BVerfG, Beschluss vom 26.11.1999 - 1 BvR 653/99
Fundstelle
openJur 2012, 134418
  • Rkr:
Tenor

Unter Beiordnung des Rechtsanwalts Schaller wird Prozeßkostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.

Gründe

Die über 30 Jahre alte Beschwerdeführerin, die seit 1987 ihre beiden Kinder neben einer Erwerbstätigkeit erzogen hat, begehrt die Bewilligung von Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG), um die allgemeine Hochschulreife auf dem Zweiten Bildungsweg zu erwerben.

I.

1. Die unverheiratete Beschwerdeführerin ließ sich unmittelbar nach dem Realschulabschluß in der Zeit von August 1983 bis Juli 1986 zur Krankenschwester ausbilden. Am 2. Februar 1987 gebar sie ihr erstes Kind. Im Frühjahr 1988 bestand sie die Eignungsprüfung für das Hansa-Kolleg, eine staatliche Einrichtung des Zweiten Bildungswegs in Hamburg, nicht. Nach der Geburt des ersten Kindes wechselten sich Zeiten der ganztägigen häuslichen Erziehung des Kindes mit Zeiten der Erwerbstätigkeit ab. Zwischendurch ließ sich die Beschwerdeführerin während einer 18 Monate dauernden Umschulungsmaßnahme zur Großhandelskauffrau ausbilden. Am 29. September 1994 gebar sie ihr zweites Kind. Danach nahm sie einen dreijährigen Erziehungsurlaub und bereitete sich anschließend ein halbes Jahr auf die Eignungsprüfung des Hansa-Kollegs vor, die sie im Frühjahr 1998 bestand. Danach besuchte sie ein Jahr die "Vorstufe". Seit Ende August 1999 befindet sie sich im zweiten Jahr (Klasse 12) mit 33 Stunden Unterricht, der im Kurssystem an fünf Tagen in der Woche erteilt wird.

2. Die Beschwerdeführerin beantragte am 21. Oktober 1997 im Vorabentscheidungsverfahren nach § 46 Abs. 5 BAföG eine Entscheidung im Sinne der Nummer 4 dieser Vorschrift, weil sie die Altersgrenze des § 10 Abs. 3 Satz 1 BAföG in der Fassung des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (6. BAföGÄndG) vom 16. Juli 1979 (BGBl I S. 1037) bereits einige Zeit überschritten hatte. Die Vorschrift verlangt als Voraussetzung für die Förderung, daß der Auszubildende bei Beginn des Abschnitts, für den er Ausbildungsförderung begehrt, noch nicht das 30. Lebensjahr vollendet haben darf. § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 und Satz 3 BAföG in der Fassung des Siebzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (17. BAföGÄndG) vom 24. Juli 1995 (BGBl I S. 976 - im folgenden: BAföG 1995), sehen jedoch vor, daß auch nach Überschreiten der Altersgrenze insbesondere dann noch eine Ausbildungsförderung möglich ist, wenn die Auszubildende durch persönliche oder familiäre Gründe, insbesondere die Erziehung von Kindern bis zu zehn Jahren gehindert war, den Ausbildungsabschnitt rechtzeitig zu beginnen. Voraussetzung ist allerdings, daß nach Erreichen der Zugangsvoraussetzungen oder dem Wegfall der Hinderungsgründe die Ausbildung unverzüglich aufgenommen wird. Die Beschwerdeführerin gab im fachgerichtlichen Verfahren an, sie habe sich trotz der Kindererziehung immer wieder um Arbeit bemüht, weil sie nicht der Sozialhilfe habe zur Last fallen wollen.

