LG Hamburg, Beschluss vom 08.01.2008 - 619 Qs 1/08
Fundstelle
openJur 2013, 175
  • Rkr:
Tenor

Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hamburg wird der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 19. Dezember 2007 (Az.: 164 Gs 1082/07) aufgehoben.

Auf den Antrag der Staatsanwaltschaft Hamburg vom 10. Dezember 2007 ergeht die anliegende Anordnung zur Überwachung und Aufzeichnung von Telekommunikationsdaten betreffend insgesamt 11 sog. E-Mail-Accounts.

Gründe

Die zulässige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hamburg hat in der Sache Erfolg.

Das Amtsgericht hat mit dem Beschluss vom 17. Dezember 2007 zu Unrecht die von der Staatsanwaltschaft am 10. Dezember 2007 beantragte Maßnahme abgelehnt.

1. Die Kammer legt den Antrag der Staatsanwaltschaft vom 10. Dezember 2007 unter Würdigung ihres Vorbringens in der Beschwerdeschrift vom 28. Dezember 2007 dahingehend aus, dass sie – unabhängig von der hier heranzuziehenden Rechtsgrundlage – den Zugriff auf insgesamt 11 E-Mail-Accounts, die von dem Telekommunikationsunternehmen Y. (USA) als Provider bereitgehalten werden, erstrebt, um sich dadurch zu Identifizierungszwecken Erkenntnisse über etwaige Flugreisen zu verschaffen, die der bislang unbekannte Beschuldigte ("T.") oder eine von ihm beauftragte Person für die eingesetzten Drogenkuriere – wie den gesondert Verfolgten W. – internetbasiert gebucht haben soll. Ferner erstrebt die Staatsanwaltschaft ausweislich der Beschwerdeschrift vom 28. Dezember 2007, ihr die "Befugnis zum Öffnen der auf den E-Mail-Accounts noch gespeicherten und verfügbaren Dateien" zu übertragen.

2. Für den ermittlungsbehördlichen Zugriff auf E-Mail-Postfächer, die dem Nutzer von einem Provider zur (Zwischen-)Speicherung seiner elektronischen Nachrichten bereitgestellt werden, dienen die §§ 100a, 100b StPO (in der Fassung des Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG, BGBl. I 2007, 3198 ff.) als Rechtsgrundlage. Der vom Amtsgericht in seinem ausführlichen Beschluss vertretenen Ansicht, für eine solche Maßnahme stehe nach geltendem Recht eine geeignete Ermächtigungsgrundlage in der StPO nicht zur Verfügung und ein darauf gerichteter Antrag sei daher abzulehnen, vermag sich die Kammer – ebenso wie der Ansicht der Staatsanwaltschaft, die in einem solchen Fall vorzugswürdig die Beschlagnahmevorschriften (§§ 94, 98, 99 StPO) angewendet sehen will –, die divergierenden Auffassungen zu dieser Frage in Rechtsprechung und Literatur (vgl. dazu die Nachweise bei Bär, EDV-Beweissicherung im Strafverfahren, 2007, Rn. 105 ff. und bei Störing, Strafprozessuale Zugriffsmöglichkeiten auf E-Mail-Kommunikation, 2007, S. 188 ff.) berücksichtigend, nicht anzuschließen.

