OLG Celle, Urteil vom 18.02.2004 - 15 UF 208/03
Fundstelle
openJur 2012, 41014
  • Rkr:

1. Verletzt das unterhaltsberechtigte Kind seine Ausbildungsobliegenheit nachhaltig, büßt es seinen Unterhaltsanspruch ein und muss sich darauf verweisen lassen, seinen Unterhalt durch eine Erwerbstätigkeit selbst zu verdienen.

2. Ist nicht absehbar, dass durch eine berufsvorbereitende Maßnahme dem unterhaltsberechtigten Kind eine künftige Ausbildung eröffnet ist, kann diese Maßnahme einen Unterhaltsanspruch nicht begründen.

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das am 22. September 2003 verkündete Urteil des Amtsgerichts - Familiengericht - Gifhorn geändert und wie folgt neu gefasst:

Das Versäumnisurteil des Amtsgerichts - Familiengericht - Gifhorn vom 5. Mai 2003 wird mit der Maßgabe aufrechterhalten, dass der Kläger in Abänderung des gerichtlichen Vergleichs vom 27. Januar 1999 - 30 F 30236/98 AG Gifhorn - zur Zahlung von Kindesunterhalt an den Beklagten für die Zeit ab April 2003 nicht mehr verpflichtet ist.

Dem Beklagte werden die weiteren Kosten des Rechtsstreits erster Instanz sowie die Kosten des Berufungsrechtszuges auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Berufung ist begründet.

Der Kläger ist zur Zahlung von Kindesunterhalt an den Beklagten ab April 2003 nicht mehr verpflichtet, da sich der Beklagte nicht in einer Berufsausbildung befindet, ohne dass es auf die Frage seiner Aktivlegitimation infolge des Sozialhilfebezuges (§ 91 Abs. 1 BSHG) ankommt.

Nach § 1610 Abs. 2 BGB umfasst der Unterhalt den gesamten Lebensbedarf einschließlich der Kosten einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf. Während von den Eltern eine angemessene, den Begabungen, den Fähigkeiten, dem Leistungswillen und den beachtenswerten Neigungen entsprechende berufliche Ausbildung geschuldet ist, besteht auf Seiten des unterhaltsberechtigten Kindes die Obliegenheit, die Ausbildung mit gehörigem Fleiß und gebotener Zielstrebigkeit pflichtbewusst zu verfolgen sowie in angemessener Zeit zu beenden (BGH FamRZ 1998, 671; 2001, 757, 758; Johannsen/Henrich/Graba, Eherecht, 4. Aufl., Rn. 7e zu § 1610 BGB; Scholz in: Wendl/Staudigl, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 5. Aufl., Rn. 65 ff. zu § 2). Solange das Kind einen Ausbildungsabschluss noch nicht erlangt hat, sind vorübergehende Verzögerungen in der Ausbildung vom Unterhaltspflichtigen insbesondere dann hinzunehmen, wenn die Unterbrechung der Ausbildung maßgeblich auf erzieherischem Fehlverhalten der Eltern und den daraus entstandenen Folgen für das Kind beruht (BGH FamRZ 2000, 420, 421). Verletzt das unterhaltsberechtigte Kind seine Ausbildungsobliegenheit nachhaltig, büßt es jedoch seinen Unterhaltsanspruch ein und muss sich darauf verweisen lassen, seinen Unterhalt durch eine Erwerbstätigkeit selbst zu verdienen (BGH FamRZ 1987, 470, 471; MünchKomm/Born, 4. Aufl., Rn. 230 f. zu § 1610 BGB; Göppinger/Wax/Strohal, Unterhaltsrecht, 8. Aufl., Rn. 422 ff., 429; Staudinger/Engler/Kaiser, 13. Aufl., Rn 94 zu § 1610 BGB). Die Verletzung des dem § 1610 Abs. 2 BGB innewohnenden Gegenseitigkeitsverhältnisses führt also von selbst zum Wegfall des Unterhaltsanspruchs, ohne dass dies an die besonderen Verwirkungsvoraussetzungen des § 1611 Abs. 1 BGB gebunden wäre (BGH FamRZ 1998, 671, 672).