Die zuständige Behörde lehnte den Antrag auf Vorabentscheidung im Bescheid vom 13. November 1997 mit der Begründung ab, angesichts der Berufstätigkeit der Beschwerdeführerin fehle es an einem anerkennenswerten Verzögerungsgrund, denn die Beschwerdeführerin habe sich nicht ausschließlich der Kindererziehung gewidmet. Wer berufstätig gewesen sei, hätte auch die Ausbildung fortsetzen können. Der Widerspruch blieb erfolglos. Gegen den Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 1998 hat die Beschwerdeführerin vor dem Verwaltungsgericht Klage erhoben, über die in der Hauptsache noch nicht entschieden ist. Ihr zwischenzeitlich beim Verwaltungsgericht mit dem Ziel der vorläufigen Leistungsgewährung gestellter Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist erfolglos geblieben (Beschluß vom 28. Januar 1999). Gleiches gilt für den Antrag auf Zulassung der Beschwerde, der durch Beschluß des Oberverwaltungsgerichts vom 5. März 1999 zurückgewiesen wurde. Im wesentlichen haben die im Verwaltungsverfahren und im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangenen Entscheidungen darauf abgestellt, daß ein Fall des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 und Satz 3 BAföG 1995 nicht gegeben sei, weil die Beschwerdeführerin die angestrebte Ausbildung anstelle der Erwerbstätigkeit hätte beginnen können. Die Erziehung der beiden Kinder sei insoweit kein Hinderungsgrund, weil sie in den Zeiten der Erwerbstätigkeit ohnehin die Erziehung während der Arbeitszeit nicht wahrgenommen hätte. Ausbildung und Erwerbstätigkeit seien im Grundsatz austauschbar.

3. Gegen die im einstweiligen Rechtsschutz ergangenen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts hat die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde eingelegt. Kurz vor Beginn des zweiten Schuljahres (Klasse 12) hat sie mit Schriftsatz vom 19. August 1999 beantragt, das Bundesverfassungsgericht möge die zuständige Behörde vorläufig zur Bewilligung von Ausbildungsförderung nach § 32 BVerfGG verpflichten. Schon am 5. Juli 1999 hatte sie einen Antrag auf die Bewilligung von Ausbildungsförderung bei der zuständigen Behörde gestellt. Er ist noch nicht verbeschieden. In einem Schreiben vom 27. August 1999 hat die Behörde der Beschwerdeführerin mitgeteilt, daß sie die persönlichen Voraussetzungen für eine Förderung mit Ausnahme des § 10 Abs. 3 BAföG 1995 erfülle, jedoch Fragen nach der möglichen Höhe einer Leistung nicht beantwortet werden könnten.

Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung des Art. 3 Abs. 1 sowie des Art. 6 Abs. 1, 2 und 4 GG. Art. 3 Abs. 1 GG sei verletzt, weil durch die Auslegung und Anwendung von § 10 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 BAföG 1995 willkürlich Mütter aus arbeitsteiligen Familien bevorzugt würden. Nur sie könnten danach die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen, indem sie ausschließlich der Kindererziehung bis zu deren 10. Lebensjahr nachgingen, während der Partner den Lebensunterhalt verdiene. Das sei bei Alleinerziehenden nicht möglich. Sie müßten Erziehung mit Erwerbsarbeit verbinden. Es genüge daher, daß tatsächlich für Kinder bis zum Alter von 10 Jahren gesorgt worden sei. Ergänzend weist die Beschwerdeführerin darauf hin, daß während der Ausbildung auch der Bezug von Sozialhilfe ausgeschlossen sei.

II.

Annahmegründe nach § 93 a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor.

