VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 11.01.1999 - 11 S 46/99
Fundstelle
openJur 2013, 10959
  • Rkr:

1. Im Fall eines in Strafhaft befindlichen Ausländers, der in absehbarer Zeit zur Entlassung heranstehen würde und bei dem die Vollstreckungsbehörde gemäß § 456a StPO unter der Bedingung einer Abschiebung auf die Vollstreckung der restlichen Freiheitsstrafe verzichtet hat, wird das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung, mit welcher der Gefahr erneuter schwerwiegender Straftaten des Ausländers begegnet werden soll, nicht im Hinblick auf die Strafhaft ausgeschlossen.

Gründe

Der Antrag des Antragstellers, die Beschwerde gegen den Beschluß des Verwaltungsgerichts nach § 146 Abs. 4 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nrn. 1 und 4 VwGO wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung und wegen Abweichung von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zuzulassen, hat keinen Erfolg. Aus dem Vorbringen des Antragstellers gehen die behaupteten  Zulassungsgründe  nicht  gemäß dem Darlegungserfordernis des § 146 Abs. 5 Satz 3 VwGO hervor.

Ernstliche Zweifel sind nicht dargelegt. Es ist nicht zu erkennen, daß der angefochtene Beschluß der Prüfung in einem Beschwerdeverfahren nicht standhalten würde.

Auch die Antragsschrift zieht nicht in Zweifel, daß der Antragsteller den Tatbestand des § 47 Abs. 1 Nr. 2 AuslG verwirklicht hat, weil er durch das rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts Ulm/Donau vom 17. Februar 1998 wegen gefährlicher Körperverletzung und Landfriedensbruchs in einem besonders schweren Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in sieben Fällen zu einer Gesamtstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten verurteilt worden ist und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt werden konnte. Infolge des dem Antragsteller zugute kommenden besonderen Ausweisungsschutzes gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG liegt ein Regelausweisungstatbestand vor (§ 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG).

Mit dem Verwaltungsgericht vermag der Senat nicht zu erkennen, daß Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Ausnahmefalls gegeben sind, der es erlauben würde, von der gesetzlich als Regel angeordneten Ausweisung abzusehen. Regelfälle sind solche, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleichliegender Fälle unterscheiden. Ausnahmefälle sind dagegen durch einen atypischen Geschehensablauf gekennzeichnet, der so bedeutsam ist, daß er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigt. Bei der Beurteilung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, sind alle Umstände der strafgerichtlichen Verurteilung(en) und die sonstigen Verhältnisse des Betroffenen zu berücksichtigen, wie sie vor allem in § 45 Abs. 2 AuslG näher umschrieben werden. Ein Ausnahmefall ist ferner gegeben, wenn der Ausweisung auch unter Berücksichtigung des erhöhten Ausweisungsschutzes nach § 48 Abs. 1 AuslG höherrangiges Recht entgegensteht, die Ausweisung insbesondere mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen, etwa mit Art. 6 Abs. 1 GG, nicht vereinbar ist (BVerwG, Beschlüsse vom 24.8.1995, 17.10.1995, 13.11.1995 und 15.1.1997, Buchholz 402.240  § 47  AuslG  1990  Nr. 6, 8, 9 und 12 sowie Urt. v. 27.8.1996, aaO, § 13 Nr. 3). Es spricht hier nichts dafür, einen Ausnahmefall schon deshalb anzunehmen, weil der vom Antragsteller begangene Landfriedensbruch in einem besonders schweren Fall nicht politisch motiviert war. Grund dafür,  daß  grundsätzlich  bei Landfriedensbruch in einem besonders schweren Fall die Ausweisung zwingend oder - bei besonderem Ausweisungsschutz - in der Regel erfolgen soll, ist die bei dieser Qualifikation des Landfriedensbruchs gegebene besondere Gefährlichkeit der Tat. Dafür ist die Motivation des Täters unerheblich. Der Senat vermag auch nicht zu erkennen, daß besondere Umstände des Tatgeschehens einen Ausnahmefall begründen könnten. Das Verwaltungsgericht hat nicht übersehen, daß die Gruppe türkischer Personen, zu denen der Antragsteller gehörte, vor Beginn der tätlichen Auseinandersetzung von einer zahlenmäßig unterlegenen Gruppe von Skinheads möglicherweise provoziert wurde, und daß der Antragsteller, als aus der Gruppe der Skinheads mit Gaspistolen geschossen wurde, getroffen wurde. Zu Recht hat es dem Umstand, daß der Antragsteller und weitere Personen bereits bewaffnet zu der Veranstaltung erschienen waren, erhebliche Bedeutung beigemessen und daraus geschlossen, daß Anlaß zu der Annahme besteht, daß auch die türkische Gruppe in der Erwartung erschienen war, daß es zu einer Auseinandersetzung mit anwesenden Festbesuchern kommen könnte. Wenn der Antragsteller dem entgegenhält, das Gericht habe nicht berücksichtigt, daß heute viele Jugendliche aus Unsicherheit und Angst vor Auseinandersetzungen bewaffnet herumlaufen würden, erscheint dies weder im Hinblick auf die Art der Waffe, eines 40 bis 50 cm langen Teleskopschlagstocks, noch im Hinblick auf das besonders aggressive Verhalten des Antragstellers als tragfähig. Gerade letzteres hat das Verwaltungsgericht umfassend gewürdigt und daraus abgeleitet, daß ein atypischer Sachverhalt nicht gegeben sei. Zu diesen tragenden Erwägungen verhält sich die Antragsschrift jedoch nicht.

