gewähren, hat sich auch die Bundesregierung unmittelbar nach der Wiedervereinigung Deutschlands zu dieser Verantwortung bekannt und zu erkennen gegeben, dass sie insbesondere dem Wunsch sowjetischer Juden, in der Bundesrepublik eine neue Heimat zu gründen, im Grundsatz aufgeschlossen gegenübersteht (vgl. BT-Drs. 11/8439, S. 2). Maßgebend hierfür war vor allem die Überlegung, dass eine Zuwanderung zur Stärkung der jüdischen Gemeinden in Deutschland führt und dadurch mittel- und langfristig ein Beitrag zur Revitalisierung des jüdischen Kultur- und Geisteslebens in Deutschland geleistet wird (vgl. BT-Drs. 11/8439, S. 2 f.):

„Die Bundesregierung ist sich der historischen Verantwortung Deutschlands für die Verbrechen des Nationalsozialismus bewusst. Sie steht dem Wunsch sowjetischer Juden, auch in der Bundesrepublik Deutschland eine neue Heimat zu gründen, daher im Grundsatz aufgeschlossen gegenüber.

Wenn in Zukunft eine Zuwanderung aus osteuropäischen Staaten in einem größeren Umfang als bisher zugelassen werden soll, so sind hierfür vor allem zwei Überlegungen bestimmend:

- der geordnete Zugang von Menschen jüdischen Bekenntnisses stärkt die jüdischen Gemeinden, die sich nach dem Krieg in Deutschland wieder gebildet haben,

- die Stärkung der jüdischen Gemeinden führt mittel- und langfristig zu einer Revitalisierung des bedeutenden jüdischen Beitrags zum Kultur- und Geistesleben in Deutschland.“

Hiervon ausgehend beschloss die Konferenz der Regierungschefs des Bundes und der Länder (Ministerpräsidentenkonferenz) am 9. Januar 1991 in Bonn, der Einreise jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion „entsprechend“ den Vorschriften des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommener Flüchtlinge (HumHAG) zuzustimmen. Die nähere Verfahrensweise der Aufnahme jüdischer Zuwanderer und ihre Verteilung auf die Bundesländer wurden zwischen den Ausländerreferenten des Bundes und der Länder im Rahmen einer Besprechung vom 28. bis 30. Januar 1991 in Fulda festgelegt. Das Ergebnisprotokoll der Ministerpräsidentenkonferenz vom 9. Januar 1991 weist unter Top 3 Folgendes aus:

„Nach kurzer Debatte […] wird zwischen den Regierungschefs von Bund und Ländern Einvernehmen hergestellt, dass die Einreise von Juden aus der Sowjetunion – ohne zahlenmäßige Begrenzung – auch in Zukunft auf Grund von Einzelfallentscheidungen in entsprechender Anwendung des „Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge“ ermöglicht wird.“

Bezüglich der Rechtsstellung der jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion hält das Rundschreiben des Bundesministeriums des Innern (BMI) vom 10. August 1993 – A 2 125 341 - ISR/1 – u. a. Folgendes fest:

„Nach dem Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 9. Januar 1991 findet das Kontingentflüchtlingsgesetz ausdrücklich nur entsprechende Anwendung. Maßgeblich hierfür war vor allem, dass nur bei einer Aufnahme nach diesem Gesetz eine finanzielle Beteiligung des Bundes an den erforderlichen Eingliederungsmaßnahmen vorgesehen ist, und dass es für Aufnahmen ein Verteilungsverfahren auf die Länder gibt. Dies bedeutet allerdings, dass die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion den unmittelbar nach dem Kontingentflüchtlingsgesetz aufgenommenen Flüchtlingen gleichgestellt werden und denselben Rechtsstatus erhalten, d. h. ihnen stehen die sich aus den Artikeln 2 bis 34 der Genfer Flüchtlingskonvention ergebenden Vergünstigungen zu (z. B. unbefristete Aufenthaltserlaubnis, Eingliederungshilfen, Zugang zum Arbeitsmarkt). Ihnen kann zum Nachweis ihrer Rechtsstellung daher auch eine Bescheinigung nach § 2 Kontingentflüchtlingsgesetz erteilt werden.

Infolge der nur entsprechenden Anwendung bleibt jedoch die Möglichkeit erhalten, den vom unmittelbaren Anwendungsfall dieses Gesetzes abweichenden Besonderheiten Rechnung zu tragen und die Regelungen über die Kontingentaufnahme mit den aus sachlichen Gründen gebotenen Maßgaben anzuwenden, beispielsweise auch auf die vorgesehene Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge nach Art. 28 Genfer Konvention zu verzichten.

Auch ein Erlöschen der Rechtsstellung unter bestimmten Voraussetzungen ist durchaus denkbar. Allerdings kann im Hinblick auf die Besonderheiten des Aufnahmeverfahrens für ehemals sowjetische Juden die Erlöschensvorschrift des § 2 a Abs. 1 Nr. 1 Kontingentflüchtlingsgesetz keine Anwendung finden, wenn ein sowjetischer Reisepass bzw. ein Reisepass des Herkunftsstaates nur zu fest umrissenen Zwecken (z. B. Legalisierung der Ausreise, Ausbürgerung) oder deshalb beantragt oder erneuert wird, um weiterhin Besuchsreisen in die Heimat durchführen zu können.“

Der Grundsatzerlass des Auswärtigen Amtes vom 25. März 1997 – Az. 514-516.20/7 – bestätigt diese Rechtslage. Dort heißt es unter „I. Grundlagen“ wörtlich:

„Bund und Länder haben nach einer Vereinbarung zwischen dem Zentralrat der Juden und dem Bundeskanzler im Januar 1991 der Einreise jüdischer Emigranten aus der früheren Sowjetunion ohne zahlenmäßige und zeitliche Begrenzung, aber entsprechend den Aufnahmekapazitäten der Länder zugestimmt. Die Aufnahme wird analog zum Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge (KontingentflüchtlingsG) vom 22.07.1980 durchgeführt. Die Emigranten erhalten eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, zahlreiche Leistungen (Eingliederungshilfen, Hilfe zum Lebensunterhalt, Sprachkurse, Sozialversicherungen), sowie Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt.

