BVerfG, Beschluss vom 28.01.2005 - 1 BvR 136/05
Fundstelle
openJur 2012, 133393
  • Rkr:
Tenor

Die sofortige Vollziehung der Ordnungsverfügung der Stadt Bielefeld vom 18. August 2004 - 500.314 - wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, vorläufig ausgesetzt.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen für das Verfahren über die einstweilige Anordnung zu erstatten.

Gründe

I.

Die Beschwerdeführerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Aussetzung der sofortigen Vollziehung einer Ordnungsverfügung, mit der ihr aufgegeben wurde, eine vorangegangene Ordnungsverfügung zu beachten und die Fortführung eines Heimbetriebs zu unterlassen.

1. Die Beschwerdeführerin mietete ein Hausanwesen und beherbergt dort mehrere Personen aufgrund von Untermietverträgen. Für ihre Mieter erbringt sie Pflegeleistungen durch einen von ihr betriebenen Pflegedienst.

Die Ausgangsbehörde vertritt die Auffassung, die Beschwerdeführerin betreibe damit ein Heim im Sinne des § 1 des Heimgesetzes, obwohl es ihr an der erforderlichen Zuverlässigkeit fehle. Sie forderte die Beschwerdeführerin durch Ordnungsverfügung auf, eine vorangegangene Ordnungsverfügung zu beachten und die Fortführung des Heimbetriebs zu unterlassen. Der Beschwerdeführerin wurde aufgegeben, ab Zustellung des Bescheids keine weiteren Bewohner aufzunehmen; zudem müsse sie - bis auf eine persönliche Bekannte - für alle derzeit bei ihr wohnenden und von ihr gepflegten Personen eine anderweitige Unterkunft außerhalb ihrer Wohnung suchen. Die sofortige Vollziehung dieser Ordnungsverfügung wurde mit der Begründung angeordnet, nach dem Ziel des Heimgesetzes habe der Schutz der Würde und der Interessen der Bewohner des Heimes Vorrang vor den persönlichen Interessen der Beschwerdeführerin.

Die Beschwerdeführerin legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein. Ihr Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung blieb vor dem Verwaltungsgericht ohne Erfolg. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Beschwerdeführerin wies das Oberverwaltungsgericht zurück.

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Anordnung des Sofortvollzugs und die hierzu ergangenen gerichtlichen Entscheidungen. Sie rügt die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 sowie aus Art. 2 Abs. 1 GG.

3. Zugleich mit der Verfassungsbeschwerde hat die Beschwerdeführerin Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG gestellt, mit dem sie die Aussetzung der sofortigen Vollziehung der Ordnungsverfügung erstrebt.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.

1. Nach den §§ 32, 93 d Abs. 2 BVerfGG kann die Kammer im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 25 <35>; 89, 109 <110 f.>).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

a) Mit der Anordnung, die Fortführung des Heimbetriebs zu unterlassen, und der Anordnung der sofortigen Vollziehung wird in die Berufsfreiheit der Beschwerdeführerin eingegriffen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind solche Eingriffe nur zum Schutze wichtiger Gemeinschaftsgüter und unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit statthaft (vgl. BVerfGE 44, 105 <117>). Überwiegende öffentliche Belange können es ausnahmsweise rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Wegen der gesteigerten Eingriffsintensität beim Sofortvollzug sind hierfür jedoch nur solche Gründe ausreichend, die in angemessenem Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen und ein Zuwarten bis zur Rechtskraft des Hauptverfahrens ausschließen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. Oktober 2003, NJW 2003, S. 3618 f.). Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, hängt von einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls und insbesondere davon ab, ob eine weitere Berufstätigkeit konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter befürchten lässt.

b) Ob die angegriffenen Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren diesen Maßstäben Rechnung tragen, ist zweifelhaft und bedarf gegebenenfalls der Überprüfung im Verfassungsbeschwerdeverfahren. Dabei wird zu prüfen sein, ob die Behörde und die Gerichte eine Gefahrenlage für wichtige Gemeinschaftsgüter, die den Sofortvollzug zu rechtfertigen vermag, mit konkreten Tatsachen nachvollziehbar belegt haben und ob die schwerwiegenden Folgen, die für die Beschwerdeführerin mit der Anordnung des Sofortvollzuges verbunden sind, in angemessener Weise gegen die konkret zu befürchtenden Folgen im Fall des Eintritts der aufschiebenden Wirkung abgewogen wurden.

3. Die mithin gebotene Folgenabwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, entstünden der Beschwerdeführerin durch den Vollzug der Ordnungsverfügung schon jetzt schwere und kaum wieder gutzumachende wirtschaftliche Nachteile. Die Beschwerdeführerin wäre gehalten, ihre berufliche Tätigkeit einzustellen mit der Folge, dass sie zumindest ihre derzeitigen Kunden verlieren und ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage gefährden würde. Erginge die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde später aber keinen Erfolg, könnte die Beschwerdeführerin hingegen weiterhin ihrer Tätigkeit nachgehen. Dass hierdurch eine Gefahrenlage begründet wird, konnte weder von der Behörde noch von den Gerichten festgestellt werden. Es sind keine konkreten Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Beschwerdeführerin die bei ihr wohnenden und von ihr gepflegten Personen oder deren Vermögen gefährdet. Die Gründe, aus denen nach Auffassung der Behörde die Unzuverlässigkeit der Beschwerdeführerin in erster Linie folgen soll - Straftaten des Betrugs und der Urkundenfälschung -, liegen in der Vergangenheit. Dass es danach, insbesondere während der Zeit der Untervermietungen und der Leistung der Pflegedienste, zu weiterem strafrechtlich relevanten Verhalten der Beschwerdeführerin kam, ist nicht ersichtlich.

4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 3 BVerfGG.

5. Wegen der besonderen Dringlichkeit ergeht diese Entscheidung unter Verzicht auf die Anhörung des Antragsgegners des Ausgangsverfahrens (§ 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).