LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 05.06.2008 - L 13 VG 1/05
Fundstelle
openJur 2012, 47535
  • Rkr:

1. Der tätliche Angriff nach § 1 Abs.1 OEG durch einen sexuellen Mißbrauch als Kind bedarf auch dann des Vollbeweises, wenn er lange zurück liegt und erst spät dem Opfer bewußt wurde.2. Die Beweiserleichterung nach § 6 Abs.3 OEG iVm § 15 KOV-VfG (eigene Angaben der Antragstellerin) kann erst dann zum Zuge kommen, wenn andere Beweismittel objektiv nicht vorhanden sind.3. Die Unannehmlichkeiten einer Aussage für Zeugen und Opfer im OEG - Verfahren mit dem Hintergrund des sexuellen Mißbrauchs eines Kindes durch Angehörige rechtfertigen es in der Regel nicht, von ihrer Vernehmung abzusehen.4. Allein die hohe Wahrscheinlichkeit, dass nach medizinischer Erkenntnis zwischen einem sexuellen Mißbrauch als Kind und und den gegenwärtig vorhandenen psychischen Erkrankungen der erwachsenen Antragstellerin ein kausaler Zusammenhang bestehen dürfte, vermag die gebotene Feststellung nicht zu ersetzen, ob ein Mißbrauch im Sinne eines Angriffs vorlag.5. Die in Strafverfahren üblichen psychologischen Glaubhaftigkeitsgutachten können auch zur Ausfüllung des in § 15 Satz 1 KOV - VfG genannten Tatbestandsmerkmals der Glaubhaftigkeit der Angaben der Antragstellerin herangezogen werden.

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid desSozialgerichts Oldenburg vom 4. Januar 2005 wirdzurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Entschädigungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz

- OEG - aufgrund sexuellen Missbrauchs in der Kindheit und Jugend, der ungefähr in den Jahren 1957 bis 1971 stattgefunden haben soll.

Die Klägerin wurde im Februar 1953 in Wilhelmshaven geboren. Ihr Vater war von Beruf Schlosser und in einer Werft tätig, später war er nach einer längeren Erkrankung als Dekorateur berufstätig. Nach den Angaben der Klägerin lebt der Vater in I. und sei altersdement. Die Mutter war Hausfrau und Sachbearbeiterin. Die Klägerin wurde als drittes Kind von insgesamt vier Kindern geboren. Der etwa drei Jahre ältere Bruder soll an einer Psychose leiden; die ältere Schwester soll verheiratet in I. leben. Der sechs Jahre jüngere Bruder soll einen Campingplatz in J. betreiben. Nach dem Besuch der Hauptschule, während dessen sie im Alter von 6 bis 12 Jahren intensiv Sportakrobatik betrieben haben soll, besuchte die Klägerin anschließend in der Zeit vom April 1968 bis März 1970 die städtische Handelslehranstalt in I. und schloss diese mit der Mittleren Reife ab. In der Zeit vom 1. April 1970 bis zum 30. März 1973 absolvierte die Klägerin bei einem Steuerberater eine Ausbildung zur Steuerfachgehilfin, die sie jedoch nicht erfolgreich abschloss; nach eigenen Angaben soll sie zwei Mal die Abschlussprüfung nicht bestanden haben. Anschließend war sie in der Zeit vom 1. April bis 30. Juni 1973 als kaufmännische Angestellte in dem Steuerbüro berufstätig. Nachdem sie in den ersten Tagen des Juli 1973 vorübergehend als Verkäuferin in einem Modegeschäft in Varel berufstätig gewesen war, übte sie in der Zeit vom 16. Juli 1973 bis zum 31. Dezember 1975 eine Tätigkeit als Sachbearbeiterin in einem Werk zur Flugzeugherstellung in K. aus. Für das Jahr 1976 wird eine vorübergehende Tätigkeit der Klägerin als Sekretärin bei einer Viehverwertungsgenossenschaft in K. angesprochen (Bl. 37 Beiakte C). In der Zeit vom 5. April 1976 bis zum 2. Dezember 1979 war die Klägerin als Sekretärin in einer Dienststelle der Wehrverwaltung in I. berufstätig. Diese Tätigkeit gab sie wegen ihrer verschiedenen Erkrankungen auf.

In der Zeit vom 1. Februar bis zum 30. April 1981 begann die Klägerin eine von der Arbeitsverwaltung geförderte Umschulung zur Krankenschwester im Kreiskrankenhaus des Landkreises L. in M., die sie dann aber abbrach. Die Klägerin heiratete im März 1982 ihren fünf Jahre älteren Mann; aus der Ehe gingen zwei im Februar 1982 und im Mai 1985 geborene Töchter hervor. Seit dem 1. April 1998 erhielt die Klägerin eine Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit von der damaligen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte; seit dem 1. Oktober 2003 wird eine Rente wegen Berufsunfähigkeit auf unbestimmte Dauer gezahlt (Bescheid vom 17. Juli 2003).