Nach diesen Grundsätzen ist der Kläger zur Zahlung von Kindesunterhalt jedenfalls ab April 2003 nicht mehr verpflichtet. Der Beklagte befindet sich seit dieser Zeit nicht mehr in einer schulischen oder beruflichen Ausbildung. Sein im August 2002 begonnenes Ausbildungsverhältnis zum Speditionskaufmann wurde zum 31. Dezember 2002 gekündigt, wobei die näheren Umstände zwischen den Parteien streitig sind. Seit Januar 2003 ist der Beklagte als arbeitslos gemeldet. Entgegen der Ankündigung des Beklagten in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vom 14. Juli 2003, er werde ab August 2003 wieder die Schule besuchen, worauf das Amtsgericht seine Entscheidung gestützt hatte, hat der Beklagte das Berufsvorbereitungsjahr an der BBS II in Braunschweig überhaupt nicht begonnen. Mit den Kontakten zur Regionalen Ausbildungsvermittlung Gifhorn (RAN-Stelle) und zum Regionalverband für Ausbildung (RVA) ist der Beklagte seiner Ausbildungs- oder Erwerbsobliegenheit nicht ausreichend nachgekommen.

Auch die Teilnahme an der Eingliederungsmaßnahme nach der Zielvereinbarung vom 7. November 2003 zwischen dem Beklagten und dem Bildungswerk der Niedersächsischen Wirtschaft stellt keine Ausbildung des Beklagten dar. Im November und Dezember 2003 hat er an Computerkursen teilgenommen und ist seit Januar 2004 im Rahmen eines Praktikums bei der Firma B. tätig. Selbst wenn diese Maßnahme als Testphase verstanden wird, um zu prüfen, inwieweit Jugendliche später von den Unternehmen als Auszubildende übernommen werden können, ist zurzeit keineswegs absehbar, dass hierdurch dem Beklagten eine künftige Ausbildung eröffnet ist. Daher kann das Praktikum als evtl. ausbildungsvorbereitende Maßnahme einen Unterhaltsanspruch nicht begründen.

Der Beklagte kann sich auch nicht darauf berufen, dass die Verzögerungen in der Ausbildung in die Risikosphäre des Klägers fallen. Zwar wohnte der Beklagte von 1999 bis Juli 2002 beim Kläger. Nachdem der Beklagte im Jahr 2000 die A.-L.-Schule aus der - wiederholten - 8. Klasse ohne Abschluss mit Abgangszeugnis verlassen hatte, ergab sich ein erhöhter erzieherischer Förderungsbedarf des Beklagten, wie sich insbesondere an den Schulversäumnissen und dem strafrechtlichen Verhalten des Beklagten zeigte, das u.a. zur Verurteilung zu einem zweiwöchigen Jugendarrest (7 Ds 9 Js 34796/01 AG Gifhorn) und später zu einer 6-monatigen Jugendstrafe auf Bewährung wegen Diebstahls (7 Ds 9 Js 19647/02 AG Gifhorn) geführt hat. Seiner elterlichen und erzieherischen Verantwortung ist der ganztägig berufstätige Kläger jedoch nachgekommen. Die Bemühungen des Klägers selbst waren - nach Angaben des Jugendamtes - erfolglos, weil der Beklagte keinerlei Mitwirkung zeigte, so dass der Kläger die Beratung des Jugendamts in Anspruch genommen hat. Wie sich aus der Fortschreibung des Hilfeplans gemäß § 36 Abs. 2 SGB VIII vom 5. August 2002 ergibt, wurde vom Jugendamt nach dem Wechsel des Beklagten in den mütterlichen Haushalt eine Fremdunterbringung im R-hof in B. erwogen, die jedoch vom Beklagten nach wenigen Tagen abgebrochen wurde.

Das volljährige Kind, das seine Ausbildungsobliegenheit nicht erfüllt, muss für seinen Lebensbedarf selbst aufkommen und dabei jede Arbeitsmöglichkeit ausnutzen (Scholz in: Wendl/Staudigl, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 5. Aufl., Rn. 48 zu § 2; MünchKomm/Born, 4. Aufl., Rn 230 zu § 1610 BGB; Göppinger/Wax/Strohal, Unterhaltsrecht, 8. Aufl., Rn. 430). Der Beklagte, der für seine Bedürftigkeit darlegungs- und beweispflichtig ist, hätte aus einer solchen Tätigkeit seinen Lebensbedarf, auf den mangels Leistungsfähigkeit seiner Mutter das gesamte Kindergeld anzurechnen ist (Senatsurteil vom 13. August 2003, FamRZ 2003, 218 f.), für die Zeit ab April 2003 sicherstellen können, so dass eine Unterhaltsverpflichtung des Klägers nicht mehr besteht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.