OLG Oldenburg, Beschluss vom 18.03.2011 - 11 UF 156/10
Fundstelle
openJur 2012, 51654
  • Rkr:

Zur Frage der entgegenstehenden Rechtskraft bei der Verurteilung zur Leistung von Unterhalt.

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers vom 19.10.2010 wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Bersenbrück vom 13.09.2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten der Beschwerdeinstanz - an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe

I.

Der Antragsteller macht gegen die Antragsgegnerin Ansprüche aus übergegangenem Recht auf Elternunterhalt in Höhe von 39.580,02 € für die Zeit vom 17.02.2006 bis zum 31.01.2009 geltend.

Die Antragsgegnerin ist die Tochter der am 31.09.2009 verstorbenen H… N…. Die Antragsgegnerin hat noch zwei weitere Geschwister, eine Schwester und einen Bruder. H… N… hat in der Zeit vom 17.02.2006 bis zu ihrem Tode vom Antragsteller Hilfeleistungen im Rahmen des SGB erhalten.

Bereits 2009 hatte der Antragsteller Ansprüche aus übergegangenem Recht für die Zeit vom 17.02.2006 bis zum 31.01.2009 gegen die Antragsgegnerin beim Amtsgericht - Familiengericht - Bersenbrück (16 F 23/09 UK) geltend gemacht.

Mit rechtskräftigem Urteil vom 21.07.2009 hatte das Amtsgericht - Familiengericht - Bersenbrück die Klage abgewiesen (Bl. 16 ff Bd. I). In den dortigen Entscheidungsgründen heißt es auszugsweise:

„Die Klage ist zwar zulässig, derzeit aber als unbegründet abzuweisen.

[…] Allerdings hat der Kläger den von ihm geltend gemachten Anspruch im Hinblick auf die Haftungsquote nicht hinreichend schlüssig dargelegt, […].

[…] Die Beklagte hat die Einkommensverhältnisse substantiiert bestritten. Dennoch ist seitens des Klägers kein Beweis angetreten worden.

Es sind lediglich die durch die Geschwister eingereichten Fragebögen nebst Anlagen vorgelegt worden. Ein Beweisantritt zum Beispiel durch Zeugnis der Geschwister im Hinblick auf deren Einkommensverhältnisse ist nicht erfolgt.

Insofern hat der Kläger die die Haftungsquote begründenden Umstände nicht hinreichend schlüssig dargelegt und auch nicht unter Beweis gestellt […].

[…] Vor diesem Hintergrund war die Klage zum gegenwärtigen Zeitpunkt als unbegründet abzuweisen.“

In dem vorliegenden Verfahren verfolgt der Antragsteller seinen bereits im Verfahren 16 F 23/09 gestellten Antrag fort. Er ist der Ansicht, dass sein jetziger Antrag nicht wegen entgegenstehender Rechtskraft aus dem Urteil vom 21.07.2009 unzulässig sei.

Mit Beschluss vom 13.09.2010 hat das Amtsgericht - Familiengericht - Bersenbrück den Antrag zurückgewiesen. Es hat den Antrag als unzulässig zurückgewiesen, mit der Begründung, dass dem erneuten Antrag die Rechtskraft des klagabweisenden Urteils des Amtsgerichts Bersenbrück vom 21.07.2009 - 16 F 23/09 - entgegenstehe.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Antragsteller mit seiner form- und fristgerecht eingelegten Beschwerde. Er macht geltend, dass die Annahme entgegenstehender Rechtskraft gegen das Prinzip der Rechtssicherheit verstoße. Ausweislich der Entscheidungsgründe des Urteils vom 21.07.2009 sei die Klage lediglich „derzeit“ bzw. „zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ als unbegründet abgewiesen worden. Er sei aufgrund dieser Formulierungen davon ausgegangen, dass nach Beschaffung der erforderlichen Unterlagen zur Darlegung aller Anspruchsvoraussetzungen noch einmal Klage bzw. ein Antrag eingereicht werden könne.

Er beantragt,

unter Aufhebung des Beschlusses des Amtsgerichts - Familiengericht - Bersenbrück vom 13.09.2010 - 16 F 127/10 - gemäß den Klägeranträgen erster Instanz zu entscheiden und zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie verteidigt den angefochtenen Beschluss. Die Umstände, die ihre Leistungsfähigkeit und die entsprechende Haftungsquote begründen könnten, hätten bereits 2009 vorgelegen. Der Antragsteller habe es versäumt, diese substantiiert darzulegen. Dies habe sich nicht geändert. Die Antragstellerin sei daher mit ihrem Vortrag wegen entgegenstehender Rechtskraft präkludiert.

II.