a.) Die rechtliche Würdigung der technischen Gegebenheiten, wie sie sich bei der (Zwischen-)Speicherung von E-Mails in einem servergestützten Postfach darstellen, lässt es der Kammer geboten erscheinen, diese Form der Kommunikation dem besonderen verfassungsrechtlichen Schutz des Fernmelde- bzw. Telekommunikationsgeheimnisses nach Art. 10 Abs. 1 GG zu unterstellen. Das BVerfG hat die Hauptsache in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren, welches sich gegen die – auch von der Staatsanwaltschaft zur Begründung ihrer Beschwerde herangezogene – Entscheidung des LG Braunschweig vom 12. April 2006 (6 Qs 88/06) richtet und das die Rechtmäßigkeit der Beschlagnahme und Auswertung von gespeicherten E-Mails auf dem Server eines Providers durch die Ermittlungsbehörden zum Gegenstand hat (2 BvR 902/06), noch nicht entschieden. In einer in diesem Verfahren am 29. Juni 2006 ergangenen Eilentscheidung (MMR 2007, 169) hat das BVerfG dazu dennoch zwei Fragen aufgeworfen, aber vorerst noch offen gelassen: (1) ob in den Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 GG eingegriffen wird, wenn die Ermittlungsbehörden die auf dem Server eines Kommunikationsunternehmens oder Serviceproviders gespeicherten E-Mails eines Kommunikationsteilnehmers kopieren und die so erlangten Daten auswerten und (2) welche Anforderungen von Verfassungs wegen (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 GG) an die gesetzliche Eingriffsgrundlage zu stellen sind, um einerseits dem sich aus dem Fernmeldegeheimnis ergebenden besonderen Schutzbedürfnis Rechnung zu tragen, andererseits wirksame Ermittlungsmaßnahmen der Strafverfolgungsbehörden zu ermöglichen. Die Kammer ist insoweit der Überzeugung, dass der Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 GG in einem solchen Fall eröffnet ist und die einfach-gesetzlichen Vorschriften der §§ 100a, 100b StPO eine hinreichende Eingriffsermächtigung darstellen. Das verfassungsrechtlich geschützte Fernmeldegeheimnis, das auch in Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) seinen Niederschlag gefunden hat, soll die vertrauliche Nutzung des Kommunikationsmediums gewährleisten (BVerfGE 107, 299, 312) und vermeiden, dass der Meinungs- und Informationsaustausch mittels Telekommunikationsanlagen deswegen unterbleibt oder nach Form und Inhalt anders verläuft, weil die Beteiligten damit rechnen müssen, dass staatliche Stellen sich in die Kommunikation einschalten und Erkenntnisse über die Kommunikationsbeziehungen oder –inhalte gewinnen (BVerfGE 100, 313, 359; 107, 299, 313). Dieses Bedürfnis, freie Kommunikation zu gewährleisten, besteht auch dann, wenn sich ein Kommunikationsteilnehmer der E-Mail-Kommunikation unter Einsatz von serverbasierten E-Mail-Postfächern bedient. In diesem Fall begibt er sich seiner alleinigen Herrschaftsbefugnis über die elektronischen Daten; insbesondere der E-Mail-Provider und damit auch die Ermittlungsbehörden sind in der Lage, auf diese Daten beliebig und jederzeit zuzugreifen. Dieser Mangel an Beherrschbarkeit unterscheidet den Nutzer eines servergestützten E-Mail-Postfachs auch von demjenigen, der die Nachrichten vom Server abruft und auf seinen eigenen Computer gelangen lässt. Jedenfalls dann unterstehen die Daten nur noch seinem alleinigen Gewahrsam, so dass jedenfalls der Schutzbereich von Art. 10 Abs. 1 GG nicht mehr eröffnet ist (BVerfG, MMR 2006, 217). Diesen Überlegungen steht zudem nicht entgegen, dass im Zeitpunkt der Speicherung bzw. "Lagerung" der E-Mail auf dem Server des Providers ein eigentlicher Telekommunikationsvorgang, der das Aussenden oder Empfangen von Daten zum Gegenstand hat, nicht (mehr) gegeben ist (vgl. Bär a.a.O., Rn. 105). Bei einem weiten Verständnis aber ist auf die vom BVerfG hervorgehobene Einheitlichkeit des gesamten Übertragungsvorgangs abzustellen, der unter Zugrundelegung eines sog. Phasenmodells mit dem Absenden der Nachricht beim Absender beginnt (Phase 1) und mit deren Übertragung zum Empfänger (Phase 3) jedenfalls technisch beendet ist. Den Zustand des Ruhens der E-Mail auf dem Server bzw. deren dortige Speicherung (Phase 2) aus diesem Gesamtvorgang in rechtlicher Sicht herauszunehmen trägt dem Schutzgedanken des Fernmelde- bzw. Telekommunikationsgeheimnisses, das insoweit einen ganzheitlichen, homogenen Ansatz verdient, nicht hinreichend Rechnung; dies vor dem Hintergrund, dass der Postfach-Nutzer seine E-Mails nach Belieben in eine erneute Übertragungsphase überführen kann. Im Übrigen kommt es für diese (verfassungs-)rechtliche Betrachtung auch nicht darauf an, ob der Nutzer die in seinem Postfach lagernden E-Mails nur zwischengespeichert, oder – nach Kenntnisnahme – endgültig abgespeichert hat. In beiden Fällen ist der Nutzer gleichermaßen schutzbedürftig, weil jeweils keine Änderung der Gewahrsams- und Herrschaftsverhältnisse an den physisch beim Provider befindlichen Daten erfolgt. Es ist zudem für Dritte (Provider oder Ermittlungsbehörden) nicht möglich zu erkennen, ob die von dem Zugriff betroffene E-Mail nur zwischen- oder endgültig abgespeichert ist. Eine solche, an Zufälligkeiten orientierte Bewertung ließe außer Betracht, dass es nicht auf den (subjektiven) Bestimmungszweck der Nachrichten, sondern auf ihre – in beiden Fällen für den Nutzer nur unvollkommene – Beherrschbarkeit ankommt.