In der Zeit von 1977 bis 1982 war die Klägerin wegen depressiver Verstimmungen bei dem Facharzt für innere Medizin Dr. N. in Behandlung. Diese Behandlungen setzte sie in der Zeit von 1983 bis 1990 bei dem Facharzt für Allgemeinmedizin J. O., I. fort, der ein Angstsyndrom gepaart mit reaktiven Depressionen und Vertigo diagnostizierte. In der Zeit vom 28. Januar 1980 bis zum 1. November 1980 war die Klägerin stationär im Zentralkrankenhaus P., Q. stationär untergebracht. Dort wurde als Diagnose gestellt: „Konversionssymptome und phobische Symptome bei Frigiditätsproblematik auf der Basis einer schizoid-hysterischen Neurose“ (Arztbrief an Dr. R., I. vom 23. Dezember 1980 durch Stationsärztin S. und leitenden Facharzt Dr. T.). Im Gegensatz zu späteren Angaben der Klägerin wird in diesem Bericht ein Alkohol- oder Tablettenentzug nicht angesprochen. Weiter hielt sich die Klägerin im Jahre 1989 und 1992 in der Klinik Dr. U., V. auf, worüber in den Verwaltungsvorgängen keine Unterlagen vorhanden sind. Nach der ärztlichen Bescheinigung des praktischen Arztes Dr. W., I., vom 4. Mai 1998 war die Klägerin bei ihm durchgehend seit dem 16. Oktober 1990 in hausärztlicher Betreuung. Dieser teilte mit, dass die Klägerin an Persönlichkeitsstrukturstörungen, eventuell auf dem Boden traumatischer Ereignisse leide und sich im Oktober 1995 im Gesundheitszentrum X. in Y. (Z.) aufgehalten habe. In der Zeit vom 29. September 1992 bis zum 13. Mai 1996 war die Klägerin bei dem Diplompsychologen P. AA., V., in psychotherapeutischer Einzelbehandlung. Er gab in der Bescheinigung vom 28. April 1998 als Diagnosen an: „Angstneurotische Entwicklung bei massiven Versagenszuständen, Essstörung und latente Suizidalität“. Als Ursache wurden in der Bescheinigung schwerwiegende traumatische Erlebnisse in der Kindheit und eine vorübergehende Medikamentenabhängigkeit angesprochen. In der Zeit von Ende Mai 1996 bis zum 7. März 1997 war die Klägerin stationär im Niedersächsischen Landeskrankenhaus AB. untergebracht. Dort wurde als Diagnose eine Borderline-Persönlichkeitsstörung mit Panikzuständen, bulimische Symptomatik und selbstverletzendes Verhalten mit Zustand nach multiplen Traumata in der Vorgeschichte genannt. In der Zeit vom 2. November 1998 bis zum 6. Januar 1999 war die Klägerin zunächst teilstationär und später, d. h. ab 10. November 1998 vollstationär in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des AC., I., untergebracht. Als Diagnose wurde dort eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (F60.31 der ICD-10) und eine Bulimie (F50.2 der ICD-10) angegeben. Im Arztbrief dieser Klinik vom 30. August 2005 wurde angesprochen, dass die Klägerin zu ihrer Biografie berichtet habe, sie sei als Kind und Jugendliche mehrfach vom Vater, dem Großvater und von Bekannten des Großvaters sexuell missbraucht worden. Ebenso wird im Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Privatdozent Dr. AD. vom 16. Juni 1998 für die damalige Bundesversicherungsanstalt für Angestellte angesprochen, dass die Klägerin dem Gutachter über schwere traumatische Erlebnisse ihrer frühen Kindheit berichtet habe. In der Zeit vom 11. Januar bis zum 30. Juni 1999 wurde die Klägerin stationär in der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Niedersächsischen Landeskrankenhauses AE. aufgenommen. Von dort wird im Arztbrief vom 26. Juli 1999 berichtet, die Klägerin habe sich 1980 wegen einer Entzugsbehandlung von Alkohol und Tablettenabhängigkeit in der Klinik P. aufgehalten. Weiter wird in der Sozialanamnese der Klägerin berichtet, dass ihr Vater bis zum 7./8. Lebensjahr nicht zu Hause gewesen sei, weil er sich wegen einer Tuberkuloseerkrankung in Sanatorien aufgehalten habe. Etwa seit ihrem 5. Lebensjahr (1958) habe ihr Großvater mütterlicherseits, der Jude und “fliegender Händler“ gewesen sei, sie bei gewalttätigen Übergriffen sexuell missbraucht. Für ihre gesamte Kindheit bis zum 18. Lebensjahr verfüge sie lediglich über bruchstückhafte Erinnerungen; die Therapie sei mit Hilfe des Traumaexpositionsverfahrens EM DR erfolgt, in der Therapie sei es in erster Linie um die Aufarbeitung massiver sexualisierter Gewalterfahrungen durch den Großvater gegangen. Bei der Klägerin habe ein intensives Bedürfnis bestanden, den Wahrheitsgehalts ihres Erlebens von außen, auch im Sinne einer Wiedergutmachung (vor allem durch die Eltern), bestätigt zu kommen. Unter dem Eindruck dieses Konflikts und der ablehnenden Haltung der Eltern sowie der eigenen Familie sei es während der Therapie zu einer erheblichen Zunahme der Symptomatik gekommen. Es wurden folgende Diagnosen gegeben: Komplexe posttraumatische Belastungsstörung (F43.1 der ICD-10) mit dissoziativer Amnesie (F44.0), Depersonalisationsstörung (F48.1), Borderline-Persönlichkeitsstörung (F60.31), Somatisierungsstörung (F45.0) sowie rezidivierenden Episoden einer Major Depression (F33.1), Paniksyndrom mit Agoraphobie (F41.0). In der Zeit vom 17. November 2000 bis zum 15. Januar 2001 war die Klägerin stationär im AF., Abteilung für Psychotherapeutische Medizin / Psychosomatik, untergebracht. Im Arztbrief vom 23. März 2001 wurde berichtet, wie schwierig es gewesen sei, eine Therapie aufzunehmen. Dort heißt es u. a.: „Eine tragende Verständigung konnte mit Frau AG. vor allem nicht dahingehend erzielt werden, daß vor dem Hintergrund ihrer reichhaltigen Therapieerfahrungen mit Verbalisierung traumatischer Kontexte jetzt eher die „Schatzsuche“ im Sinne der Realisierung schöpferischer Aktivitäten im Vordergrund stehen sollte als eine weitere „kriminalistische“ Traumarecherche. Trotz ihrer außerordentlichen schöpferischen Begabung wurde dennoch deutlich, daß es Frau AG. schwer fiel, ihre Identität als Opfer in Frage zu stellen, möglicherweise aufgrund eines gefürchteten Identitätsvakuums, das auch durch die Erfahrung ihrer schöpferischen Kräfte nicht aufgefüllt werden konnte. Ursächlich mag hier auch eine tiefgreifende Störung der Eigenwahrnehmung mit von Bedeutung sein. Als widersprüchlich wurde auch der von uns vermutete Lebenshunger der Patientin, der sich in vielfältigen Eigendarstellungen nach unserem Dafürhalten manifestierte, vor dem Hintergrund ihrer anklagenden und auch im Kontext der therapeutischen Gemeinschaft viele im Ansatz produktive Beziehungsmomente auslöschende Haltung gesehen.“ In der Zeit vom 21. Juni bis zum 2. August 2001 hielt sich die Klägerin in der Klinik AH., Fachbereich Psychosomatik-Psychotherapie, AI., auf. Im Arztbrief dieser Klinik vom 8. August 2001 wurde u. a. im Rahmen der biografischen Anamnese berichtet, dass die Klägerin zwischen ihrem 4. und 6. Lebensjahr während der Sommerferien beim Aufenthalt in Saarbrücken, der Ort, in dem ihr Großvater lebte, von diesem wiederholt sexuell missbraucht worden sei und dieser sie gelegentlich bei Fahrten an Freunde „verkauft“ habe; auf ihren Versuch der Klärung der Geschehnisse mit Hilfe eines Briefes im Jahre 1999, in welchem ihre Anklagen gegen den Vater und Großvater angesprochen worden seien, habe sie nur eine abweisende und verurteilende Antwort ihrer Eltern erhalten. Als Diagnosen wurden im Wesentlichen gestellt: Chronische posttraumatische Belastungsstörung (F62.0), dissoziative Störung (F44.0, F44.81), Panikstörung (F41.0), anamnestisch vorbeschriebene Boderline-Persönlichkeitsstörung, Neigung zu Selbstverletzungen (F60.31), Bulimia nervosa (F50.2). In der Folgezeit war die Klägerin vom 23. Oktober 2001 bis 23. April 2002 in Behandlung der Institutsambulanz der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des AJ., I.. Dort wurde die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung (F60.31) und Bulimie (F50.2) gestellt und im Arztbrief vom 10. Mai 2002 wurde angesprochen, das „zur Neubewertung des Beziehungssystems auch Gespräche mit dem Ehepartner und der Mutter geführt wurden“. In einem für die Rentenversicherung erstellten Gutachten teilt der Facharzt für Neurologie und Nervenheilkunde Dr. AK., AL., vom 30. Juni 2003 mit, dass die Klägerin ihm geschildert habe, ihr fehle die Erinnerung für die Zeit vom 4. bis zum 18. Lebensjahr und sie erinnere aus dieser Zeit nur einzelne Vorkommnisse, so u. a. verschiedene sexuelle Missbräuche durch ihren Großvater.