Die Beschwerde ist zulässig und hinsichtlich der Zulässigkeit des erneuten Antrags auch begründet.

Die Klage des Vorprozesses und der Antrag im gegenwärtigen Verfahren betreffen zwar denselben Streitgegenstand. Gleichwohl steht die Rechtskraft des Urteils des Amtsgericht Bersenbrück vom 21.7.2009 dem erneuten Antrag nicht

entgegen.

Gegenstand eines Rechtsstreits ist der als Rechtsschutzbegehren oder Rechtsfolgenbehauptung aufgefasste eigenständige Anspruch des Anspruchstellers. Dieser wird durch den Klageantrag, in dem sich die vom Kläger in Anspruch genommene Rechtsfolge konkretisiert, und den Lebenssachverhalt, aus dem der Kläger die begehrte Rechtsfolge herleitet, bestimmt. Der Klagegrund geht über die Tatsachen hinaus, welche die Tatbestandsmerkmale einer Rechtsgrundlage ausfüllen. Zu ihm sind alle Tatsachen zu rechnen, die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden Betrachtungsweise zum Tatsachenkomplex gehören, den der Kläger zur Stützung seines Rechtsschutzbegehrens dem Gericht zu unterbreiten hat (vgl. BGH NJW-RR 2001, 310, 310 m.w.N.).

Beide Verfahren, sowohl das frühere als auch das jetzige Verfahren, betreffen die Geltendmachung von Elternunterhalt und damit denselben Streitgegenstand. Der Lebenssachverhalt aus dem der Antragsteller seinen Anspruch herleitet, ist die Gewährung von Hilfeleistungen im Rahmen des SGB für H… N… in der Zeit vom 17.02.2006 bis zu ihrem Tode am 31.01.2009. Dadurch, dass die für den Zeitraum vom 01.02.2006 bis zum 16.02.2006 verauslagten Leistungen nun nicht mehr erstattet verlangt werden, ändert sich der Lebenssachverhalt nicht (vgl. MünchKommZPO/Gottwald, 3. Aufl., § 322, Rn. 39).

Grundsätzlich schließt die materielle Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung - als negative Prozessvoraussetzung - eine neue Verhandlung und Sachentscheidung über denselben Streitgegenstand aus (ne bis in idem - Grundsatz; vgl. BGH, NJW-RR 2009, 790 m.w.N; MünchKommZPO/Gottwald, 3. Aufl., § 322, Rn. 38). Die Bindungswirkung eines Urteils folgt aus dem Umfang seiner Rechtskraft. Diese reicht gemäß § 322 Abs. 1 ZPO soweit, wie das Urteil über den durch die Klage erhobenen Anspruch entschieden hat (vgl. BGH, NJW 1987, 371, 371). Dabei sind der Inhalt des Urteils und damit der Umfang der Rechtskraft in erster Linie der Urteilsformel zu entnehmen. Reicht jedoch die Urteilsformel - wie stets bei einem die Klage abweisenden Urteil - nicht aus, um den Rechtskraftgehalt der Entscheidung zu erfassen, sind Tatbestand und Entscheidungsgründe ergänzend heranzuziehen (BGH, a.a.O; zum Feststellungsurteil auch BGH, NJW 2008, 2716 m.w.N.).

Aus den Entscheidungsgründen des Urteils des Amtsgerichts Bersenbrück vom 21.07.2009 ergibt sich, dass die Klage nicht uneingeschränkt, sondern lediglich als zurzeit unbegründet abgewiesen worden ist. Dabei ist es unschädlich, dass dies nicht bereits im Tenor zum Ausdruck gebracht wurde, sondern sich erst durch Auslegung der Entscheidungsgründe ergibt (vgl. BGH NJW-RR 2001, 310).

So hat das Gericht zu Beginn der Entscheidungsgründe ausgeführt: „Die Klage ist zwar zulässig, derzeit aber als unbegründet abzuweisen.“ Der letzte Satz vor den Nebenentscheidungen lautet: „Vor diesem Hintergrund war die Klage zum gegenwärtigen Zeitpunkt als unbegründet abzuweisen.“

Das Gericht hat in seinen Entscheidungsgründen durch entsprechende Formulierungen zweimal zum Ausdruck gebracht, dass es die Klage lediglich als zurzeit unbegründet abgewiesen hat. Es kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass das Gericht die Formulierungen „derzeit“ bzw. „zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ lediglich versehentlich verwendete, die Klage also uneingeschränkt abgewiesen werden sollte. Der Wortlaut der Entscheidung ist insoweit eindeutig und keiner weiteren Auslegung zugänglich. Von einem Versehen könnte man allenfalls dann ausgehen, wenn in den Entscheidungsgründen nur einmal eine solche Formulierung verwendet worden wäre. Vielmehr folgt gerade aus der Tatsache, dass zu Beginn und am Ende der Entscheidungsgründe die Klage nur eingeschränkt als „derzeit" und "zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ abgewiesen wird, dass es dem Gericht besonders wichtig war, klarzustellen, dass - nach seiner Rechtsauffassung - bei Vorliegen neuer Unterlagen zu den Einkommensverhältnissen der Geschwister der Antragsgegnerin der Anspruch erneut gerichtlich geltend gemacht werden kann.

