Hessisches LSG, Beschluss vom 21.03.2012 - L 2 AS 517/11 B
Fundstelle
openJur 2012, 53948
  • Rkr:

1. Auch bei einer Untätigkeitsklage nach § 88 SGG kommt die Nr. 3103 VV-RVG zur Anwendung, wenn bei ihrer Erhebung der Rechtsanwalt bereits im Verwaltungsverfahren tätig war, da sich aus dem Vorverfahren Synergieeffekte ergeben.2. Die Tätigkeit des Rechtsanwaltes im Rahmen einer Untätigkeitsklage ist im Regelfall mit der halben Mittelgebühr (85,- €) angemessen vergütet.3. Eine (fiktive) Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV-RVG entsteht im Falle einer Untätigkeitsklage nur dann, wenn der Leistungsträger den begehrten Bescheid erlässt, der Rechtsstreit daraufhin für erledigt erklärt wird, bei Klageerhebung die Frist des § 88 SGG abgelaufen und kein zureichender Grund für eine verspätete Entscheidung des Leistungsträgers vorhanden war.

Tenor

Der Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 28.November 2011 – L 2 AS 517/11 B – wird insoweitabgeändert, als die Vergütung des Beschwerdeführers für seineTätigkeit in dem Verfahren S 5 AS 21/07 auf insgesamt 274,30 €festgesetzt wird.

Gründe

I.

Die Kläger des Rechtsstreites vor dem Sozialgericht Marburg S 5AS 21/07 gegen den Landkreis A-Stadt (Beklagter) hatten im Juli2006 die Weitergewährung von Leistungen zur Sicherung desLebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) beantragt.Der Antrag wurde von dem Beklagten mit Bescheid vom 22. September2006 abgelehnt. Hiergegen richteten sich die Kläger über denBeschwerdeführer mit Widerspruch.

Am 8. Februar 2007 erhob der Beschwerdeführer für die KlägerUntätigkeitsklage (S 5 AS 21/07) bei dem Sozialgericht Marburg.

Mit Bescheid vom 15. März 2007 wies der Beklagte den Widerspruchder Kläger zurück. Hierauf erfolgte in dem Gerichtsverfahren S 5 AS21/07 unter dem 23. März 2007 die Erklärung, dass damit dieUntätigkeitsklage erledigt sei. Mit Beschluss vom 11. Juni 2007bewilligte das Sozialgericht den Klägern Prozesskostenhilfe für dasVerfahren S 5 AS 21/07. Der Beklagte erklärte sich bereit, von denaußergerichtlichen Kosten des Verfahrens 200,00 € zuübernehmen.

Für das Verfahren S 5 AS 21/07 stellte der BeschwerdeführerKosten in Höhe von insgesamt 487,90 € in Rechnung. DerKostenbeamte kürzte die Rechtsanwaltsvergütung auf einen Betrag inHöhe von insgesamt 217,17 €. Er setzte dabei eineVerfahrensgebühr nach der Ziffer 3102 des Vergütungsverzeichnisseszum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (VV-RVG) in Höhe von 125,00€ (halbe Mittelgebühr), eine Erhöhung nach der Ziffer 1008VV-RVG in Höhe von 37,50 € sowie Schreibauslagen in Höhe von20,00 € und Umsatzsteuer fest. Eine Terminsgebühr brachte derKostenbeamte nicht in Ansatz.

Gegen die Kostenfestsetzung vom 3. Juli 2008 erhob derBeschwerdeführer Erinnerung, mit der er eine Kostenfestsetzung inHöhe von 487,90 € geltend machte.

Mit Beschluss vom 14. September 2011 wies das Sozialgericht dieErinnerung zurück. Zur Begründung seiner Entscheidung führte esaus, im Rahmen der Untätigkeitsklage sei in der Regel der Ansatzder halben Mittelgebühr des Gebührenrahmens nach der Nr. 3103VV-RVG angemessen. Auch zu Recht habe der Kostenbeamte eineTerminsgebühr nicht in Ansatz gebracht. Dem Beschwerdeführerstünden damit 155,29 € an Vergütung für das Verfahren S 5 AS21/07 zu. Hiervon seien 200,00 € abzuziehen, die den Klägernvon dem Beklagten gezahlt würden. Der Beschwerdeführer sei nachalledem durch den Kostenfestsetzungsbeschluss nicht beschwert. Inden Gründen des Beschlusses ließ das Sozialgericht die Beschwerdezu.

Am 21. September 2011 legte der Beschwerdeführer Beschwerdegegen den Beschluss vom 14. September 2011 ein mit der Begründung,es bestehe kein Grund, von der Rechtsprechung des HessischenLandessozialgerichts abzuweichen, wonach eine Terminsgebührentstanden sei. Das Sozialgericht half der Beschwerde nicht ab.