Bei dem vorliegenden Sachverhalt kommt unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Verfahrensstands nur eine Annahme der Verfassungsbeschwerde nach § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG in Betracht. Trotz der noch näher darzulegenden, bislang nicht hinreichend berücksichtigten grundrechtlichen Gesichtspunkte ist die Annahme nicht angezeigt, weil noch weitere Ermittlungen anzustellen sind und eine Aufhebung der angegriffenen, im Eilverfahren ergangenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen keine beschleunigende Wirkung hätte. Hinreichender Rechtsschutz ist gewährleistet, wenn die für die Bewilligung der Ausbildungsförderung zuständige Behörde bei der Verbescheidung des Antrags der Beschwerdeführerin auf Ausbildungsförderung vom 5. Juli 1999 die folgenden verfassungsrechtlichen Erwägungen berücksichtigt:

1. Die Auslegung und Anwendung des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG 1995 muß sich an Art. 3 Abs. 1 GG orientieren. Insbesondere ist eine sachwidrige Ungleichbehandlung von ausbildungswilligen, alleinerziehenden Personen, die ohne eigene Erwerbstätigkeit auf Sozialhilfe angewiesen wären, gegenüber solchen ausbildungswilligen Personen zu vermeiden, die sich auf gesicherter materieller Grundlage der ganztägigen Kindererziehung gewidmet haben, bevor sie nach Überschreiten der Altersgrenze eine Ausbildung beginnen. Dies ist nach den angegriffenen Entscheidungen nicht der Fall.

Zwar scheint es noch mit dem Wortlaut der Vorschrift vereinbar, daß das zeitliche Zusammentreffen von Kindererziehung und verspäteter Aufnahme einer Ausbildung allein nicht ausreicht, um den Tatbestand als erfüllt anzusehen. Es liegt aber eher fern, daß der Gesetzgeber der Verwaltung aufgeben wollte, unter Nachzeichnung des persönlichen Lebensweges die vielfältigen und sich oft wieder ändernden Gründe zu ermitteln und zu gewichten, die neben der Kindererziehung dazu beitragen können, daß Erziehende von der Aufnahme einer Ausbildung absehen (vgl. zu einer ähnlichen Problemstellung BSGE 69, 297 <299>). Das ist hier schon deshalb nicht anzunehmen, weil persönliche und familiäre Gründe jeder Art vom Gesetzgeber prinzipiell anerkannt werden und lediglich die Erziehung von Kindern bis zu 10 Jahren als besonders leicht festzustellender Einzelgrund in das Gesetz Eingang gefunden hat. Der elternfördernden Komponente, die einem Gebot des Art. 6 Abs. 1 GG entspricht, kann nur eine Auslegung gerecht werden, die jede Art von Erziehungsleistung honoriert und eine Diskriminierung von Halbfamilien vermeidet.

Zu den persönlichen Gründen, die - insbesondere im Zusammenhang mit der Erziehung von Kindern bis zu 10 Jahren - hierbei ergänzend in Betracht zu ziehen sind, gehört die aus dem Zivilrecht folgende Unterhaltsverpflichtung für eben diese Kinder. Das Bemühen, diesen Unterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit sicherzustellen, beruht auf verfassungsrechtlicher Verpflichtung (Art. 6 Abs. 2 GG), wird aber durch eine Auffassung in Frage gestellt, die bei entgeltlicher Erwerbstätigkeit davon ausgeht, daß stattdessen eine kostenintensive Ausbildung angetreten werden könnte. Insbesondere bei der Sorge für Unterhalt und Erziehung nichtehelicher Kinder verbietet es sich, deren Mütter bei Erwerbstätigkeit von BAföG-Leistungen auszuschließen. Eine solche Auslegung widerstreitet dem verfassungsrechtlichen Gebot, für die nichtehelichen Kinder die gleichen Bedingungen für ihre Entwicklung zu schaffen wie den ehelichen Kindern. Ihre soziale Stellung hängt vornehmlich von derjenigen ihrer Mütter ab, die durch eine weitere Ausbildung eine Verbesserung ihres sozialen Status anstreben.