Mit einem am 5. Februar 2002 beim Versorgungsamt eingegangenen Antrag beantragte die Klägerin sinngemäß ihre Anerkennung als Schwerbehinderte und die Gewährung von Versorgungsleistungen. Nach Einholung verschiedener ärztlicher und versorgungsärztlicher Stellungnahmen stellte daraufhin das Versorgungsamt AM. mit Bescheid vom 1. Oktober 2002 für die Klägerin ab dem 5. Februar 2002 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 fest und knüpfte dabei an die Funktionsbeeinträchtigung „posttraumatische Belastungsstörungen mit Panikattacken, Persönlichkeitsstörungen, Bulimie und Symptomen der Fibromyalgie“ an. Dagegen legte die Klägerin mit einem am 18. Oktober 2002 eingegangenen Schreiben Widerspruch ein und führte zur Begründung aus, dass sie den Widerspruch nur vorsorglich einlege, bis dass endgültig über ihren formell am 1. März 2002 eingegangenen Antrag auf Leistungen nach dem OEG entschieden worden sei. Ein am 14. Juni 2005 gestellter Neufeststellungsantrag wurde mit Bescheid vom 27. September 2005 abgelehnt. Die Klägerin legte hiergegen Widerspruch ein, über den bisher nicht entschieden worden ist.

Im Verfahren nach dem OEG holte die Versorgungsverwaltung ein aussagepsychologisches Gutachten zur Frage der Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin durch die Diplom-Psychologin AN., AO., ein, das diese unter dem 6. März 2003 erstattete. In diesem Gutachten wurde unter Würdigung der im einzelnen der von der Klägerin aus ihrer Kindheit geschilderten Missbrauchsfälle durch den Großvater und Vater, soweit sie sie erinnerte, dargelegt, dass die Angaben der Klägerin zu den fraglichen Kernhandlungen keinesfalls detailliert, sondern vielmehr pauschal und allgemein seien. Es falle auf, dass einige Rahmenhandlungen jeweils feinziseliert geschildert würden, die dazugehörigen Kernhandlungen blieben aber undifferenziert und allgemein. Teilweise gebe es Überdetaillierungen in einzelnen Schilderungen am Rande; handlungstechnisch seien die im Einzelnen geschilderten Vorgänge kaum nachzuvollziehen. Es erscheine als möglich, dass Aspekte der früheren langen therapeutischen Erfahrungen der Klägerin zu einer Autosuggestion geführt hätten, weil Therapien zu einem Lebensinhalt der Klägerin geworden seien. Im Ergebnis seien aus aussagepsychologischer Sicht keine Merkmale ausreichender Qualität gegeben, die einen Bezug zu einem zu Grunde liegenden Erlebnis hätten.

