VG Oldenburg, Urteil vom 20.10.2003 - 13 A 4286/01
Fundstelle
openJur 2012, 40449
  • Rkr:

Ein Widerspruch gegen einen noch nicht erlassenen Verwaltungsakt ist unzulässig.

Tatbestand

Der im Jahre 1987 geborene Kläger leidet an einer Muskeldystrophie vom Typ Duchenne-Aran.

Im Hinblick auf die bei ihm vorliegenden massiven Einschränkungen seiner Beweglichkeit, die geringen Kontakte zu anderen Kindern und auftretende Erziehungsschwierigkeiten übersandte die NORLE - Familienentlastender Dienst - Ende Dezember 2000 dem Beklagten einen Sozialbericht und einen Förderplan, in dem die Notwendigkeit einer Betreuung des Klägers (und die Übernahme der dadurch entstehenden Kosten) gefordert wurde. Mit Schreiben vom 2. Januar 2001 beantragten die Eltern des Klägers schriftlich beim Beklagten, dem Kläger Hilfe zur Teilnahme im öffentlichen Leben zu gewähren. Im Januar 2001 setzte sich das Jugendamt des Beklagten mit den Eltern des Klägers in Verbindung und führte am 24. Januar 2001 einen Hausbesuch durch. In der Folgezeit kam das Jugendamt zur Auffassung, dass ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach § 27 ff. SGB VIII nicht gegeben sei, dem Kläger aber ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 39 ff. BSHG zustehe, worauf es den Vorgang dem Sozialamt des Beklagten rückübersandte. Das Sozialamt des Beklagten holte daraufhin eine Stellungnahme des Gesundheitsamtes (jugendärztlicher Dienst) des Beklagten ein und teilte den Eltern des Klägers unter dem 21. Juni 2001 mit, der Antrag auf Kostenübernahme für die Betreuung des Klägers könne derzeit noch nicht abschließend bearbeitet werden, da eine weitere ergänzende amtsärztliche Stellungnahme erforderlich sei.

Mit durch Fax übersandten Schreiben vom 26. Juni 2001 erhob der Kläger Widerspruch. Zur Begründung machte er geltend, es müsse eine ablehnende Entscheidung des Beklagten unterstellt werden, nachdem er nahezu ein halbes Jahr keine Entscheidung über den Antrag des Klägers getroffen habe. Dadurch habe der Beklagte gegen § 17 Abs. 1 SGB I verstoßen. Dem Kläger stehe auch ein Anspruch auf Übernahme der Kosten einer Betreuung durch die NORLE im Umfang von wöchentlich vier Stunden während der Schulzeit und sechs Stunden während der Ferienzeiten zu, wobei 77,20 DM Kosten je Betreuungsstunde zu berücksichtigen seien. Zugleich suchte der Kläger um vorläufigen Rechtsschutz bei Gericht (Az.: 13 B 2081/01) nach.

Nach Vorliegen der ergänzenden Stellungnahme des Gesundheitsamtes vom 2. Juli 2001 gewährte der Beklagte mit Bescheid vom 3. Juli 2001 dem Kläger „gemäß § 43 Abs. 1 SGB I i.V.m. § 39, 40 Bundessozialgesetz vorläufig Eingliederungshilfe für den Familienentlastenden Dienst“, wobei der Umfang der Kostenübernahme während der Schulzeit „zunächst vier Stunden wöchentlich“ und während der Ferienzeiten sechs Stunden wöchentlich betrug. Im Bescheid wurden die Kosten für den Familienentlastenden Dienst „vorläufig in Höhe des Vergütungssatzes von 77,20 DM pro Betreuungsstunde übernommen“.

Nachdem der Beklagte dem Kläger in der Folgezeit mitgeteilt hatte, sein Widerspruchsschreiben sei, weil sein Antrag nicht abgelehnt worden sei, lediglich als Androhung einer Untätigkeitsklage gewertet worden, bat der Kläger um eine Entscheidung darüber, ob die Hinzuziehung seines Rechtsanwalts im Vorverfahren erforderlich gewesen sei. Eine derartige Entscheidung müsse getroffen werden, da der Beklagte seinem Widerspruch durch den Bescheid vom 3. Juli 2001 abgeholfen habe. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers übersandte dem Beklagten weiterhin eine Kostenrechnung, mit der die Zahlung von im Vorverfahren angefallenen Kosten in Höhe von 672,80 DM gefordert wurde.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 2001 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers als unzulässig zurück. In den Gründen des Bescheides wird ausgeführt: Der vom Kläger eingelegte Widerspruch gegen die Ablehnung des Antrags „durch Nichtbescheidung“ sei als Antrag auf Gewährung vorläufiger Leistungen nach § 43 SGB I gewertet und durch den Bescheid vom 3. Juli 2001 positiv beschieden worden. Ein Widerspruch gegen einen nicht erlassenen Verwaltungsakt sei unzulässig. Eine bloße Nichtbescheidung könne nicht in einen Verwaltungsakt, der ein Begehren ablehne, umgedeutet werden.