Motiv war, Juden in der früheren Sowjetunion vor antisemitischen Pressionen zu schützen und ihnen eine Heimat zu bieten. Wesentlicher Gesichtspunkt der Entscheidung war zudem die Stärkung der jüdischen Gemeinden in Deutschland.

Angesichts der historischen Verantwortung Deutschlands ist den Antragstellern mit besonderer Sensibilität zu begegnen.“

Die jüdischen Emigranten erhielten den Status von Kontingentflüchtlingen gemäß § 2 HumHAG (vgl. hierzu auch Hochreuther, NVwZ 2000, 1376).

c) Diese Quellenlage führt nach Auffassung des Senats zu folgender Beurteilung:

aa) Der Wortlaut des Beschlusses der Ministerpräsidentenkonferenz gibt zwar eindeutig zu erkennen, dass die Aufnahme jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion nur entsprechend den Vorschriften des HumHAG erfolgte, weil sich die Beteiligten von vornherein darüber im klaren waren, dass es sich bei den jüdischen Emigranten mangels Verfolgungs- oder Flüchtlingsschicksals gerade nicht um Kontingentflüchtlinge im Rechtssinne handelte, und eine unmittelbare Anwendung des tatbestandlich nicht einschlägigen Gesetzes deshalb nicht beschlossen werden konnte (vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 15.9.2004 –1 L 106/02 –, LKV 2005, 510 [512]; OVG Berlin, Beschluss vom 30.7.2004 – 2 N 87.04 – <juris>; OVG Berlin, Beschluss vom 15.11.2002 –, EZAR 018, Nr. 2; VG Osnabrück, Urteil vom 10.7.2006 – 5 A 53/06 – <juris>; VG Augsburg, Urteil vom 11.7.2000, NVwZ 2000, 1449 [1450]; VG Neustadt, Urteil vom 6.10.1999, NVwZ 2000, 1447 [1448]). Daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass das Kontingentflüchtlingsgesetz für diese Emigranten nicht gelten würde (so jedoch VG Augsburg, Beschluss vom 11.7.2007 – Au 1 S 07.622 – <juris>). Aufgrund der Aufnahme dieses Personenkreises „entsprechend“ dem Kontingentflüchtlingsgesetz ist eine mittelbare oder auch analoge Anwendung nicht etwa ausgeschlossen, sondern im Gegenteil gerade beabsichtigt (vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 15.9.2004 – 1 L 106/02 –, LKV 2005, 510 [512]; VG Neustadt, Urteil vom 6.10.1999, NVwZ 2000, 1447 [1448]; VG Karlsruhe, Urteil vom 19.12.2005, ZFSH/SGB 2006, 339 [341 f.]; VG Osnabrück, Urteil vom 10.7.2006 – 5 A 53/06 – <juris>; a.A.: VG Augsburg, Urteil vom 19.9.2001 – Au 1 K 01.451 – <juris>). Das Rundschreiben des BMI vom 10. August 1993 – A 2-125 341 – ISR/1 – belegt dies eindeutig. Die jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion sind den unmittelbar nach dem Kontingentflüchtlingsgesetz aufgenommenen Flüchtlingen gleichgestellt; sie erhalten denselben Rechtsstatus. Abweichungen sind lediglich aus sachlich geboten Gründen möglich, um etwaigen, vom unmittelbaren Anwendungsbereich des Kontingentflüchtlingsgesetzes abweichenden Besonderheiten Rechnung zu tragen. Mit Blick auf die Rechtsstellung jüdischer Emigranten kann damit festgehalten werden, dass sie zwar nicht als Kontingentflüchtlinge im eigentlichen Sinne bezeichnet werden können. Begrifflich lässt sich ihr Status jedoch durchaus als „Kontingentflüchtlinge in einem weiteren, gewissermaßen untechnischen Sinne“ umschreiben (vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 15.9.2004 – 1 L 106/02 –, LKV 2005, 510 [512]; VG Karlsruhe, Urteil vom 19.12.2005, ZFSH/SGB 2006, 339 [341 f.]; VG Osnabrück, Urteil vom 10.7.2006 – 5 A 53/06 – <juris>). Teilweise ist hinsichtlich ihres Status auch zu Recht von einer „mittelbaren Rechtsstellung als Konventionsflüchtlinge“ die Rede (vgl. Welte, in: Jakober/Welte, Aktuelles Ausländerrecht, Bd. 2, 60. Ergänzungslieferung 12/2001, § 33 AuslG RNr. 11). Noch weitergehend spricht das Verwaltungsgericht Kassel (Urteil vom 15.4.1998 – 4 E 4222/95 [4] –, InfAuslR 1999, 313 [314]) von einer „wirklichen“ Aufnahme nach § 1 Abs. 1 HumHAG. Die immer wieder betonte „entsprechende“ Anwendung sei lediglich außenpolitischen Erwägungen (Rücksichtnahme auf Russland und Israel) geschuldet. In der Tat deuten die Ausführungen im Teilrunderlass des Auswärtigen Amtes vom 25. März 1997 – Az. 514-516.20/7 – in diese Richtung. Dort heißt es unter anderem: “Motiv war, Juden in der früheren Sowjetunion vor antisemitischen Pressionen zu schützen“.

bb) Mit Blick auf die Anwendbarkeit der Vorschriften des HumHAG auf jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion bedeutete die zwischen Bund und Ländern vereinbarte Verwaltungspraxis, dass diesem Personenkreis analog § 1 Abs. 3 HumHAG sofort eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt und eine entsprechende Bescheinigung nach § 2 HumHAG ausgestellt werden konnte, ohne dass es zuvor einer individuellen Prüfung im Hinblick auf eine Verfolgung oder Diskriminierung in der ehemaligen Sowjetunion bedurft hätte (vgl. OVG Berlin, Beschluss vom 15.11.2002, EZAR 018, Nr. 2, S. 4; VG Neustadt, Urteil vom 6.10.1999, NVwZ 2000, 1447 [1448]; VG Osnabrück, Urteil vom 10.7.2006 – 5 A 53/06 – <juris>). Auf Grund ihres Status als Konventionsflüchtlinge erhielten sie sogleich Anspruch auf bestimmte Vergünstigungen, wie z. B. Eingliederungshilfen, Sprachkurse, Unterbringung, Sozialhilfe und Zugang zum Arbeitsmarkt (vgl. Hochreuther, NVwZ 2000, 1376).