Daraufhin lehnte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 24. April 2003 die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass eine objektive Aufklärung des schädigenden Tatbestandes nicht möglich gewesen sei und auch die bisherigen Angaben der Klägerin im Rahmen der verschiedenen Therapien und bei der Begutachtung zur Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen nicht zu dem Ergebnis geführt hätten, der Sachverhalt eines Missbrauchs sei mit hinreichender Wahrscheinlichkeit aufgeklärt. Dagegen legte die Klägerin am 14. Mai 2003 Widerspruch ein und führte zur Begründung aus, dass das Gutachten der Diplom-Psychologin AN. deswegen nicht verwertbar sei, weil es sich auf die Rolle einer Zeugin im Strafverfahren beziehe; vorliegend handele es sich aber bei ihr um ihre Eigenschaft als Partei in einem Verwaltungsverfahren, so dass die in dem Gutachten angesprochenen Grundsätze zur Glaubwürdigkeit einer Zeugin nicht durchgreifen könnten. Demgegenüber sei aber durch die zahlreichen Diagnosen - insbesondere durch die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung - hinreichend bewiesen, dass sich die von ihr geschilderten Missbrauchsfälle in der Kindheit tatsächlich ereignet hätten. Es sei eine Fremd- oder Autosuggestion von dem Beklagten nicht bewiesen, vielmehr belegten die zahlreichen ärztlichen Stellungnahmen die Wahrheit des von ihr geschilderten Geschehens.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10. März 2004 wies das AP. den Widerspruch als unbegründet zurück. Dabei wurde ausgeführt, dass sich der Tatbestand eines rechtswidrigen Angriffs - hier durch den geltend gemachten sexuellen Missbrauch und die Vergewaltigungen als schädigendes Ereignis - nicht habe nachweisen lassen. Insbesondere im Hinblick auf die aussagepsychologische Begutachtung durch die Diplom-Psychologin AN. im Gutachten vom 6. März 2003 ergäben sich Zweifel daran, allein den Angaben der Klägerin zu folgen. Da mithin eine objektive Beweislosigkeit vorliege, gehe dies zu Lasten der beweispflichtigen Klägerin. Der Widerspruchsbescheid wurde mit einfachem Brief am 11. März 2004 abgesandt.

Dagegen hat die Klägerin am Dienstag, den 13. April 2004 Klage beim Sozialgericht (SG) Oldenburg erhoben. Zur Begründung wiederholte und vertiefte sie ihr bisheriges Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren und machte geltend, dass ihr Großvater nunmehr verstorben sei und ihr Vater wegen Altersdemenz keine Aussagen machen könne. Sie wünsche nicht, dass ihre Mutter oder andere Familienmitglieder zu den Geschehnissen vernommen würden.

Das SG Oldenburg hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 4. Januar 2005 als unbegründet abgewiesen. Ein rechtswidriger tätlicher Angriff sei nicht zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen, denn eine nur überwiegende Wahrscheinlichkeit des Sachverhalts sei nicht ausreichend. Mangels eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens oder eines Strafverfahrens und mangels der eventuell denkbaren Auskünfte der Mutter der Klägerin oder anderer Personen könne nicht allein auf die Angaben der Klägerin abgestellt werden. Denn deren Glaubhaftigkeit sei in überzeugender Weise durch die gutachtlichen Erhebungen der Diplom-Psychologin AN. erschüttert worden.

Gegen diesen ihr am 17. Januar 2005 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 17. Februar 2005 Berufung eingelegt. Sie macht geltend: Der bei ihr in ihrer Kindheit vorliegende sexuelle Missbrauch sei durch die zahlreichen ärztlichen Feststellungen und Erhebungen ausreichend dargelegt. Insbesondere könne aufgrund dieser zahlreichen Nachweise nicht davon ausgegangen werden, bei ihr liege eine anlassfreie innere Entwicklung zur beklagten psychischen Störung vor. Vielmehr beruhe dies und ihre Erkrankung in ihrer Ausgestaltung auf dem früheren Geschehen. Auch sei sie nicht bereit, Namen und ladungsfähige Anschrift ihrer Mutter und ihrer Schwester zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts anzugeben, denn dies würde für sie zu einer unnötigen Belastung führen. Sie habe sich auch in der Zeit vom 22. Februar bis zum 31. Mai 2005 in Behandlung der AQ., Fachklinik für Psychotherapie und psychosomatische Medizin, AR., befunden, wo bei ihr nochmals das Vorliegen einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung aufgrund eines frühkindlichen Missbrauchs zutreffend diagnostiziert worden sei. Art, Schwere und Eindringlichkeit ihrer Erkrankung belegten im hinreichenden Maße das tatsächliche Geschehen und den kausalen Zusammenhang zwischen dem Geschehen und ihrer aktuellen Behandlungsbedürftigkeit. Nicht zuletzt habe die Vernehmung der sie in der AQ. behandelnden Ärztin Dr. AS. - in dieser Klinik sei sie auch nach dem Frühjahr 2005 noch mehrmals in stationärer Behandlung gewesen - den kausalen Zusammenhang nachgewiesen. Schließlich hat sie wie schon im Widerspruchsverfahren nochmals darauf hingewiesen, das Glaubhaftigkeitsgutachten der Diplom-Psychologin AN. sei ungeeignet, weil sie in diesem Gutachten fälschlicherweise als Zeugin behandelt worden sei.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 4. Januar 2005 aufzuheben

und

den Beklagten zu verurteilen, ihre komplexe posttraumatische Belastungsstörung, dissoziative Identitätsstörung, schwere depressive Episode und Bulimie als Schädigungsfolge nach dem Opferentschädigungsgesetz anzuerkennen und ab Februar 2002 Versorgungsleistungen nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit i. H. v. mindestens 50 v. H. zu erbringen

sowie

den Bescheid des Versorgungsamtes Oldenburg vom 24. April 2003 und den Widerspruchsbescheid des Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben - Landesversorgungsamt - vom 10. März 2004 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er schließt sich den Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid an und macht geltend, die Voraussetzungen für einen Anspruch nach dem OEG seien nicht nachgewiesen. Gegenüber keinem der Sachverständigen oder Ärzte seien in ausreichendem Maße detaillierte Angaben über einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit gemacht worden. Im Gegensatz hierzu ergäben sich vielmehr auf der Grundlage des Glaubhaftigkeitsgutachtens der Diplom-Psychologin AN. vom 6. März 2003 derartige Zweifel an der tatsächlichen Richtigkeit der Angaben der Klägerin, dass von einem Angriff i. S. der zu Grunde liegenden Rechtsvorschrift nicht ausgegangen werden könne; die bloße Möglichkeit, eines Zusammenhangs zwischen einem sexuellen Missbrauch und der bei der Klägerin vorliegenden gesundheitlichen Störungen reiche nicht aus, vielmehr sei hierfür ein Vollbeweis erforderlich. Im Übrigen gebe es keinen allgemeinen Erfahrungssatz, dass bei Vorliegen einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung oder einer dissoziativen Identitätsstörung zwangsläufig und regelhaft ein sexueller Missbrauch in der Kindheit vorgelegen haben müsse.