b.) Hinsichtlich des ermittlungsbehördlichen Zugriffs auf die bei einem Provider in einem Server-Postfach gespeicherten E-Mails kommen aufgrund der vorgenannten Erwägungen allein die §§ 100a, 100b StPO als gesetzliche, den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Eingriffsgrundlage in Betracht (so auch LG Hanau, NJW 1999, 3647; LG Mannheim, StV 2002, 242; Störing, a.a.O, S. 209). Die bloße Anwendung der Beschlagnahmevorschriften nach näherer Maßgabe der §§ 94, 98, 99 StPO (vgl. LG Ravensburg, NStZ 2003, 325 sowie LG Braunschweig a.a.O) würde die spezifischen, oben aufgezeigten Anforderungen, die der staatliche Zugriff auf E-Mail-Kommunikation voraussetzt, unterlaufen. Einerseits sind die Eingriffsvoraussetzungen dieser Normen vergleichsweise gering (vgl. dagegen die Beschränkung der Telekommunikationsüberwachung auf "schwere Straftaten", § 100a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 StPO), andererseits tragen sie den Besonderheiten dieser Kommunikationsform – insb. dem Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung (vgl. § 100a Abs. 4 StPO) – nicht hinreichend Rechnung.

Der Anwendbarkeit der §§ 100a, 100b StPO steht hier auch nicht entgegen, dass nach dem Wortlaut von § 100a Abs. 1 StPO nur "die Telekommunikation überwacht und aufgezeichnet" werden darf. Die Auslegung dieser Norm nach ihrem Wortlaut bildet kein Hindernis, auch den ermittlungsbehördlichen Zugriff auf E-Mail-Postfächer davon zu erfassen (Störing a.a.O., S. 224 ff.). In einem solchen Fall liegt jedenfalls unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Wertungen "Telekommunikation" vor. Im Übrigen ist der Überwachung eines solchen im Grunde inaktiven Vorgangs auch dessen Untersuchung immanent, so dass durch den Zugriff auf ruhende elektronische Nachrichten ebenfalls Telekommunikation im Sinne von § 100a Abs. 1 StPO dadurch "überwacht" werden kann, dass Kenntnis von den Inhalten der E-Mails genommen wird und diese ausgewertet werden. Ferner erfasst die Regelung in § 100a StPO nach ihrem Sinn und Zweck nahezu alle Fälle, in denen durch staatliches Handeln in den Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses eingegriffen wird. Zwar hat der Gesetzgeber mit den jüngst überarbeiteten Regelungen in den §§ 100a ff. StPO zur hier zu beurteilenden Problematik keine eigenständige gesetzliche Regelung getroffen. Dieser Umstand lässt aber nicht den Schluss zu, dass Auslegung und Anwendung des § 100a StPO den Stand der technischen Entwicklung sowie neue Kommunikationsformen unberücksichtigt lassen sollen.

3. Wegen des Vorliegens der Voraussetzungen des § 100a StPO wird Bezug genommen auf die anliegende Anordnung, die die Überwachung und Aufzeichnung von Telekommunikation betreffend insgesamt 11 E-Mail-Accounts zum Gegenstand hat.

4. Ergänzend und klarstellend merkt die Kammer an, dass die Anordnung die Strafverfolgungsbehörden nicht dazu ermächtigt, den Zugriff auf die E-Mail-Postfächer – wie beantragt – selbst vorzunehmen. Geschäftssitz des Providers und die Standorte seiner Server befinden sich nicht im Geltungsbereich der StPO. Das unter Zuhilfenahme von technischen Hilfsmitteln "virtuell" vorzunehmende Öffnen eines E-Mail-Postfachs (auch unter Verwendung der den Ermittlungsbehörden bekannten Zugangsdaten) und die Untersuchung der dort abgespeicherten elektronischen Nachrichten wirkt sich auf die räumliche Herrschaftssphäre des Providers, die sich innerhalb eines fremden Hoheits- und Territorialbereichs befindet, unmittelbar aus. Die physische Anwesenheit eines Vertreters der (deutschen) Staatsgewalt setzt eine solchen Art und Weise der Durchführung nicht voraus (vgl. insoweit zum Eindringen in Wohnungen durch technische Hilfsmittel BVerfG, NJW 2004, 999, 1001).