cc) Vor dem Hintergrund der von der Ministerpräsidentenkonferenz bewusst ins Werk gesetzten, wegen des Fehlens der tatbestandlichen Voraussetzungen denknotwendig lediglich entsprechenden Anwendung des HumHAG kann gerade auch angesichts der besonderen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht davon ausgegangen werden, dass die analoge Heranziehung des HumHAG ausgerechnet vor dem Refoulement-Verbot des § 33 Abs. 1 GFK und seiner nationalen Umsetzung in § 60 Abs. 1 AufenthG hat halt machen wollen. Der im Rundschreiben des BMI vom 10. August 1993 – A 2 - 125 341 – ISR/1 – aufgestellte Grundsatz der Gleichstellung von jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion und Kontingentflüchtlingen, der Durchbrechungen nur ausnahmsweise, nämlich aus sachlich gebotenen Gründen gestattet, um vom unmittelbaren Anwendungsfall des Kontingentflüchtlingsgesetzes abweichenden Besonderheiten Rechnung zu tragen, steht dem entgegen. Angesichts der mit der Wiederaufnahme jüdischer Emigranten verfolgten Intention einer mittel- und langfristigen Revitalisierung jüdischen Kultur- und Geisteslebens durch Schaffung einer neuen Heimstätte in Deutschland liegt vielmehr gerade das Gegenteil, nämlich die Zuerkennung eines dem Refoulement-Verbot des Art. 33 Abs. 1 GFK entsprechenden Abschiebungsschutzes nahe, auch ohne dass dessen Tatbestandsvoraussetzungen im Einzelnen vorliegen müssen. Mit Blick auf die Verfolgung der europäischen Juden in der Zeit des Nationalsozialismus, ihrer zielgerichteten Ausgrenzung, Entrechtung, Vertreibung und Ermordung, erscheint es schlechterdings nicht vorstellbar, jüdische Emigranten zur Wiederbelebung jüdischer Kultur ins Land zu holen, ohne ihnen nicht zugleich ein Mindestmaß an Abschiebungsschutz zu gewähren, wie dies durch die (Rechtsfolgen-)Verweisung in § 1 Abs. 1 HumHAG auf Art. 33 Abs. 1 GFK vorgesehen ist. Wenn bereits die Aufnahme des entsprechenden Personenkreises in der Vergangenheit nicht vom Vorliegen einer Verfolgungssituation abhängig gemacht wurde, so versteht es sich im Grunde von selbst, dass ein Absehen von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen in der Gegenwart ebenso wenig an die Voraussetzung einer konkreten Verfolgung im Land der Herkunft geknüpft werden darf, sondern vielmehr – in den durch Art. 33 Abs. 2 GFK/§ 60 Abs. 8 AufenthG gezogenen Grenzen – ein dauerhaftes Bleiberecht gewährleistet werden soll, das bereits vor dem Wirksamwerden besonderen Ausweisungsschutzes nach § 48 AuslG/§ 56 Abs. 1 AufenthG einen halbwegs gesicherten Rechtsstatus unmittelbar mit der Einreise verleiht. Dessen waren sich die politisch Handelnden auch durchaus bewusst. Die im Rundschreiben des BMI vom 10. August 1993 im Zusammenhang mit der entsprechenden Anwendung des HumHAG gewählte Formulierung

„dies bedeutet allerdings, dass die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion den unmittelbar nach dem Kontingentflüchtlingsgesetz aufgenommenen Flüchtlingen gleichgestellt werden und denselben Rechtsstatus erhalten, d. h. ihnen stehen die sich aus den Artikeln 2 bis 34 der Genfer Flüchtlingskonvention ergebenden Vergünstigungen zu (z. B. unbefristete Aufenthaltserlaubnis, Eingliederungshilfen, Zugang zum Arbeitsmarkt)“,

belegt dies eindrucksvoll. Der Verweis auf Art. 2 – 34 GFK ist umfassend und nicht lediglich auf die materiellen Vergünstigungen des Flüchtlingsstatus begrenzt. Die politisch Verantwortlichen waren sich über die Unteilbarkeit dieses Rechtsfolgenverweises sehr wohl im klaren, anders wäre die Wendung – „dies bedeutet allerdings“ – im Rundschreiben des BMI vom 10. August 1993 nicht zu erklären. Art. 33 GFK/§ 60 Abs. 1 und 8 AufenthG sind daher auf jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion sinngemäß mit folgendem Inhalt anzuwenden:

- Kein jüdischer Emigrant aus der ehemaligen Sowjetunion wird abgeschoben.

- Auf die Vergünstigung dieser Vorschrift kann sich ein jüdischer Emigrant aus der ehemaligen Sowjetunion nicht berufen, der aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wurde. Gleiches gilt, wenn der jüdische Emigrant die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylverfahrensgesetzes erfüllt.

In ihrem Vertrauen hierauf sind die jüdischen Emigranten spätestens mit der Ausstellung der Bescheinigung gemäß § 2 HumHAG schutzwürdig und schutzbedürftig, auch wenn diese lediglich deklaratorische Wirkung entfaltet. Allein dies entspricht der mit der entsprechenden Anwendung des HumHAG beabsichtigten grundsätzlichen Gleichstellung jüdischer Emigranten mit Konventionsflüchtlingen (vgl. hierzu OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 15.9.2004 – 1 L 106/02 –, LKV 2005, 510 [512]; VG Osnabrück, Urteil vom 10.7.2006 – 5 A 53/06 – <juris>; Welte, in: Jakober/Welte, Aktuelles Ausländerrecht, Bd. 2, 60. Ergänzungslieferung 12/2001, § 33 AuslG RNr. 11; ders. in: Welte/Jakober, Aktuelles Ausländerrecht, 99. Ergänzungslieferung 11/2006, § 103 AufenthG RNr. 5). Dass der einzelne Emigrant gleichsam persönlich auf das Bestehen von Abschiebungsschutz vertraut haben müsste, um sich auf den Schutz des § 60 Abs. 1 AufenthG berufen zu dürfen, ist insoweit nicht erforderlich. Vielmehr genügt – wie auch sonst – eine generalisierende Betrachtungsweise.

