AG Konstanz, Urteil vom 10.05.2007 - 4 C 43/07
Fundstelle
openJur 2012, 66546
  • Rkr:

Ein Elternteil verletzt nicht seine Aufsichtspflicht, wenn es das 3 1/2 Jahre alte Kind in einem Kaufhaus nicht permanent im Auge behält. Es genügte im konkreten Fall, dass der Vater ein paar Meter vor dem Kind ging.

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin kann die Vollstreckung durch den Beklagten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der Beklagte in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

Die Klägerin kam durch das 3 ½-jährige Kind des Beklagten in einem Kaufhaus zum Sturz. Im vorliegenden Fall besteht nun Streit darüber, ob der Beklagte aufgrund einer Verletzung der Aufsichtspflicht hierfür haftet.

Am 12.11.2005 stürzte die 79-jährige Klägerin im ersten Obergeschoss des Kaufhauses K. in Konstanz auf den 3 ½-jährigen Sohn N. des Beklagten. Zu diesem Zeitpunkt hatte es dort wenige Kunden. Der Beklagte befand sich zum Zeitpunkt des Sturzes auf dem Hauptweg, ein paar Meter vor seinem Sohn. Durch den Sturz zog sich die Klägerin neben mehreren Prellungen auch einen Bruch der Kniescheibe zu. Es folgte zunächst ein stationärer Krankenhausaufenthalt der Klägerin und anschließend ein Rehabilitationsaufenthalt. Nachfolgend benötigte die Klägerin einen sogenannten Rollator als Gehhilfe. Nach Entfernung der Metallverschraubungen in einer zweiten Operation im Sommer 2006 war zunächst die Bewegungsfähigkeit der Klägerin deutlich verbessert, nachfolgend kam es jedoch zu einer Entzündung im Knie.

Aufgrund Zuzahlungen für den Krankenhausaufenthalt, die Reha-Klinik, die Krankengymnastik und die Miete des Rollators sowie für Medizintechnik, Bandagen, Fahrten zu Ärzten sowie ein gekauftes Umweltticket gab die Klägerin insgesamt 651,20 EUR aus. Außerdem werden weitere Zuzahlungen, ein Selbstbehalt für die Physiotherapie sowie eine Praxisgebühr in Höhe von 88,46 EUR geltend gemacht. Mehrfach wurde vergeblich zur Zahlung aufgefordert. Hierfür werden nicht anrechenbare Rechtsanwaltskosten in Höhe von 75,37 EUR eingeklagt.

Die Klägerin behauptet, dass sie auf dem Hauptweg gegangen sei. Das Kind des Beklagten sei von rechts aus dem Bereich der Warenregale in sie hineingelaufen und habe sie zu Boden gestoßen. Da sich der Zusammenstoß so plötzlich ereignet habe, habe sie das Kind vorher nicht wahrgenommen.

Die Klägerin ist der Meinung, dass der Beklagte sein Kind nicht genügend beaufsichtigt habe, da dieses sich frei in dem für die Öffentlichkeit zugänglichen Bereich habe bewegen können. Sie hält ein Schmerzensgeld im Hinblick auf die Dauer und Intensität der Verletzung in Höhe von 3.000,-- EUR für angemessen.

Die Klägerin beantragt:

1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 739,66 EUR Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz für 651,20 EUR seit dem 11.4.2006 und Prozesszinsen in gleicher Höhe für den Restbetrag zu bezahlen.

2. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von min. 3.000,00 EUR nebst Prozesszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu bezahlen.

Der Beklagte beantragt:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Beklagte behauptet, dass sein Sohn hinter ihm auf dem Hauptweg gegangen sei. Die Klägerin sei von rechts her zwischen den Regalen auf den Hauptweg getreten. Die Umstände deuteten darauf, dass die Klägerin über das Kind gestürzt sei.

Der Beklagte ist der Meinung, dass eine Aufsichtspflichtverletzung nicht vorliege, da das Kind in seiner Nähe gewesen sei und sich normal bewegt habe.

Zum weiteren Vorbringen der Parteien wird auf deren wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Weder kann die Klägerin beweisen, dass ein objektiver Tatbestand einer unerlaubten Handlung im Sinne von § 823 Abs 1 BGB rechtswidrig erfüllt wurde, noch hat im vorliegenden Fall der Beklagte seine Aufsichtspflicht im Sinne von § 832 Abs. 1 BGB verletzt.