Der Beschwerdeführer beantragt (sinngemäß),

den Beschluss des Sozialgerichts Marburg vom 14. September 2011aufzuheben und die aus der Staatskasse an ihn zu zahlende Vergütungauf insgesamt 487,90 € festzusetzen.

Der Beschwerdegegner beantragt (sinngemäß),

die Beschwerde zurückzuweisen.

Der Beschwerdegegner hat sich im Beschwerdeverfahren nichtgeäußert.

Wegen der Einzelheiten im Übrigen wird auf die Gerichtsakten L 2AS 517/11 B, S 5 AS 21/07 und S 5 AS 56/07, die vorgelegen habenund Gegenstand der Beratung gewesen sind, Bezug genommen.

II.

Der in diesem Verfahren unter dem 28. November 2011 ergangeneSenatsbeschluss war aus den den Beteiligten mit richterlichenSchreiben vom 3. Februar und 1. März 2012 bekanntgegebenen Gründenin dem aus dem Tenor ersichtlichem Umfang von Amts wegenabzuändern.

Dem Beschwerdeführer steht nur eine Vergütung in Höhe von 274,30€ an Stelle der beantragten 487,90 € zu.

Bei Rahmengebühren bestimmt nach § 14 Abs. 1 RVG derRechtsanwalt die Gebühren im Einzelfall unter Berücksichtigungaller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit deranwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie derEinkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nachbilligem Ermessen. Ein besonderes Haftungsrisiko des Rechtsanwalteskann bei der Bemessung herangezogen werden. Ist die Gebühr voneinem Dritten zu ersetzen, ist die von dem Rechtsanwalt getroffeneBestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist. Maßgeblichsind grundsätzlich der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit, dieSchwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, die Bedeutung derAngelegenheit für den Auftraggeber sowie die Einkommens- undVermögensverhältnisse des Auftraggebers. Im Durchschnittsfall istregelmäßig der Ansatz der Mittelgebühr gerechtfertigt.

Für seine Tätigkeit im Rahmen der Untätigkeitsklage steht demBeschwerdeführer eine Verfahrensgebühr zu. Die Verfahrensgebührbeträgt nach der Nr. 3102 VV-RVG 40,00 bis 460,00 € fürVerfahren vor den Sozialgerichten, in denen Betragsrahmengebührenentstehen (§ 3 RVG). Nach der Ziffer 3103 VV-RVG beträgt jedoch dieGebühr der Nr. 3102 20,00 bis 320,00 €, wenn eine Tätigkeit inVerwaltungsverfahren oder in weiteren, der Nachprüfung desVerwaltungsakts dienenden Verwaltungsverfahren vorausgegangen ist.Dabei ist bei der Bemessung der Gebühr nicht zu berücksichtigen,dass der Umfang der Tätigkeit infolge der Tätigkeit imVerwaltungsverfahren oder in weiteren, der Nachprüfung desVerwaltungsakts dienenden Verwaltungsverfahren geringer ist. Da derBeschwerdeführer für die Kläger vor Erhebung der Untätigkeitsklagebereits im Widerspruchsverfahren tätig gewesen war, findet die Nr.3103 VV-RVG Anwendung (Beschluss des erkennenden Senats vom 12. Mai2010 - L 2 SF 342/09 E; Thüringer Landessozialgericht, Beschlussvom 25. Oktober 2010 – L 6 SF 652/10 B). Zwar wird teilweisedie Auffassung vertreten, im Falle einer Untätigkeitsklage seigrundsätzlich nur die Verfahrensgebühr nach der Nr. 3102 VV-RVGanzusetzen, weil es sich bei der Untätigkeitsklage um eine von dersonstigen Tätigkeit des Rechtsanwalts in Verwaltungs- oderWiderspruchsverfahren unabhängigen Tätigkeit handele mit der Folge,dass für den abgesenkten Gebührenrahmen der Nr. 3103 VV-RVG keinRaum sei (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. Mai 2008– L 19 B 24/08 AS; Beschluss des SG Kiel vom 12. April 2011– S 21 SF 8/11 E). Dem vermag sich der Senat jedoch nichtanzuschließen. Auch bei einer Untätigkeitsklage sind Vorkenntnisseaus einem Vorverfahren von Bedeutung und maßgeblich für dieÜberlegung, ob es sachdienlich ist, die Untätigkeitsklage zuerheben. Eine Befassung mit der Sach- und Rechtslage isterforderlich. Allein die Prüfung der Fristen des § 88Sozialgerichtsgesetz (SGG) genügt nicht, um substantiiertUntätigkeitsklage erheben zu können. Dementsprechend bewirkenVorkenntnisse aus einem vorangegangenen Verfahren Synergieeffekte,die die Anwendung der Nr. 3103 VV-RVG begründen.