Die Erwerbstätigkeit einer alleinerziehenden Person nach der Geburt des Kindes darf deshalb allenfalls dann zur Unanwendbarkeit des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG 1995 führen, wenn diese auch ohne ihre Erwerbstätigkeit ein Familieneinkommen hätte, das ohne Berücksichtigung bedürftigkeitsabhängiger Sozialleistungen oberhalb der Leistungen der Sozialhilfe läge. Hat eine alleinerziehende Person nur die Wahl zwischen ganztägiger Kindererziehung unter Inanspruchnahme von Sozialhilfe oder Betreuung der Kinder durch Dritte, um selbst einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können, darf sie wegen dieses wirtschaftlichen Zwangs nicht schlechter gestellt werden als eine Person, die sich ohne wirtschaftliche Sorgen ganz der Kindererziehung widmen kann.

Dient die Entscheidung zugunsten der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit dazu, der Sozialhilfebedürftigkeit zu entgehen, so kann der alleinerziehenden Person nicht entgegengehalten werden, sie hätte eine Ausbildung beginnen können. Entscheidet sie sich für die Ausbildung, muß sie nicht nur befürchten, daß dadurch der Lebensstandard ihrer Kinder absinkt und jedenfalls der materielle Aspekt des Kindeswohls beeinträchtigt wird. Es ist vielmehr auch zweifelhaft, ob überhaupt ein Anspruch auf Sozialhilfe für die Mutter und die beiden Kinder besteht, wenn die Mutter in ihrem Ausbildungsberuf arbeiten könnte (vgl. § 25 Abs. 1 BSHG). Es könnte auch zu einem Regreß nach § 91 BSHG kommen, soweit eine Mutter familienrechtlich verpflichtet ist, eine Erwerbstätigkeit beizubehalten und damit den Kindesunterhalt sicherzustellen. Verfassungsrechtlich ist es daher geboten, die in diesem Sinne erzwungene Erwerbstätigkeit der alleinerziehenden Person der ausschließlichen Erziehung der Kinder im Anwendungsbereich des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG 1995 gleichzustellen.

2. § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG 1995 kann deshalb bei verfassungskonformer Auslegung zugunsten der Beschwerdeführerin eingreifen, wenn sie in den Zeiten der Erwerbstätigkeit oder des Bezugs von Lohnersatzleistungen (zum Beispiel Arbeitslosenhilfe, Unterhaltsgeld) ohne diese Einkünfte auf (zusätzliche) Sozialhilfe angewiesen gewesen wäre. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß das Bundesverwaltungsgericht die Aufnahme einer Ausbildung vor der Einschulung der Kinder als unzumutbar ansieht (BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1983 - BVerwG 5 C 66.80, Buchholz 436.36 § 10 Nr. 7 S. 12) und die Beschwerdeführerin in dem Zeitraum zwischen der Einschulung ihres ersten Kindes und der Geburt des zweiten Kindes die angestrebte Ausbildung nicht hätte abschließen können. Auch billigt die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföGVwV), zuletzt geändert durch die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Änderung der BAföGVwV vom 31. Januar 1997 (GMBl S. 78) in Tz. 10.3.4 dem Auszubildenden vor der Kindererziehung eine Art "Orientierungsphase" zu (vgl. dazu auch BTDrucks 11/2823, S. 4 zu Punkt 3.2.3 und S. 5). Zwar war die Beschwerdeführerin nicht nur durch die Kindererziehung und die Erwerbstätigkeit an der Aufnahme der Ausbildung vor Erreichen des 30. Lebensjahres gehindert, sondern auch und zunächst durch die nicht bestandene Eignungsprüfung. Es liegt aber nahe, daß Kindererziehung und Erwerbstätigkeit Hinderungsgründe für die Vorbereitung auf eine Eignungsprüfung sein können. Im übrigen hat die Beschwerdeführerin unverzüglich nach Ablegung der Eignungsprüfung die angestrebte Ausbildung begonnen.

Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

III.

Da die Verfassungsbeschwerde trotz einer möglichen Grundrechtsverletzung aufgrund des vorliegenden besonderen Sachverhalts nicht zur Entscheidung angenommen wird, ist der anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin Prozeßkostenhilfe zu gewähren (§ 34 a Abs. 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.