Diese Sachentscheidung ist zwar fehlerhaft, weil der Abweisungsgrund, anders als in Fällen in denen ein Sachantrag beispielsweise mangels Fälligkeit „als zur Zeit unbegründet“ abgewiesen worden ist, nicht durch den Eintritt neuer Tatsachen in Zukunft entfallen kann. Die Abweisung erfolgte nämlich, weil der Kläger die Haftungsquote nicht hinreichend schlüssig dargelegt hatte; insbesondere kein Beweisantritt erfolgt ist. Die Beibringung neuer Unterlagen bzw. neuer Beweismittel für Tatsachen, die schon zum Zeitpunkt des Erstprozesses gegeben waren, machen diese jedoch nicht zu neu entstandenen Tatsachen (vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, Vor § 322, Rn. 53 ff; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, § 322, Rn. 245 ff).

Dennoch kann sich die Antragsgegnerin nun im Zweitprozess nicht darauf berufen, dass der Anspruch bereits im Vorprozess unbeschränkt hätte abgewiesen werden müssen. Zwar ist ein derartiger Fall - soweit ersichtlich - in dem die nur eingeschränkte Klagabweisung offensichtlich unrichtig ist - bisher höchstrichterlich nicht entschieden worden. Sinn und Zweck der materiellen Rechtskraft ist jedoch der Schutz subjektiver privater Rechte sowie die Herstellung von Rechtsfrieden und Rechtsgewissheit (vgl. Stein/Jonas/Leipold, ZPO, § 322, Rn. 27). Aus diesem Grunde entfaltet auch das sachlich unrichtige Urteil materielle Rechtskraft. Die Rechtskraft verbietet es gerade, die Frage der Richtigkeit oder Unrichtigkeit nochmals aufzuwerfen (vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, Vor § 322, Rn. 71). Aufgrund der Entscheidungsgründe des Urteils vom 21.07.2009 war für beide Parteien des Rechtsstreits erkennbar, dass die Klageabweisung nur „derzeit“ erfolgte. Etwas anderes lässt sich auch dem Vortrag der Antragsgegnerin nicht entnehmen. Den Ausführungen lässt sich im Gegenteil entnehmen, dass sie mit einer erneuten Inanspruchnahme rechnete. So hat sie sich auch im gerichtlichen Verfahren zunächst zur Begründetheit des Antrages geäußert und hat sich erst nach dem Hinweis des Gerichts, der Antrag könne wegen entgegenstehender Rechtskraft unzulässig sein, dessen Auffassung zu Eigen gemacht.

Weist ein rechtskräftiges Urteil einen Anspruch als (nur) zurzeit unbegründet ab, ist daher das Gericht in einem Zweitprozess hieran insofern gebunden, als es nicht annehmen darf, schon das Erstgericht hätte den Anspruch unbeschränkt abweisen müssen (so auch Zöller/Vollkommer. ZPO, 28. Auflage, Vor § 322 Rd. 55). Dieses Ergebnis ist auch nicht unbillig. Schließlich hätte die jetzige Antragsgegnerin und damalige Beklagte die Möglichkeit gehabt, mit der Berufung die Abweisung der Klage als unbegründet ohne jede Einschränkung zu erstreben (vgl. BGH NJW 2000, 2988 ff). Von dieser Möglichkeit hat sie jedoch keinen Gebrauch gemacht.

Die Antragstellerin hat die Zurückverweisung gemäß § 113 Abs. 1 FamFG, 538 Abs. 2 Satz 3 ZPO beantragt, da im angefochtenen Beschluss nur über die Zulässigkeit des Antrags entscheiden worden ist. Das Amtsgericht wird allerdings zu beachten haben, dass trotz der sachlich unrichtigen Entscheidung im Erstprozess von den Feststellungen des rechtskräftigen Urteils auszugehen ist. Nur wenn aufgrund neuer Tatsachen - beziehungsweise im konkreten Fall neuer Belege und Beweisantritte - das Tatbestandsmerkmal jetzt vorliegt, aufgrund dessen die erste Klage abgewiesen wurde, darf von der rechtskräftigen Entscheidung abgewichen werden.

Die Revision war gemäß § 113 Abs. 1 FamFG, 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zuzulassen.