Nach den Kriterien des § 14 RVG ist eine Untätigkeitsklageallerdings als deutlich unterdurchschnittlich zu bewerten. Denn dasInteresse des Klägers ist im Wesentlichen gerichtet auf den Erlasseines Bescheides bzw. Widerspruchsbescheides durch denLeistungsträger. Unter Berücksichtigung dessen ist im Regelfall dieTätigkeit eines Rechtsanwaltes im Rahmen einer Untätigkeitsklagemit der halben Mittelgebühr der Nr. 3103 VV-RVG (Mittelgebühr 170,-€, halbe Mittelgebühr 85,- €) angemessen vergütet. Mitder halben Mittelgebühr sind das Gespräch mit dem Mandanten, dieAkteneinsicht und die Fertigung der Untätigkeitsklageschriftabgegolten. Im vorliegenden Fall gibt es keine Gesichtspunkte, vonder halben Mittelgebühr abzuweichen.

Entgegen der Entscheidung des Sozialgerichts steht demBeschwerdeführer zudem eine (fiktive) Terminsgebühr nach der Nr.3106 VV-RVG zu.

Nach der Nr. 3106 VV-RVG entsteht eine Terminsgebühr inVerfahren vor den Sozialgerichten, in denen Betragsrahmen entstehen(§ 3 RVG) auch, wenn das Verfahren nach angenommenem Anerkenntnisohne mündliche Verhandlung endet. Im Falle einer Untätigkeitsklagenach § 88 SGG entsteht nach Auffassung des erkennenden Senats eine(fiktive) Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV-RVG, wenn derLeistungsträger den begehrten Bescheid erlässt, der Rechtsstreitdaraufhin für erledigt erklärt wird, bei Klageerhebung die Fristdes § 88 SGG abgelaufen und ein zureichender Grund für eineverspätete Entscheidung des Leistungsträgers nicht vorhanden war.Wird auf eine Untätigkeitsklage nach § 88 SGG der begehrte Bescheiderlassen und die Klage daraufhin für erledigt erklärt, handelt essich um ein angenommenes Anerkenntnis im Rechtssinne, wenn dieFrist des § 88 Abs. 1 bzw. § 88 Abs. 2 SGG abgelaufen war und einzureichender Grund für die verspätete Entscheidung nicht vorlag(Beschluss des erkennenden Senats vom 12. Mai 2010 - L 2 SF 342/09E). Der Erlass des Bescheides stellt inzidenter ein Anerkenntnisdar, das die Beendigung des Rechtsstreits durch die Annahme- bzw.Erledigungserklärung des Klägers abschließt, ohne dass noch einemündliche Verhandlung erforderlich ist (Beschluss des SG Kiel vom12. April 2011 – S 21 SF 8/11 E - m.w.H.). DieVoraussetzungen für eine (fiktive) Terminsgebühr nach Nr. 3106VV-RVG sind dann gegeben.

Vorliegend war bei Klageerhebung am 8. Februar 2007 die Fristdes § 88 SGG abgelaufen, denn der Widerspruch datierte bereits vom28. September 2006; sachliche Gründe für die verspätete, weil mehrals drei Monate nach Erhebung des Widerspruchs ergangeneEntscheidung (Widerspruchsbescheid vom 15. März 2007) waren wederersichtlich noch von dem Beklagten angegeben worden, so dass durchdie Erklärung des Beschwerdeführers, die Untätigkeitsklage seierledigt, die Voraussetzungen für das Entstehen der (fiktiven)Terminsgebühr eingetreten sind.

Die Terminsgebühr nach der Nr. 3106 VV-RVG beträgt in Verfahrenvor den Sozialgerichten 20,00 bis 380,00 €. Entsprechend denKriterien, wie sie für die Verfahrensgebühr gelten, ist auch dieTerminsgebühr regelmäßig im Rahmen einer Untätigkeitsklage auf dieHälfte der Mittelgebühr zu begrenzen. Dementsprechend errechnetsich vorliegend eine Terminsgebühr von 100,00 €.

Nach alledem setzt sich die Vergütung des Beschwerdeführers imVerfahren S 5 AS 21/07 wie folgt zusammen:

Verfahrensgebühr Nr. 310385,00 €Gebühr Nr. 100825,50 €Terminsgebühr Nr. 3106100,00 €Pauschalsatz20,00 €230,50 €19% USt. Nr. 7008 VV-RVG43,80 €Summe: 274,30 € 

Soweit der Beschwerdeführer Kostenansprüche gegen den Beklagtenhat, gehen diese gemäß § 59 RVG auf die Staatskasse über.

Die Beschwerde ist gebührenfrei, Kosten werden nicht erstattet(§ 56 Abs. 2 Satz 2 und 3 RVG).

Die Beschwerde gegen diese Entscheidung findet nicht statt (§ 33Abs. 4 Satz 3 RVG).

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