Der Senat hat aufgrund des Beweisbeschlusses vom 5. Juni 2008 im Verhandlungstermin Frau Dr. AS. von der AQ., AR., zur mündlichen Erläuterung ihres Arztbriefes vom 16. Juni 2005 gehört. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das Sitzungsprotokoll, den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge (Schwerbehindertenakten: A, OEG-Akten: B, Rentenakten: C und Widerspruchsvorgänge des Landesversorgungsamtes: D) ergänzend Bezug genommen; sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Gründe

Die zulässige Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg. Der angegriffene Gerichtsbescheid des SG Oldenburg vom 4. Januar 2005 ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat nicht zu beweisen vermocht, dass ihr ein Anspruch auf Versorgungsleistungen wegen der bei ihr vorliegenden Gesundheitsstörungen, insbesondere wegen ihrer dissoziativen Identitätsstörung als Schädigungsfolge nach dem Opferentschädigungsgesetz - OEG - zuerkannt wird und dass ihr deswegen ab Februar 2002 Versorgungsleistungen zu erbringen sind. Dazu im Einzelnen:

1. Rechtsgrundlage für das Begehren der Klägerin sind die Regelungen des OEG (in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Januar 1985, BGBl. I Seite 1, zuletzt geändert durch Art. 12 des Gesetzes vom 13. Dezember 2007, BGBl. I Seite 2904) i. V. m. den Regelungen des Bundesversorgungsgesetztes - BVG - (in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. Januar 1982, BGBl. I Seite 21, zuletzt geändert durch Art. 8 des Gesetztes vom 28. Mai 2008, BGBl. I Seite 874). Gemäß § 10 Satz 2 OEG i. V. m. § 10 a Abs. 1 Satz 1 OEG erhalten Personen, die in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis zum 15. Mai 1976 geschädigt worden sind, nur dann Versorgung nach dem OEG, solange sie allein in Folge dieser Schädigung schwer beschädigt sind - d. h. die Schädigung mindestens zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 v. H. geführt hat -, sie bedürftig sind und im Geltungsbereich des Gesetzes ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Ob diese Voraussetzungen im vorliegenden Falle erfüllt sind, kann aber - in Übereinstimmung mit den angefochtenen Bescheiden und dem angegriffenen Gerichtsbescheid - hier unerörtert bleiben, da weitere Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen die Erfüllung des Anspruchs auf Versorgung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist. Nach dieser Vorschrift erhält Versorgung, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes in Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 OEG hat die Klägerin aber auch im Berufungsverfahren nicht nachweisen können.

Dabei steht dem geltend gemachten Anspruch der Klägerin nicht entgegen, dass bei ihr die schädigenden Handlungen in der Zeit zwischen 1957 bis 1971 (d. h. zwischen ihrem 4. und 18. Lebensjahr) im familiären Umfeld geschehen seien sollen. Der Grundgedanke des OEG ist zwar, dass die Gewährung von Versorgungsleistungen das Versagen staatlichen Schutzes vor Gewalttaten ausgleichen soll. Naturgemäß sind die Möglichkeiten staatlicher Verbrechensbekämpfung im familiären Bereich sehr beschränkt. Der Umstand, dass die Gewalttaten in dem - staatlichen Sicherheitskräften nur beschränkt zugänglichen - familiären Nahraum stattgefunden haben könnten, führt aber nicht zur Versagung von Leistungen. Denn aus der Entstehungsgeschichte des OEG ergibt sich der Wille des Gesetzgebers, auch wegen Gewalttaten, die sich vor dem Hintergrund häuslicher Gemeinschaft oder ähnlicher vertrauter Beziehungen ereignet haben, eine Entschädigung nicht allgemein auszuschließen (vgl. insoweit zur Entstehungsgeschichte: Dannecker/Biermann, Die Bedeutung des Strafrechts für das OEG, SGb 2000, 101, 106; BSG, Urt. vom 7. November 1979 - 9 RVg 2/78 -, BSGE 49,104, 108 = SozR 3800 § 2 Nr. 1 und Urt. vom 18. Oktober 1995 - 9 RVg 4/93 -, BSGE 77, 7, 9 = SozR 3 - 3800 § 1 Nr. 6).

Ebenso kann dem geltend gemachten Anspruch der Klägerin nicht grundsätzlich entgegengehalten werden, ein sexueller Missbrauch von Kindern würde nicht das Merkmal des „tätlichen Angriffs“ i. S. des § 1 Abs. 1 OEG erfüllen können. Vielmehr kann dieses Tatbestandsmerkmal auch dann gegeben sein, wenn der Täter keine nennenswerte Kraft aufwendet, um einen Widerstand des Opfers zu überwinden, sondern sein Ziel dadurch erreicht, dass er den Widerstand seines Opfers durch Täuschung, Überredung oder sonstige Mittel ohne besonderen Kraftaufwand bricht oder gar nicht erst aufkommen lässt (vgl. BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995 - 9 RVg 4/93 - BSGE 77, 7, 9 und Urteil vom gleichen Tage - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11 (13) = SozR 3 - 3800 § 1 Nr. 7). Denn selbst wenn das Opfer in die Tat einwilligt, ist die Handlung nicht gerechtfertigt, wenn dem Opfer die Einwilligung durch Täuschung entlockt wird oder es dem Opfer aus sonstigen Gründen an der Fähigkeit mangelt, Bedeutung und Tragweite seiner Einwilligung zu erkennen. An dieser Fähigkeit mangelt es insbesondere bei Kindern auf sexuellem Gebiet, jedenfalls so lange sie noch nicht strafmündig sind. Deshalb kann bei Kindern das Tatbestandsmerkmal eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs bei sexuellem Missbrauch selbst dann erfüllt sein, auch wenn dabei keine Gewalt von dem Täter im strafrechtlichen Sinne ausgeübt wird.