Mit den in Art. 33 Abs. 2 GFK/§ 60 Abs. 8 AufenthG vorgesehenen Einschränkungen wird zugleich ein sachgerechter Ausgleich zwischen den Schutz- und Bewahrungsinteressen der jüdischen Emigranten und dem berechtigten Sicherheitsstreben der Allgemeinheit hergestellt, der die Grenzen des Zumutbaren nach beiden Seiten hin nicht überschreitet und dabei zugleich auch der historischen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland angemessen Rechnung trägt.

dd) Weigerte man sich, die soeben beschriebenen Konsequenzen zu ziehen, so würde sich die Bundesrepublik Deutschland eines widersprüchlichen Verhaltens schuldig machen. Es kann nicht einerseits sehenden Auges ein bestimmter Personenkreis dem Anwendungsbereich eines Gesetzes unterworfen werden, wohl wissend, dass dessen Tatbestandsvoraussetzungen von vornherein nicht vorliegen, ihm aber andererseits der gebotene Schutz versagt werden, wenn er sich auf die Rechtsfolgenverheißungen der entsprechenden Normen beruft. Der Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 9. Januar 1991 ist deshalb so auszulegen und anzuwenden, dass er den jüdischen Emigranten einen Anspruch auf die Rechtsfolgen der Bestimmungen des HumHAG gewährt, obwohl die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen – mangels Bestehen der Flüchtlingseigenschaft – nicht gegeben sind (im Ergebnis ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 19.12.2005, ZFSH/SGB 2006, 339 [341 f.]). Dies allein entspricht dem Inhalt des Rundschreibens des BMI vom 10. August 1993 und dem Grundsatzerlass des Auswärtigen Amtes vom 25. März 1997 (ebenso Raabe, ZAR 2004, 410 [411]), deren ausdrückliches Ziel es ist, Juden aus der früheren Sowjetunion eine (neue) Heimat zu bieten.

Es mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen, dass eine Person in den Genuss seines Abschiebungsverbots nach Art. 33 Abs. 1 GFK/§ 60 Abs. 1 AufenthG gelangen kann, die im Land ihrer Herkunft keine aktuelle Verfolgung zu erwarten hat. Diese Rechtswohltat ist jedoch unmittelbarer Ausfluss einer politischen und nicht einer rechtlichen Entscheidung, nämlich des Beschlusses der Ministerpräsidentenkonferenz vom 9. Januar 1991, § 1 Abs. 1 HumHAG für jüdische Einwanderer aus der Sowjetunion für entsprechend anwendbar zu erklären, und des dadurch gesetzten Vertrauenstatbestandes, an dem sich der Vertrauensgeber – die Bundesrepublik Deutschland – in den Grenzen des Art. 33 Abs. 2 GFK/§ 60 Abs. 8 AufenthG festhalten lassen muss und auf den sich der Vertrauensnehmer – der Emigrant – auch dann berufen darf, wenn in seinem Fall die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 33 Abs. 1 GFK/§ 60 Abs. 1 AufenthG nicht erfüllt sind.

Letzteres ist im Übrigen nicht allein das Ergebnis der erwähnten – politischen – Entscheidung der Ministerpräsidentenkonferenz vom 9. Januar 1991, sondern bereits des Kontingentflüchtlingsgesetzes selbst. § 2 a HumHAG sieht ausdrücklich vor, dass ein Ausländer, der eine Verfolgungssituation oder ein Flüchtlingsschicksal erlitten hat und als Kontingentflüchtling aufgenommen wurde, diese Eigenschaft und die durch sie vermittelte Rechtsstellung nach Art. 2 bis 34 GFK auch dann behält, wenn die seine Verfolgung und sein Flüchtlingsschicksal begründenden Umstände ihr Ende gefunden habe. Nach dem Willen des Gesetzgebers darf der Wegfall der Umstände, die den aufgenommenen Ausländer seinerzeit zum Flüchtling haben werden lassen, den Bestand des einmal erworbenen Status als Kontingentflüchtling nicht berühren (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.2.1996 – 9 C 145.95 –, InfAuslR 1996, 322 [324]).

Für den Fall der lediglich analogen Anwendung des HumHAG auf jüdische Emigranten kann nichts anderes gelten. Auch dieser Personenkreis ist des Nachweises eines aktuellen Verfolgungsschicksals enthoben, um sich auf die Rechtsfolgen des Art. 33 Abs. 1 GFK/§ 60 Abs. 1 AufenthG berufen zu dürfen. Diese Vorschriften werden insoweit durch die in § 2 a HumHAG zum Ausdruck kommenden Wertungen überlagert. Die Tatsache, dass die jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion nicht vorverfolgt eingereist sind, darf ihnen aufgrund der beabsichtigten Gleichstellung mit echten Konventionsflüchtlingen deshalb nicht entgegengehalten werden. Infolge der besonderen Struktur des Kontingentflüchtlingsgesetzes, das Bestandsschutz grundsätzlich auch dann gewährt, wenn die ursprünglichen Aufnahmevoraussetzungen nachträglich entfallen sind, liegen mit Blick auf die jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion auch keine vom unmittelbaren Anwendungsfall dieses Gesetzes abweichende Besonderheiten vor, denen aus sachlich gebotenen Gründen Rechnung zu tragen wäre (vgl. Rundschreiben des BMI vom 10. August 1993). Der Gesichtspunkt des Bestandsschutzes umgreift beide Gruppen, die „echten“ Kontingentflüchtlinge und die jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion, gleichermaßen.

Daran hat sich im Grundsatz – jedenfalls zum Nachteil der jüdischen Emigranten – bis heute nichts geändert. Zwar hat der Gesetzgeber nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Februar 1996 (InfAuslR 1996, 322 [324]) mit Wirkung vom 31. Oktober 1997 (BGBl I, S. 2588) mit § 2 b HumHAG einen Widerrufstatbestand eingeführt, nach dem die Rechtsstellung des § 1 HumHAG entzogen werden kann, wenn festgestellt wird, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (§ 60 Abs. 1 AufenthG) in Bezug auf den Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Ausländer besitzt, nicht mehr vorliegen. § 2 b HumHAG ist jedoch nach einhelliger Auffassung auf die jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion nicht anwendbar, da diese dort gerade keiner Verfolgung unterworfen waren und deshalb ein nachträglicher Wegfall der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (§ 60 Abs. 1 AufenthG) denknotwendig nicht möglich ist (vgl. VG Augsburg, Urteil vom 11.7.2000 – Au 3 K 99.30656 –, NVwZ 2000, 1449 [1451] unter ausdrücklicher Bezugnahme auf ein entsprechendes Schreiben des BayStMI vom 22.10.1999). Dies gilt auch nach der in § 103 AufenthG angeordneten Fortgeltung.

In der Tat entspricht es der Verwaltungspraxis der Beklagten – wie auch der übrigen Ausländerbehörden –, straffällig gewordene jüdische Emigranten (sofern das Aufenthaltsgesetz dies zulässt) zwar auszuweisen, jedoch mit Rücksicht auf den Status der Betroffenen aus § 1 Abs. 1 HumHAG in Verbindung mit Art. 33 Abs. 1 GFK/§ 60 Abs. 1 AufenthG von Abschiebungsmaßnahmen abzusehen. Dementsprechend hat die Beklagte im Parallelverfahren – 19 B 07.1777 – gegen die Entscheidung des Senats vom 7. August 2008 (vgl. InfAuslR 2009, 98) trotz ausdrücklicher Zulassung der Revision kein Rechtsmittel eingelegt und das Ergebnis – entsprechend ihrer bisherigen Rechtspraxis – gegen sich gelten lassen.

d) Dieser Rechtspraxis steht Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, wonach niemand wegen u.a. seiner Abstammung und Herkunft, seines Glaubens oder seiner religiösen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf, nicht entgegen. Es trifft zwar zu, dass straffällig gewordene jüdische Emigranten durch den Verzicht auf Abschiebungsmaßnahmen gegenüber anderen delinquenten Ausländern bevorzugt werden. Diese Differenzierung ist jedoch – wie nicht zuletzt die Beweggründe für die Zuwanderung jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion zeigen – zum Ausgleich für die Verfolgung und Diskriminierung dieses Volkes in der Vergangenheit gerechtfertigt, obwohl die heute hierdurch Begünstigten von der Shoah nicht am eigenen Leib betroffen waren (vgl. hierzu Hochreuther, NVwZ 2000, 1376 [1377]; Weizäcker, ZAR 2004, 93 [100]; Raabe, ZAR 2004, 410 [413; 414] jeweils m.w.N.). Das einzigartige unmenschliche Schicksal, dem die jüdische Bevölkerung Europas unter der Herrschaft des Nationalsozialismus ausgesetzt war, prägt den Geltungs- und Achtungsanspruch eines jeden von ihnen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern des Landes, auf denen diese Vergangenheit ruht (vgl. hierzu auch Raabe, ZAR 2004, 410 [414]). Der Bundesgerichtshof (vgl. BGHZ 75, 160 [162 f.]) und ihm folgend das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfG 90, 241 [251 f.]) haben diesen Zusammenhang treffend wie folgt umschrieben:

„Die historische Tatsache selbst, dass Menschen nach dem Abstammungskriterien der sogenannten Nürnberger Gesetze ausgesondert und mit dem Ziel der Ausrottung ihrer Individualität beraubt wurden, weist den in der Bundesrepublik lebenden Juden ein besonderes personales Verhältnis zu ihrem Mitbürgern zu; in diesem Verhältnis ist das Geschehene auch heute gegenwärtig. Es gehört zu ihrem personalen Selbstverständnis, als zugehörig zu einer durch das Schicksal herausgehobenen Personengruppe begriffen zu werden, der gegenüber eine besondere moralische Verantwortung aller anderen besteht, und das Teil ihrer Würde ist. Die Achtung dieses Selbstverständnisses ist für jeden von ihnen geradezu eine der Garantien gegen eine Wiederholung solcher Diskriminierung und eine Grundbedingung für ihr Leben in der Bundesrepublik.“…

Die Achtung dieses Selbstverständnisses obliegt auch und gerade dem Staat (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG) und damit nicht zuletzt den Ausländerbehörden. Dieser Zusammenhang wird – in den durch Art. 33 Abs. 2 GFK/§ 60 Abs. 8 AufenthG gezogenen Grenzen – selbst durch eine Delinquenz der Betroffenen nicht aufgehoben. Von einer bislang rechtswidrigen Verwaltungspraxis, die einer Korrektur zugänglich oder ihrer gar bedürftig wäre, kann mithin keine Rede sein. Vielmehr ist der Beklagten die Berufung auf eine mangelnde Statusbegründung jüdischer Emigranten nach dem HumHAG nicht zuletzt aufgrund der von ihr selbst gesetzten, mehr als eineinhalb Jahrzehnte währenden und mit dem Verzicht auf Rechtsmittel im Parallelverfahren 19 B 07.1777 erneut bestätigten gegenteiligen Verwaltungspraxis abgeschnitten.

e) Der besondere ausländerrechtliche Status der jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion ist auch mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 nicht entfallen (so mit Recht VG Osnabrück, Urteil vom 10.7.2006 – 5 A 53/06 – <juris>; VG Karlsruhe, Urteil vom 19.12.2005, ZFSH/SGB 2006, 339 [341 f.]). Der Gesetzgeber hat die bisherige, die jüdischen Zuwanderer betreffende Verwaltungspraxis der Ausländerbehörden mit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes nachträglich gebilligt und auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. In § 101 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist nunmehr ausdrücklich vorgesehen, dass eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die nach § 1 Abs. 3 HumHAG oder in entsprechender Anwendung dieses Gesetzes erteilt wurde, und eine anschließend erteilte Aufenthaltsberechtigung als Niederlassungserlaubnis nach § 23 Abs. 2 AufenthG fortgelten.