Mit einem am 21. Dezember 2001 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz hat der Kläger erhoben. Zur Begründung macht er geltend: Der Beklagte habe unter Verstoß gegen § 17 Abs. 1 SGB I über seinen Antrag in angemessener Zeit nicht entschieden. Darin liege ein objektiv rechtswidriger Verwaltungsakt, gegen den Widerspruch zulässig sei. Der Bescheid vom 3. Juli 2002 enthalte auch einen versteckten Abhilfebescheid. Aus dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes ergebe sich eine Verpflichtung des Beklagten, soziale Gerechtigkeit herzustellen und Sozialleistungen in angemessener Zeit zu gewähren. Werde weiter der elementare Grundsatz des fairen Verwaltungsverfahrens berücksichtigt und die Aufgabe der Sozialhilfe, Leistungen zur Deckung aktueller Notlagen zu gewähren, ernst genommen, müsse dann, wenn ein Antrag etwa sechs Monate nicht beschieden werde, angenommen werden, dass der Beklagte den Antrag abgelehnt habe.

Der Kläger beantragt,

den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 17. Dezember 2001 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Hinzuziehung seines Prozessbevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verteidigt den angegriffenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Klage, über die im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO) entschieden werden konnte, hat keinen Erfolg. Der angegriffene Widerspruchsbescheid des Beklagten ist rechtmäßig. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch gegen den Beklagten nicht zu.

15Im Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 2001 ist der vom Kläger mit Schriftsatz vom 26. Juni 2001 erhobene Widerspruch mit der Begründung als unzulässig zurückgewiesen worden, dass eine Entscheidung über den Antrag des Klägers auf Gewährung von Eingliederungshilfe im Zeitpunkt der Einlegung des Widerspruchs noch nicht getroffen worden sei. Dies ist rechtlich nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat erst mit Bescheid vom 3. Juli 2001 über den Antrag des Klägers vom 28. Dezember 2000/2. Januar 2001 entschieden und die Kosten für eine vierstündige bzw. sechsstündige wöchentliche Betreuung übernommen. Der bereits zuvor mit Fax vom 26. Juni 2001 erhobene Widerspruch war unzulässig. Aus §§ 68, 69 VwGO ergibt sich, dass ein Widerspruch nur gegen einen tatsächlich ergangenen Verwaltungsakt statthaft ist und ein vor Ergehen eines Verwaltungsakts eingelegter Widerspruch auch nicht nachträglich dadurch zulässig wird, wenn der Verwaltungsakt später tatsächlich ergeht (Kopp, Kommentar, VwGO, 13. Aufl., § 69 Nr. 3 m.w.N.). Daran ändert nichts, dass der Kläger der Auffassung ist, die Beklagte sei ohne sachlichen Grund untätig gewesen und habe nicht hinreichend schnell über seinen Antrag entschieden. Der Untätigkeit einer Behörde kann nämlich nicht durch Widerspruch, sondern nur durch Klage nach § 75 VwGO - soweit die Voraussetzungen dieser Vorschrift vorliegen - begegnet werden (Schoch/Schmidt/Assmann/Pietzner, Kommentar VwGO, § 68 Rdnr. 4, 7 m.w.N.; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 1995, - Az.: 2 M 1/93 - zitiert nach juris). Daneben besteht in Fällen, in denen die zu gewährende Leistung eilbedürftig erscheint, die (auch hier vom Kläger ergriffene) Möglichkeit, um vorläufigen Rechtsschutz nachzusuchen. Bei dieser rechtlichen Lage ist nicht ersichtlich, dass Verfassungsgrundsätze wie das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz, der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz oder das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz dazu führen könnten, anzunehmen, es bestehe über die Regelungen der VwGO hinaus die Möglichkeit eines Widerspruchs bei Untätigkeit. An dieser Einschätzung ändert nichts, dass nach § 17 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch I (Allgemeiner Teil) auch der Sozialhilfeträger verpflichtet ist, darauf hinzuwirken, dass jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise umfassend und zügig erhält. Selbst wenn man zugunsten des Klägers davon ausginge, dass der Beklagte bei der Behandlung seines Antrags auf Eingliederungshilfe diese Regelung verletzt hat, ergäbe sich daraus allenfalls ein Schadensersatzanspruch aus § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 Grundgesetz, nicht aber eine Abänderung der Vorschriften der §§ 68 ff. VwGO dahin, dass nunmehr ein „Untätigkeitswiderspruch“ zulässig wäre.

Auch der geltend gemachte Anspruch, den Beklagten zu verpflichten, die Hinzuziehung des Prozessbevollmächtigten des Klägers im Vorverfahren für zulässig zu erklären, besteht nicht. Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X ergibt sich ein Anspruch auf Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen des Widerspruchsführers nur, „soweit der Widerspruch erfolgreich ist“. Dementsprechend kommt auch die damit verknüpfte Entscheidung nach § 63 Abs. 2 SGB X über die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten nur dann in Betracht, wenn der Widerspruch Erfolg gehabt hat. Dies ist hier schon deshalb nicht der Fall, weil der Widerspruchsbescheid des Beklagten - wie oben dargelegt - den Widerspruch zu Recht als unzulässig zurückgewiesen hat.

Entgegen der Auffassung des Klägers kann der Bescheid vom 3. Juli 2002 auch nicht als „versteckter Abhilfebescheid“ eingestuft werden. Das könnte nur dann angenommen werden, wenn der Beklagte übersehen hätte, dass der Widerspruch nicht zulässig war, da allein auf den „äußeren Erfolg des Widerspruchs“ abzustellen ist (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 14.08.1987 - 8 C 129.84 - Buchholz 316, § 80 VwVfG Nr. 25). Eine derartige Lage ist hier jedoch nicht gegeben. Der Bescheid des Beklagten vom 3. Juli 2001 ist sowohl seinem Inhalt als auch seiner äußeren Form nach lediglich eine Entscheidung über den Antrag des Klägers vom 2. Januar 2001, nicht aber eine Entscheidung über den am 26. Juni 2001 erhobenen Widerspruch.