272. Wie in allen Zweigen des sozialen Entschädigungsrechts hängt die Durchsetzbarkeit eines Anspruchs grundsätzlich vom Beweis der anspruchsbegründenden Tatsachen ab. Beweis geführt ist über eine Tatsache, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Beweiserfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Fehlt es daran, so geht dies zu Lasten des Anspruchstellers (objektive Beweis- und Feststellungslast, vgl. Sailer in: Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl., § 1 OEG Rdn. 4). Dies gilt jedenfalls hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals des rechtswidrigen tätlichen Angriffs i. S. von § 1 Abs. 1 OEG als eines der drei haftungsbegründenden Tatbestandsmerkmale der Vorschrift (neben der Schädigung und den Schädigungsfolgen). Hinsichtlich der haftungsausfüllenden Kausalität ist für den Ursachenzusammenhang zwischen Schadensereignis und Schädigung und Schädigungsfolge auf die im Sozialrecht allgemein vertretene Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung zurückzugreifen.

Ausgehend von diesen Grundsätzen hat die Klägerin zur Überzeugung des Senats nicht den Vollbeweis erbringen können, sie sei tatsächlich in ihrer Kindheit in der Zeit ab 1957 von ihrem Großvater, ihrem Vater und anderen diesen bekannten Personen sexuell missbraucht worden. Seinerzeit hat kein Strafverfahren stattgefunden, so dass nicht im Wege des Urkundsbeweises auf die damals angelegten polizeilichen Ermittlungs- oder strafrechtlichen Verfahrensakten zurückgegriffen werden kann. Auch sind andere objektive Spuren der angeschuldigten Taten wegen des langen Zeitablaufs zwischen den möglichen Tatzeitpunkten und den ersten konkreten Erkenntnissen im Rahmen des Traumaexpositionsverfahrens beim Niedersächsischen Landeskrankenhaus in AE. im Frühjahr des Jahres 1999 nicht mehr vorhanden.

Auch ist es dem Senat nicht möglich gewesen, sich durch die Vernehmung von in Frage kommenden Zeugen eine Überzeugung vom damaligen tatsächlichen Geschehen zu bilden, welches sich nach den Angaben der Klägerin über viele Jahre hingezogen haben soll und von dem unklar geblieben ist, wann es endete. Allerdings hat die Klägerin nach dem Inhalt der Verwaltungsvorgänge in verschiedenen Erklärungen - insbesondere gegenüber ärztlichen Behandlern - in der Zeit nach dem Frühjahr 1999 ausgeführt, dass diese Taten des sexuellen Missbrauchs in einem nahen persönlichen familiären Umfeld stattgefunden haben sollen, so dass eine Aufklärung der Vorfälle durch Vernehmung von Zeugen, die damals in der Nähe der Klägerin lebten, dem Senat durchaus als möglich erscheint. Das betrifft sowohl die damaligen persönlichen Lebensumstände der Klägerin als auch Hinweise zu Taten und Tatzeiträumen im Einzelnen. Denn die Klägerin hat verschiedentlich Einzelheiten der Lebensumstände der Eltern angesprochen, über die diese bzw. die Geschwister der Klägerin zur Erhellung des Sachverhalts möglicherweise Auskunft geben könnten. So hat sie u. a. einen zeitlichen Zusammenhang mit dem Zuzug der Großeltern aus Südwest-Deutschland nach I. und den wirtschaftlichen Aktivitäten ihrer Eltern hergestellt; auch wurden bestimmte Erkrankungszeiten des Vaters und bestimmte Briefe an die Familie angesprochen, so dass durchaus Anknüpfungspunkte für eine Tatsachenaufklärung durch das Gericht bestehen könnten. Indessen hat es die Klägerin ausdrücklich auf Anfrage des Senats - bekräftigt auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung vom 5. Juni 2008 - abgelehnt, den Namen und die ladungsfähige Anschrift von Personen aus ihrem familiären Umfeld zu nennen, die zur weiteren Tatsachenaufklärung beitragen könnten. Bei dieser Sachlage sieht der Senat keine Möglichkeit, von sich aus in Ermittlungen einzutreten, den Namen und die ladungsfähigen Anschriften der Eltern der Klägerin und ihrer drei Geschwister ausfindig zu machen und diese zu vernehmen, zumal sich auch in den beigezogenen Akten keinerlei Hinweise auf Namen und Anschriften dieser Personen finden, die auch nur Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen des Senats zur Ermittlung der ladungsfähigen Anschriften geboten hätten. Die Möglichkeiten und die Pflicht des Gerichts zur Durchführung von Ermittlungen von Amts wegen (vgl. § 103 SGG) finden aber dort ihre Grenze, wo die Mitwirkungspflicht der Verfahrensbeteiligten einsetzt (vgl. Roller in: Hk-SGG, 2. Aufl., § 103 Rdn. 18 m. w. N.). In Erfüllung dieser Pflicht wäre es hier der Klägerin möglich, die Namen und ladungsfähigen Anschriften ihrer Verwandten zu benennen, denn es handelt sich um Kenntnisse aus ihrem persönlichen Umfeld, die ihr ohne Weiteres zugänglich sind und die sie - abgesehen von dem später noch zu erörternden Gesichtspunkt der Zumutbarkeit - ohne Weiteres angeben könnte.