Soweit die Antragsschrift ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Beschlusses des Verwaltungsgerichts darin sieht, daß dieses keine äußeren Umstände erkannt hat, die dafür sprechen, daß der Antragsteller in Zukunft von gewaltbetonten Straftaten Abstand nimmt (dafür, daß auch solche spezialpräventive Überlegungen einen Ausnahmefall begründen können: vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.3.1994, Buchholz 402.240 § 47 AuslG 1990 Nr. 4), benennt auch sie keine besonderen Umstände für einen Wandel in der Persönlichkeit des Antragstellers. Daß dieser wegen zweier innerhalb eines kurzen Zeitraums begangener Gewalttaten verurteilt worden ist, die er sich zudem noch innerhalb der Bewährungszeit aus einer früheren Verurteilung hat zuschulden kommen lassen, reicht aus anzunehmen, daß von ihm mit erheblicher Wahrscheinlichkeit weitere Gewalttaten zu befürchten sind (vgl. auch § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG). Daß der Antragsteller im Strafvollzug einen Hauptschulabschluß anstrebt, daß er durch das Straf- und das Ausweisungsverfahren die Folgen seines Verhaltens aufgezeigt erhalten hat und daß Freunde und Familienangehörige sich um ihn bemühen, kann für sich allein eine Abkehr von seiner Gewaltbereitschaft zwar als denkbar erscheinen lassen, legt solches nach den hier vorhandenen gesamten Umständen jedoch nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nahe.

Soweit die Antragsschrift im Hinblick auf eine Berücksichtigung von § 45 Abs. 2 Nr. 2 AuslG bei der Frage, ob ein Ausnahmefall vorliegt, die Würdigung des ärztlichen Schreibens vom 5. Mai 1998 beanstandet, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Diesem Schreiben ist weder der Grund der als schwere depressive Verstimmung bezeichneten psychischen Erkrankung der Mutter des Antragstellers noch ihre Schwere, Behandlungsbedürftigkeit und  -fähigkeit  im  einzelnen  zu entnehmen.  Auch die ärztliche Bescheinigung vom 10. Dezember 1998, die der Antragsteller erst im Zulassungsverfahren vorgelegt hat und welche schon deshalb ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts nicht begründen kann, gibt keinen nachvollziehbaren Hinweis, daß die psychische Belastung der Mutter durch die bevorstehende Abschiebung des Antragstellers ein so erhebliches Gewicht hat, daß dies das Vorliegen eines Ausnahmefalles begründen könnte.

Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist auch nicht ersichtlich, daß seine Ausweisung dem in Art. 8 Abs. 2 EMRK verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widerspricht (vgl. EGMR, Urt. v. 26.9.1997, NVwZ 1998, 164; BVerwG, Urt. v. 27.1.1998, NVwZ 1998, 745). Mit der Behauptung, der Antragsteller habe keine Bindungen an die Türkei mehr, übergeht die Antragsschrift, daß das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrundegelegt hat, daß der Antragsteller zumindest auch in türkischer Sprache erzogen wurde und durch seine Erziehung Kenntnis von der türkischen Sprache und Kultur erhielt. Vor diesem Hintergrund wäre es Sache des Antragstellers gewesen, mit dem Zulassungsbegehren darzulegen, weshalb ihm eine Eingliederung in der Türkei nicht möglich und zumutbar wäre (vgl. EGMR, Urt. v. 21.10.1997, InfAuslR 1998, 1). Wenn in der Antragsschrift allein auf die Höhe des Strafmaßes abgestellt und daraus auf die Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung geschlossen wird, wird übersehen, daß Grund für die Ausweisung nicht allein die Begehung der Tat, sondern auch die sich aus ihr ergebende und nicht aus anderen Umständen widerlegte Wiederholungsgefahr ist.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses werden in der Antragsschrift schließlich auch nicht insoweit dargelegt, als das Verwaltungsgericht ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ausweisung bejaht hat (vgl. zu diesem Erfordernis BVerfG, Beschl. v. 12.9.1995, NVwZ 1996, 58; VGH Bad-.-Württ., Beschl. v. 25.6.1998, InfAuslR 1998, 468). Mit zutreffenden Erwägungen hat es insoweit ausgeführt, daß zu befürchten ist, daß der Antragsteller nach der Entlassung aus dem Strafvollzug während der Durchführung des Hauptsacheverfahrens erneut (in ähnlich schwerwiegender Weise) straffällig werden wird. Hinzu kommt der vom Verwaltungsgericht an anderer Stelle ausdrücklich erwähnte Umstand, daß die Staatsanwaltschaft Ulm/Donau - Strafvollstreckungsbehörde - mit Verfügung vom 8. September 1998 gemäß § 456 a Abs. 1 StPO ab dem 20. November 1998 von der Vollstreckung der Reststrafe unter der Bedingung abgesehen hat, daß der Antragsteller aufgrund der gegen ihn erlassenen Ausweisungsverfügung aus dem Bundesgebiet abgeschoben  wird (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 1.12.1997 - 11 S 1295/97 - und Beschl. v. 3.3.1998 - 11 S 3078/97 -). Dem kann der Antragsteller nicht mit Aussicht auf Erfolg entgegenhalten, daß er sich, sofern eine sofortige Vollziehung nicht möglich ist, längstens bis zum 6. Januar 2000 im Strafvollzug befindet. Es ist schon - auch bei der gebotenen möglichsten Beschleunigung des Hauptsacheverfahrens (vgl. BVerfG aaO) -, nicht gewiß, daß bis dahin über eine Klage des Antragstellers entschieden ist (vgl. auch § 80 b Abs. 1 VwGO). Vor allem aber ist dabei nicht berücksichtigt, daß die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach § 456 a StPO eine sofortige Beendigung des Strafvollzugs für den Antragsteller im öffentlichen Interesse ermöglicht.

Dieser der ständigen Rechtsprechung des Senats entsprechenden Bewertung des öffentlichen Interesses an einer sofortigen Vollziehung der Ausweisung steht nicht entgegen, daß das Bundesverfassungsgericht in einem Antragsverfahren auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung (Beschluß vom 12.11.1998, InfAuslR 1998, 490) bemerkt hat, das besondere öffentliche Interesse am Sofortvollzug einer vollziehbaren Ausreisepflicht noch vor einer Hauptsacheentscheidung könne nur schwerlich mit der Gefahr weiterer Straftaten des Beschwerdeführers schon in diesem Zeitraum begründet werden, nachdem dieser in Untersuchungshaft genommen worden sei und seine Abschiebung nunmehr aus der Haft heraus erfolgen solle. Denn zum einen bezieht sich diese Erwägung nicht auf das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung, soweit dieses auf einer Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach § 456 a StPO gründet, und zum anderen war in jenem Fall, anders als hier, wohl nicht absehbar, wann der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen würde (vgl. für den Fall, daß die Entlassung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist: BVerwG, Urt. v. 5.5.1998, Buchholz aaO § 45 Nr. 13 = InfAuslR 1998, 383 = DVBl. 1998, 1023).

Keinen Erfolg kann der Antrag auf Zulassung der Beschwerde auch haben, soweit er auf eine behauptete Abweichung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts von der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.1998 gestützt ist (§ 146 Abs. 4 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). Denn bei der vom Antragsteller herangezogenen Bemerkung des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich nicht um eine die Entscheidung tragende Begründung, sondern um einen bloßen Hinweis (vgl. zum obiter dictum: BVerwG, Beschl. v. 25.10.1995, BVerwGE 99, 351, Eyermann/Peter Schmidt, § 132 VwGO, RdNr. 13 m.w.N.).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren beruht auf § 25 Abs. 2 Satz 1, § 13 Abs. 1 Satz 2, § 14 Abs. 3 und Abs. 1 Satz 1 GKG.

Dieser Beschluß ist unanfechtbar.