1. Zwar ist der Beklagte als Vater des 3 ½-jährigen N. Inhaber der Personensorge für das minderjährige Kind und kraft Gesetzes zur Aufsicht verpflichtet, jedoch kann die Klägerin hier bereits schon nicht die widerrechtliche Schadenszufügung im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB beweisen. Es bleibt offen, ob das Kind die Klägerin im Laufen umgeworfen hat oder ob die Klägerin das Kind übersehen hat und über dieses drüber fiel. Im Verhandlungstermin räumte die Klägerin ein, dass die hierfür benannte Zeugin Elisabeth S den Vorgang selbst nicht beobachtet habe, sondern nur gesehen habe, wo die Handtasche nach dem Sturz gelegen habe. Hierdurch lässt sich jedoch nicht einmal die Kollisionsstelle rekonstruieren, geschweige denn die Sturzursache. Eine beantragte Vernehmung des Beklagten (als Partei) erfolgte ebenfalls nicht, da dieser bereits glaubhaft in seiner Parteianhörung angab, den Sturzvorgang selbst nicht wahrgenommen zu haben. Dass der Beklagte vor dem Kind ging und zur konkreten Sturzzeit keine Sicht zum Kind hatte, ist hingegen unstreitig.

2. Darüber hinaus hat im vorliegenden Fall der Beklagte seine Aufsichtspflicht im Sinne von § 832 Abs. 1 BGB auch nicht verletzt. Er kann insoweit den Entlastungsbeweis des § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB führen. Der Aufsichtspflichtige hat seine Pflicht erfüllt, wenn er das im Hinblick auf Alter, Eigenart und Charakter der Aufsichtsbedürftigkeit sowie im Hinblick auf die zur Rechtsgutverletzung führende, in der konkreten Situation Erforderliche, getan hat (siehe Palandt, Kommentar zum BGB, 66. Auflage, § 832, 8). Aufsicht bedeutet, den Aufsichtsbedürftigen zu beobachten und zu überwachen, wobei sich die Intensität einerseits nach der Person des Aufsichtsbedürftigen, seinen Kenntnissen und Fähigkeiten, andererseits nach dem Ausmaß der Gefahr, die von der konkreten Situation für Rechtsgüter Dritter ausgeht und sonstigen konkreten Umständen richtet (BGH, VersR 68, 301). In Ermangelung anderweitiger Anhaltspunkte ist es zulässig, bezogen auf den Aufsichtsbedürftigen typisierend von altersentsprechenden Eigenschaften und einem normalen Entwicklungsstand auszugehen (BGH NJW 1984, 2574). Ein 3 ½-jähriges Kind ist wegen seiner altersbedingten Unerfahrenheit zu beaufsichtigen. Eine Überwachung auf Schritt und Tritt ist jedoch nicht notwendig. Die Abwägung im konkreten Fall ergibt, dass mangels Anhaltspunkten dafür, dass es sich um ein besonders lebhaftes und schwer zu beaufsichtigendes Kind handelt, es genügt, wenn in einem Kaufhaus der Vater in der Nähe ist, hierbei jedoch nicht das Kind permanent im Auge haben muss. In diesem Zusammenhang ist auch die Erziehungsbestimmung des § 1626 Abs. 2 BGB zu beachten (siehe Staudinger, Kommentar zum BGB, § 832, 56). Danach sind Kinder zu selbständigen und verantwortungsvollen Individuen zu erziehen und ihnen gewisse Freiräume zu lassen (siehe auch Entscheidung des LG Köln, Urteil vom 25.3.2004, Az. 8 O 354/03). Bei einem 3 ½-jährigen Kind, welches somit sich bereits im Kindergartenalter befindet, kann daher nicht verlangt werden, dass dieses permanent an der Hand geführt oder auch nur im Auge behalten wird. Es wäre auch schlicht nicht praktikabel. Da darüber hinaus sich wenige Leute im Kaufhaus befunden haben, war keine erhöhte Gefahrenlage gegeben und auch nicht voraussehbar, dass möglicherweise das Kind eine altersbedingt nicht mehr ganz so standfeste Person umlaufen könnte.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.

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