3. Allerdings kann gem. § 6 Abs. 3 OEG, in welchem auf die entsprechende Anwendung der Vorschriften über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung hingewiesen wird, die Beweiserleichterung nach § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (in der Fassung der Bekanntmachung vom 6. Mai 1976, BGBl I Seite 1169, zuletzt geändert durch Art. 49 des SGB IX vom 19. Juni 2001, BGBl. I Seite 1046 - KOV - VfG -) Berücksichtigung finden. Nach dieser Vorschrift sind Angaben eines Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, dann der Entscheidung zu Grunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen, wenn Unterlagen nicht vorhanden sind oder nicht zu beschaffen sind oder ohne Verschulden des Antragstellers verloren gegangen sind. Zwar wollte § 15 KOV - VfG ursprünglich nur der Beweisnot Rechnung tragen, in der sich Antragsteller befanden, weil sie durch die besonderen Kriegsverhältnisse (Luftangriffe, Vertreibung usw.) die über sie geführten Krankengeschichten, Befundberichte usw. nicht mehr erlangen konnten. Die unter den Bedingungen des § 15 KOV-VfG gemachten Angaben hat die Versorgungsverwaltung zum Nachweis der Schädigung im Allgemeinen für ausreichend gehalten, also ohne dass es noch der Anhörung von Auskunftspersonen oder Zeugen bedurft hätte, was ansonsten in anderen Vorschriften zur Aufklärung des Sachverhalts im KOV - VfG vorgesehen ist. Mit der Verweisung in § 6 Abs. 3 OEG auf diese Vorschrift hat der Gesetzgeber des OEG aber auch der Beweisnot derjenigen Verbrechensopfer Rechnung tragen wollen, bei denen die Tat ohne Zeugen geschehen ist und bei denen sich der Täter einer Feststellung entzogen hat, mithin andere Beweismittel außer den eigenen Angaben des Betroffenen nicht zur Verfügung stehen. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOV- VfG gilt aber nicht nur im Verwaltungsverfahren, sondern auch im gerichtlichen Verfahren, denn sie enthält materielles Beweisrecht. Es ist daher anerkannt, diese Beweiserleichterung auch im Rahmen der gerichtlichen Klärung von Ansprüchen nach dem OEG den Antragstellern zugute kommt (vgl. BSG, Urteil vom 22. Juni 1988 - 9/9 a RVg 3/87 -, BSGE 63, 270 = SozR 1500 § 128 Nr. 34; Urteil vom 31. Mai 1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123 (125) = SozR 1500 § 128 Nr. 39). In Anwendung dieser Vorschrift hat auch der Senat eigenen detaillierten Angaben einer betroffenen Antragstellerin i. V. m. Zeugenaussagen über die persönlichen Lebensverhältnisse der Familie im Zeitpunkt der angeschuldigten sexuellen Übergriffe ausschlaggebende Bedeutung eingeräumt (vgl. Urteil des Senats vom 27. April 2006 - L 13 VG 4/04 - V. n. b., vgl. auch: LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17. Januar 2004 - L 6 VG 14/02 - zit. nach juris).

31Ausgehend von diesen Überlegungen ist der Senat nicht der Überzeugung, dass hier allein den Angaben der Klägerin zur Feststellung des vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gefolgt werden kann. Zwar ist die erste Variante von § 15 Satz 1 KOV - VfG hier erfüllt, da Unterlagen nicht mehr vorhanden sind. Jedoch ist die zweite Variante im vorliegenden Falle nicht erfüllt, die voraussetzt, dass Unterlagen nicht zu beschaffen sind. Zu Unterlagen im Sinne der Vorschrift rechnet der Senat auch die Benennung denkbarer Zeugen hinsichtlich der in Rede stehenden Vorfälle. Dies wäre hier - nach dem oben Gesagten - der Klägerin möglich, so dass eine Tatbestandsvoraussetzung für die Anwendung der Beweiserleichterung hier nicht gegeben ist. Damit sind im Falle der Klägerin nicht alle anderen Möglichkeiten, den Sachverhalt ohne die eigenen Angaben der Klägerin aufzuklären, erschöpft (vgl. Rohr/Sträßer, BVG mit VerfR, 7. Aufl. Bd. IV, Stand Oktober 2007, § 15 Vfg-KOV).

32Auch verhält es sich nicht etwa so, dass die Klägerin ohne Verschulden gehindert wäre, entsprechende Angaben zu machen. Selbst wenn man unter dem Gesichtspunkt des Verschuldens auch den Gedanken der Zumutbarkeit fassen wollte - hier also der Unzumutbarkeit für die Klägerin, die schmerzhaften Geschehnisse aus ihrer Jugend durch eine Zeugenvernehmung innerhalb der Familie nochmals aufzuwühlen -, so führt dies nicht zu einer anderen Beurteilung. Denn der Schutzbereich des OEG knüpft an eine erlittene Tat - den tätlichen Angriff i. S. von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG - an. Nicht zum Schutzbereich der Norm gehört das spätere seelische Erleben der Folgen der Tat. Hier will die Klägerin - aus verständlichen Gründen - davon verschont bleiben, dass im Rahmen einer Beweiserhebung ihre Eltern und Geschwister mit Geschehnissen konfrontiert werden, die tief eine persönliche Scham berühren könnten. Eine derartige Qual den betroffenen Anspruchstellern und Zeugen zu ersparen, ist aber nicht die Aufgabe des Herbeiführens materieller Gerechtigkeit durch ein gerichtliches Verfahren. Dieses knüpft im Wesentlichen daran an, soweit als möglich eine prozessuale Wahrheit zu statuieren, um daran erst in der Folge Rechtsvergünstigungen gewähren zu können.

Hiervon unabhängig ist eine weitere Tatbestandsvoraussetzung der Beweiserleichterungsnorm in § 15 Satz 1 KOV - VfG, nämlich die Glaubhaftigkeit der Angaben der Antragstellerin, nicht erfüllt. Das Schicksal der Klägerin ist im Wesentlichen davon geprägt, dass ihr nach ihren Angaben Erinnerungen an ihre Jugendzeit in der Zeit zwischen 1957 und 1971 fehlen und dass diese hinsichtlich eines sexuellen Missbrauchs erst im Rahmen des stationären Aufenthalts im Niedersächsischen Landeskrankenhaus AE. im Frühjahr 1999 genauer zu Bewusstsein gekommen sind. Allerdings sind sämtliche ärztliche Unterlagen, die über die zahlreichen stationären Aufenthalte und ambulanten Behandlungen der Klägerin gefertigt wurden, dadurch gekennzeichnet, dass dort kaum bzw. nur bruchstückhaft Einzelheiten über die einzelnen Taten und Zeitpunkte des sexuellen Missbrauchs angesprochen werden. Zum ersten Mal werden einige dieser Vorgänge von einer sachkundigen Person im Rahmen der Exploration durch das Gutachten von Frau Diplom-Psychologin AN. vom 6. März 2003 erfragt und geschildert. Die dort im Einzelnen von der Klägerin angesprochenen Tatvorgänge und der Gesamtzusammenhang sind aber davon geprägt - worauf das SG im angefochtenen Gerichtsbescheid zutreffend hingewiesen hat -, dass diese in aussagepsychologischer Hinsicht durchgreifende Bedenken an dem konkreten Erlebnisgehalt dieser Angaben wecken. Damit soll nicht gesagt sein, dass diese Vorgänge tatsächlich nicht etwa stattgefunden haben können. Jedoch hat sich aufgrund der Ergebnisse des aussagepsychologischen Gutachtens für den Senat keine Überzeugung bilden können, die Angaben der Klägerin seien insoweit als glaubhaft zu bewerten. Mit nachvollziehbaren und schlüssigen Argumenten wird in diesem Gutachten belegt, dass verschiedene Aspekte „nicht richtig zusammenpassen“ wollen: Einerseits werden bestimmte Einzelheiten geschildert, die aber im Gesamtkontext nicht schlüssig erscheinen. Andererseits werden typische Einzelheiten, die sonst erinnerbar wären, nicht genannt, so dass die Schilderungen der Klägerin insoweit durch eine gegen ihre Glaubwürdigkeit sprechende Detailarmut (vgl. dazu BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 - NJW 1999, 2746 (2748)) gekennzeichnet sind.