In der Begründung zu § 23 AufenthG (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 78) ist Folgendes ausgeführt:

„Die Aufnahme jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion (seit 1991 insgesamt bisher über 170.000 Personen) erfolgt bislang lediglich in entsprechender Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes (Ergebnis der Besprechung des Bundeskanzlers mit den Regierungschefs der Länder vom 9.1.1991). Die neue Vorschrift schafft für derartige Fälle nunmehr eine sichere Rechtsgrundlage. Das Ergebnis der Besprechung vom 9. Januar 1991 dokumentiert den übereinstimmenden Willen zur Aufnahme dieses Personenkreises, es bedarf deshalb auch nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes keiner erneuten Anordnung. Die in § 1 Abs. 1 Kontingentflüchtlingsgesetz vorgesehene Gewährung der Rechtsstellung nach den Art. 2 bis 34 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention) ist im Hinblick auf die Gewährung einer Niederlassungserlaubnis nicht mehr erforderlich“. …

Daraus folgt im Umkehrschluss nicht mehr und nicht weniger, als das nach Auffassung des Gesetzgebers ein Schutz des betroffenen Personenkreises durch das in Art. 33 Abs. 1 GFK enthaltene Refoulement-Verbot und dessen nationale Umsetzung in § 60 Abs. 1 AufenthG – jedenfalls vor Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes – unverzichtbar war und mit dem für entsprechend anwendbar erklärten § 1 HumHAG auch gewährleistet werden sollte.

Auch wenn nach dem Willen des Gesetzgebers künftig die Aufnahme jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion allein auf der Grundlage der Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes erfolgen soll, lässt sich daraus nicht folgern, dass die bereits seit Jahren in der Bundesrepublik Deutschland lebenden jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion nur noch nach den neuen aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen zu behandeln wären (so mit Recht auch VG Osnabrück, Urteil vom 10.7.2006 – 5 A 53/06 – <juris>; VG Karlsruhe, Urteil vom 19.12.2005, ZFSH/SGB 2006, 339 [341 f.]). Vielmehr hat der Gesetzgeber durch die generalklauselartige Formulierung des § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zum Ausdruck gebracht, dass der bisherige besondere ausländerrechtliche Status der jüdischen Zuwanderer unangetastet bleiben soll.

Nach dieser Vorschrift bleiben die vor dem 1. Januar 2005 getroffenen sonstigen ausländerrechtlichen Maßnahmen, insbesondere zeitliche und räumliche Beschränkungen, Bedingungen und Auflagen, Verbote und Beschränkungen der politischen Betätigung sowie Ausweisungen, Abschiebungsandrohungen, Aussetzungen der Abschiebung und Abschiebungen einschließlich ihrer Rechtsfolgen und der Befristung ihrer Wirkungen sowie begünstigende Maßnahmen, die Anerkennung von Pässen und Passersatzpapieren und Befreiungen von der Passpflicht, Entscheidungen über Kosten und Gebühren, wirksam. Bereits der Wortlaut des § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG („insbesondere“) macht deutlich, dass der Gesetzgeber den Begriff der Maßnahmen in einem umfassenden Sinne und damit die Norm selbst als Auffangtatbestand verstanden wissen wollte, um weitere spezielle Überleitungsregelungen entbehrlich zu machen (vgl. VG Osnabrück, Urteil vom 10.7.2006 – 5 A 53/06 – <juris>). Es unterliegt daher keinem vernünftigen Zweifel, dass die bereits seit Jahren in der Bundesrepublik Deutschland lebenden jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion sich auch nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes weiterhin auf die ihnen mit der entsprechenden Anwendung des HumHAG gewährten Rechtsfolgenverheißungen berufen dürfen.

Bestätigung erfährt dieser Befund auch durch § 103 AufenthG. Die Vorschrift soll über ihren unmittelbaren Wortlaut hinaus sicherstellen, dass auf den unter dem HumHAG aufgenommenen Personenkreis auch nach dem Außerkrafttreten dieses Gesetzes (vgl. Art. 15 Abs. 3 Nr. 3 Zuwanderungsgesetz) weiterhin die Rechtsstellung nach der Genfer Flüchtlingskonvention zur Anwendung kommt (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand: April 2005, RNr. 1 zu § 103 AufenthG; VG Karlsruhe, Urteil vom 19.12.2005, ZFSH/SGB 2006, 339 [341 f.]; VG Osnabrück, Urteil vom 19.7.2006 – 5 A 53/06 – <juris>). Gleichzeitig wird der dem Kontingentflüchtlingsgesetz immanente Bestandsschutz durch die in § 103 AufenthG enthaltene Verweisung auf § 2 a HumHAG prolongiert. Die im Parallelverfahren 19 B 07.1777 vertretene Auffassung der Beklagten, der Status der Betroffenen als Kontingentflüchtling nach § 1 HumHAG sei durch das Aufenthaltsgesetz nicht übergeleitet worden, entbehrt der Grundlage. Vielmehr gibt das Aufenthaltsgesetz der bisherigen Verwaltungspraxis auch weiterhin Raum, wie nicht zuletzt § 103 AufenthG zeigt.

f) Dessen ungeachtet ist die Beklagte auch aufgrund ihrer eigenen Verwaltungspraxis in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten gehindert, hiervon abzurücken. Der Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung (Art. 3 Abs. 1 GG) steht jedem willkürlichen Abweichen entgegen (vgl. hierzu Kopp/Raumsauer, VwVfG, 11. Aufl., 2010, § 40 RNr. 25 m.w.N.). Sachlich vertretbare Gründe für eine Änderung der bisherigen Gepflogenheiten sind nicht ersichtlich, zumal die Beklagte die im Parallelverfahren 19 B 07.1777 ergangene Entscheidung des Senats – trotz ausdrücklicher Zulassung der Revision – hat gegen sich gelten lassen. Art. 33 Abs. 1 GFK/§ 60 Abs. 1 AufenthG sind damit auch im Fall des Klägers anzuwenden.

g) Art. 33 Abs. 1 GFK/§ 60 Abs. 1 AufenthG kommen – wie bereits erwähnt – zwar dann nicht zum Tragen, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist (§ 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG). Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG sind vorliegend – wie der Senat bereits mit Schreiben vom 3. August 2010 hat erkennen lassen – jedoch nicht mehr erfüllt, nachdem der Kläger sich seiner Erkrankung stellt und das Medikament „Zyprexa“ fortwährend einnimmt. Die Verurteilung des Klägers zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren liegt zwar erheblich über dem in § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG vorgesehenen Mindeststrafrahmen. Allein die rechtskräftige Verurteilung zu einer mindestens dreijährigen Freiheitsstrafe führt jedoch noch nicht automatisch zum Ausschluss des Abschiebeschutzes. Vielmehr muss darüber hinaus im Einzelfall von dem Betroffenen auch eine konkrete Wiederholungsgefahr ausgehen, die nur dann vorliegt, wenn in Zukunft neue vergleichbare Straftaten des Ausländers ernsthaft drohen und nicht lediglich als entfernte Möglichkeit erscheinen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2000 – 19 C 6.00 –, InfAuslR 2001, 194 [196]; Hamburgisches OVG, Beschluss vom 22.9.1995 – OVG BS IV 87/95 –, InfAuslR 1996, 107; VGH BW, Beschluss vom 28.3.1996 – 1 S 1404/95 –, InfAuslR 1996, 328 [330] zum insoweit inhaltsgleichen § 51 Abs. 3 AuslG 1990).

Eine solche lässt sich nach den ergänzenden und erläuternden Stellungnahmen des psychiatrischen Sachverständigen Dr. W… vom 27. Mai und 20. Juli 2010, deren Inhalt der Senat in vollem Umfang folgt, jedoch nicht mehr aufrecht erhalten. Nach der Stellungnahme vom 27. Mai 2010 ist die verbleibende, vom Kläger ausgehende Gefahr vergleichbarer Taten auf Grund der Einnahme des Medikaments „Zyprexa“ als soweit reduziert anzusehen, dass dieselbe nicht mehr als so hinreichend konkret beschrieben werden kann, wie noch im Gutachten vom November 2009 festgehalten. Nach der ergänzenden Erläuterung des Sachverständigen vom 20. Juli 2010 kann aufgrund der in der Stellungnahme vom 27. Mai 2010 dargestellten Reduktion der Wahrscheinlichkeit neuerlicher schwerwiegender Straftaten nicht mehr mit der bei prognostischen Beurteilungen üblicherweise zu fordernden Sicherheit von einer konkreten Wiederholungsgefahr neuerlicher vergleichbarer Straftaten (Gewalttaten, insbesondere Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit Dritter) gesprochen werden. Vielmehr ist – stets unter der Prämisse der Fortführung der aktuellen Medikation – von einer Risikoabnahme auszugehen, die ein solches Geschehen deutlich unwahrscheinlicher macht, was sowohl nach der Einschätzung des Gutachters als auch der des Senats eine Interpretation im Sinne einer bloßen – gleichsam entfernten – Möglichkeit einer erneuten Delinquenz des Klägers rechtfertigt. Die bloße Möglichkeit genügt indes nicht, um nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 16.11.2009 – 9 C 6.00 –, InfAuslR 2001, 194 [196]) von einer konkreten Wiederholungsgefahr im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG ausgehen zu dürfen.

Die hiervon abweichenden Überlegungen der Beklagten können nicht überzeugen. Nach dem Ergebnis der schriftlichen Beweisaufnahme bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger das Medikament „Zyprexa“ nicht dauerhaft einnehmen wird oder eine begleitende fachärztliche Behandlung nicht gewährleistet erscheint. Soweit der Kläger früher eine medikamentöse Behandlung abgelehnt hat, wird dies durch die erheblichen Nebenwirkungen der damals zur Verfügung stehenden Medikamente nachvollziehbar erklärt. Die dauerhafte Einnahme des Medikaments „Zyprexa“ kann zum Gegenstand einer Nebenbestimmung (Bedingung) der dem Kläger zu erteilenden Duldung gemacht und die Regelmäßigkeit der Medikation selbst mittels Blutprobe durch das Staatliche Gesundheitsamt kontrolliert werden. Der in dem Medikament „Zyprexa“ enthaltene Wirkstoff „Olanzapin“ ist durch Untersuchung des Blutplasmaspiegels nachweisbar und die regelmäßige Einnahme deshalb – gegebenenfalls auch unangekündigt – überprüfbar (vgl. B. Steil, Delirantes Syndrom und Olanzapin-Intoxikation, in: Der Nervenarzt, 2003, 1009; Hiemke/Baumann/Laux/Kuss, Therapeutisches Drug-Monitoring in der Psychiatrie, in: Psychopharmakotherapie, 2005, 166 ff.). Die Unterwerfung des Klägers unter ein entsprechendes Prozedere kann – mit einem entsprechenden Widerrufsvorbehalt – Gegenstand einer Nebenbestimmung der dem Kläger zu erteilenden Duldung sein. Der Senat vermag deshalb die Besorgnis der Beklagten, eine wirksame Medikamenteneinnahme durch den Kläger sei nicht gewährleistet und die von ihm ausgehende Wiederholungsgefahr bestehe deshalb unvermindert fort, nicht zu teilen. Vielmehr bestehen ausreichende Möglichkeiten, die regelmäßige Einnahme des Medikaments „Zyprexa“ sicherzustellen, zumal inzwischen mit Beschluss des Landgerichts Bayreuth vom 18. Oktober 2010 eine Betreuung des Klägers mit den Aufgabenkreisen Gesundheitsfürsorge/Zuführung zur nervenärztlichen Heilbehandlung, Aufenthaltsbestimmung, Verkehr mit Ämtern und Behörden/sozialrechtliche Angelegenheiten errichtet wurde und der Kläger gemäß § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG i.V.m. dem in der Duldung vorzusehenden Widerrufsvorbehalt mit dem Verlust seines Aufenthaltsstatus zu rechnen hat, falls er die Medikation eigenmächtig abbrechen sollte. Damit erfüllt der Kläger die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 102 Abs. 1 Satz 1, Art. 33 Abs. 1 GFK/§ 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 1 Abs. 1 HumHAG.

2. Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG

a) Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers abgesehen werden, wenn für ihn im Zielstaat eine erhebliche konkrete (individuelle) Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht, was auch dann der Fall ist, wenn eine notwendige medizinische Behandlung im Zielstaat zwar grundsätzlich möglich, dem Betroffenen jedoch aus finanziellen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2002 – 1 C 1.02 –, DVBl 2003, 463 [464]; OVG Hamburg, Beschluss vom 29.11.2007 – 3 BS 266/05 –, InfAuslR 2007, 382 [383]).

b) Diese Voraussetzungen sind nach dem Ergebnis der schriftlichen Beweisaufnahme erfüllt. Zwar stehen die vom Kläger benötigten Medikamente (bzw. wirkstoffgleichen Präparate) und Behandlungsmaßnahmen auch in der Russischen Föderation zur Verfügung, allerdings betragen die monatlichen Kosten für die in den fachärztlichen Gutachten für erforderlich erachteten Behandlungsmaßnahmen nach Auskunft der von der deutschen Botschaft in Moskau hierzu auf der Grundlage der übersandten Gutachten konsultierten Vertrauensärztin (vgl. näher Stellungnahme der Botschaft vom 26. November 2010) insgesamt ca. 400,-- Euro (300,-- für die ärztliche Behandlung und zusätzlich ca. 100,-- Euro für Medikamente). Die am Ort der Registrierung gewährte kostenlose medizinische Behandlung entspricht nicht dem vom Kläger nach seiner Herzklappenoperation benötigten Standard. Nachdem diese in Russland offensichtlich noch wenig verbreitete Behandlungsmethode beim Kläger bereits (erfolgreich) angewandt wurde, ist für die Beurteilung des medizinisch Notwendigen (Folgebehandlungen) der Gesundheitszustand des Klägers nach einer beidseitigen Herzklappenoperation zugrunde zu legen. Gleiches gilt im Hinblick auf die bereits begonnene Medikation mit dem Medikament „Zyprexa“ bzw. einem Präparat mit vergleichbarem Wirkstoff. Nach der Stellungnahme der Botschaft vom 26. November 2010 beträgt der monatliche Mindestbedarf für Lebenshaltungskosten (ohne Wohnung) zur Zeit 110,-- Euro. Für eine bescheidene 1-Zimmer-Wohnung am Stadtrand von Sankt Petersburg sind ca. 400,-- Euro monatlich anzusetzen, so dass sich ein Gesamtbedarf von rund 910,-- Euro monatlich errechnet.

Aufgrund der Tatsache, dass dem Kläger infolge seiner krankheitsbedingten Einschränkungen nur eine leichte Bürotätigkeit zuzumuten ist, belaufen sich die Verdienstmöglichkeiten lediglich auf zwischen 14 000 und 23 000 Rubel (337,56 – 554,56 Euro) monatlich (vgl. Stellungnahme der Botschaft vom 26. November 2010). Zwar hat der Kläger ursprünglich den Beruf eines Rundfunk- und Fernsehingenieurs erlernt, indes ist nicht zu erwarten, dass er nach einer mehr als zehnjährigen Berufsabwesenheit in diesem Tätigkeitsfeld auch vor dem Hintergrund seiner psychischen Erkrankung sofort wieder Fuß fassen kann. Im Rahmen einer realitätsbezogenen Betrachtung kommen daher derzeit nur die im Schreiben der Botschaft vom 26. November 2010 aufgeführten Tätigkeiten in Betracht. Damit liegt auf der Hand, dass der Kläger – einen günstigen Verlauf seiner Bemühungen um Arbeit unterstellt – allenfalls sein Existenzminimum, nicht aber auch noch seinen medizinischen Behandlungsbedarf in Höhe von 400,-- Euro monatlich decken kann. Die erforderliche medizinische Versorgung ist daher für ihn (derzeit) aus finanziellen Gründen in seiner ehemaligen Heimat nicht erreichbar (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2002 – 1 C 1.02 –, DVBl 2003, 463 [464]; OVG Hamburg, Beschluss vom 29.11.2007 – 3 BS 266/05 –, InfAuslR 2007, 382 [383]), zumal auch ein Rechtsanspruch auf Unterstützung durch die im Inland lebenden Geschwister des Klägers (vgl. BVerwG, Beschluss vom 1.10.2001 – 1 B 185/01 – [juris] zu § 53 Abs. 6 AuslG) nicht besteht (siehe § 1601 BGB) und des Weiteren auch nicht ersichtlich ist, wie die 74-jährige, erst nach Beendigung ihrer Erwerbstätigkeit gemeinsam mit ihrem inzwischen verstorbenen Ehegatten aus Russland in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelte Mutter des Klägers die erheblichen Behandlungskosten ihres Sohnes unter Berücksichtigung ihres Selbstbehalts (vgl. § 1603 Abs. 1 BGB) von ihrer Rente bestreiten sollte. Eine Kostenübernahmeerklärung hat die Beklagte auch in ihrem Schreiben vom 20. Dezember 2010 nicht abgegeben.

Nach allem liegen nicht nur die Voraussetzungen des Art. 33 Abs. 1 GFK/§ 60 Abs. 1 AufenthG, sondern auch die des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Die Berufung hat deshalb in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Die Ausweisung des Klägers ist bereits auf Grund der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. März 2009 rechtskräftig.

3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 VwGO.

4. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

5. Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zum Rechtsstatus der sogenannten Kontingentflüchtlinge liegt nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Rechtsprechung verschiedener Oberverwaltungsgerichte aus Gründen der Rechtssicherheit, der Rechtseinheitlichkeit und der Fortbildung des Rechts im allgemeinen Interesse.

6. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.