34Auch verfängt der Angriff durch die Klägerin nicht, das aussagepsychologische Gutachten könne deswegen nicht verwendet werden, weil es geprägt sei von den Überprüfungen, wie sie bei Zeugen im strafrechtlichen Verfahren vorgenommen würden. Dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Denn hinsichtlich des Merkmals der Glaubhaftigkeit einer Aussage macht es keinen Unterschied, ob diese im Rahmen einer Zeugenvernehmung im Strafverfahren oder - wie hier - im Rahmen eines Verfahrens zur Gewährung von Leistungen nach dem sozialen Entschädigungsrecht bewertet wird. In beiden Fällen sind die Fragen, die sich bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Angabe stellen, psychologisch gleich. Allein die Verwendung eines aussagepsychologischen Gutachtens für verschiedene rechtliche Zwecke im Rahmen der Rechtsordnung der Bundesrepublik gebietet keine unterschiedliche Bewertung. Auch hat der Senat nicht den Eindruck gewonnen, das Gutachten der Frau AN. vom 6. März 2003 genüge nicht den Anforderungen an ein Glaubhaftigkeitsgutachen, wie sie auch sonst im Rechtswesen gefordert werden (vgl. BGH, a. a. O., S. 2748 f.).

Ist damit aber die Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin erschüttert, so reicht es für die Überzeugungsbildung des Senats nicht aus, wenn die Klägerin darauf hinweist, der Beklagte habe nicht nachweisen können, es fehle in ihrem Falle an einer Auto- oder Fremdsuggestion hinsichtlich der Geschehnisse des sexuellen Missbrauchs in ihrer Jugend. Vielmehr muss die Klägerin als Anspruchstellerin für die Inanspruchnahme sozialer Leistungen auch unter Berücksichtigung der Beweiserleichterungen den Vollbeweis für das Vorliegen der haftungsbegründenden Tatsachen erbringen.

36Zu einer anderen Beurteilung haben auch nicht die Erläuterungen von Frau Dr. AS. von der AQ., AR., im Termin zur mündlichen Verhandlung geführt. In diesem Krankenhaus war die Klägerin im Frühjahr des Jahres 2005 und später mehrfach und für viele Wochen in Behandlung. Dort hat sie eindringlich aus ihrer Sicht ihre seelischen Belastungen durch die bei ihr vorhandenen Erkrankungen geschildert. Indessen kann allein vom Vorliegen einer bestimmten seelischen Erkrankung - hier im Wesentlichen der dissoziativen Identitätsstörung - nicht zwingend darauf rückgeschlossen werden, diese könne nur durch einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit eingetreten sein. Die Sachverständige Zeugin hat zwar überzeugend dargelegt, dass zwischen der Schädigung und den Schädigungsfolgen ein kausaler Ursachenzusammenhang besteht, insoweit als ein sexueller Missbrauch als Kind in einer großen Anzahl von Fällen zu einer Erkrankung an einer dissoziativen Identitätsstörung führt. Diese Wahrscheinlichkeit hinsichtlich des Kausalzusammenhangs vermag aber nicht die Notwendigkeit einer vollen richterlichen Überzeugung von der Erfüllung des objektiven Tatbestandsmerkmals „eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs“ gerade im Falle der Klägerin zu ersetzen. Denn die Zeugin hat auch angesprochen, dass es durchaus auch Fälle von dissoziativer Identitätsstörung gibt, die nicht mit einem sexuellen Missbrauch in Zusammenhang stehen. Hinzu kommt, dass nicht vom Vorliegen eines Krankheitsbildes - hier den Schädigungsfolgen - auf den angeschuldigten Versorgungstatbestand - hier den Angriff - zurückgeschlossen werden darf. Allein die Möglichkeit, dass ein frühkindlicher Missbrauch zu derartigen Krankheitsbildern führen kann, reicht aber nicht aus, den Beweis als geführt anzusehen, der angeschuldigte Angriff habe so tatsächlich stattgefunden. Mag es auch für derartige Fälle nicht untypisch sein, dass Erinnerungen sich nur bruchstückhaft und schubweise wieder einstellen und dass gerade bei einer langen Krankheitsgeschichte da und dort eine Vermischung von real Erlebtem und Phantasien vorkommt - ohne dass die Betroffene sich in der Therapie verstellt hat oder gar lügt -, so hat sich gleichwohl der Senat nicht die volle richterliche Überzeugung vom Vorliegen eines Angriffs auf die Klägerin bilden können, weil durchaus noch gewichtige Restzweifel an dem behaupteten Tatsachengeschehen vorliegen. Allein der Umstand, dass sich das hier gewonnene Ergebnis für weitere Behandlungen der Klägerin belastend auswirken kann, vermag den für den Zuspruch eines Versorgungsanspruchs gebotenen Beweis nicht zu ersetzen. Eine Versorgung ist ohne Nachweis des Angriffs nicht möglich und so im Gesetz nicht vorgesehen.

Nach alledem ist die Berufung zurückzuweisen; die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat sieht nicht die Voraussetzungen für die Zulassung einer Revision als gegeben an (vgl. §160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG).