VG Frankfurt am Main, Urteil vom 14.12.2011 - 9 K 4645/10.F
Fundstelle
openJur 2012, 35482
  • Rkr:

Verjährung, grobe Fahrlässigkeit, grob fahrlässige Unkenntnis, unzulässige Rechtsausübung, Anzeigepflicht

Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 26.04.2010 und derWiderspruchsbescheid vom 04.11.2010 werden aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. DieZuziehung eines Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren wird fürnotwendig erklärt.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. DieBeklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höheder festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vorherSicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der am 10.03.1936 geborene Kläger stand bis zu seiner Versetzungin den Ruhestand zum O1.07.1985 als Beamter – Brandmeister, A7 BBO – im Dienst der Beklagten. Seitdem bezieht erVersorgungsbezüge. Die Festsetzung der Versorgungsbezüge erfolgtemit Bescheid vom 20.05.1985. In diesem Bescheid wurde der Klägerdarauf hingewiesen, dass im Fall eines RentenbezugsVersorgungsbezüge nur bis zum Erreichen der in § 55 BeamtGbezeichneten Höchstgrenze zu zahlen seien und dass dieVersorgungsbezüge nur unter dem Vorbehalt einer späterenRückzahlung des überzahlten Betrags gewährt würden. Zugleich wurdeder Kläger um Mitteilung gebeten, ob er eine Rente aus dengesetzlichen Rentenversicherungen erhalte oder zu erwarten habe.Mit Schreiben vom 22.07.1985 wurde der Kläger deswegen erneut umAuskunft gebeten. Mit Schreiben vom 23.07.1985 teilte der Klägermit, dass er keine weitere Rente erhalte, mit dem 63. Lebensjahraber aus der gesetzlichen Rentenversicherung etwas bekommen müsse,da er vor dem Beamtenverhältnis 15 Jahre lang in die gesetzlicheRentenversicherung eingezahlt habe. Mit Verfügung vom 25.07.1985ihres Personal- und Organisationsamts vermerkte die Beklagte, dassder Kläger nach seinen Angaben vom 23.07.1985 zur Zeit keine Renteaus den gesetzlichen Rentenversicherungen erhalte, „aberspäterhin unter Umständen eine zu erwarten“ habe. EineDurchschrift dieser Verfügung wurde einer anderen Abteilung zurKenntnis übermittelt, verbunden mit der Bitte um Mitteilung, sobaldder Kläger „zu einem späteren Zeitpunkt den Bezug einer Renteangibt“.

In den Jahren 1985 bis 1996 übersandte die Beklagte dem Klägerjährlich ein mit „Jahreserklärung“ überschriebenes undvom ihm auszufüllendes Formular, in dem ihm mitgeteilt wurde, dasser als Versorgungsberechtigter verpflichtet sei, jährlich eineErklärung über seine persönlichen Verhältnisse abzugeben. DerKläger gab darin jeweils wahrheitsgemäß an, keine Rente zu beziehenund bestätigte, dass ihm bekannt sei, dass er Änderungen seinerpersönlichen Verhältnisse unverzüglich gegenüber der Beklagtenanzeigen müsse und dass Überzahlungen, die durch falsche oderunvollständige Angaben entstanden seien, in voller Höhe einbehaltenwürden. Das Verfahren, die Versorgungsempfänger mittels Übersendungvon Formularen jährlich zur Abgabe von Erklärungen anzuhalten,wurde seitens der Beklagten ab dem Jahr 1997 ersatzlos eingestellt.Die Einstellung dieses Verfahrens beruhte auf einer Empfehlung derAufsichtsbehörde der Beklagten, die es nunmehr als unzweckmäßigansah. Gegenüber den Versorgungsempfängern wurde die geändertePraxis nicht erläutert.

Mit Bescheid vom 18.12.2000 wurde dem Kläger von derLandesversicherungsanstalt Hessen ab dem 01.04.2001 eine Rente inHöhe von (zunächst) 632,11 DM bewilligt. Seitdem bezieht der Klägerneben seiner Beamtenversorgung regelmäßig eine monatlicheRente.

Im Jahr 2009 kehrte die Beklagte zur Praxis der„Jahresklärungen“ zurück. Dem Kläger wurde im August2009 ein Formular übersandt, in welchem es eingangs heißt, dass dieBeklagte, um die Versorgungsbezüge korrekt festsetzen und zahlbarzu können, auf die Mithilfe der Versorgungsempfänger angewiesensei. Auf diesem Formular gab der Kläger gegenüber der Beklagtenwahrheitsgemäß an, eine Rente zu beziehen und reichte seineRentenbescheinigungen nach.

Mit an den Kläger gerichteten Bescheid vom 19.10.2009 setzte dieBeklagte die Versorgungsbezüge rückwirkend neu fest wies daraufhin, dass für den Zeitraum vom 01.04.2001 bis 31.10.2009 eineÜberzahlung entstanden sei, die nach Feststellung desÜberzahlungsbetrags zurückgefordert werden müsse. Auf dieEinzelheiten des Bescheids und des in diesem Bescheid beigefügtenRechenwerks wird verwiesen.

Mit Bescheid vom 26.04.2010 teilte die Beklagte dem Kläger unterVerweis auf den – zwischenzeitlich bestandskräftig gewordenen– Bescheid vom 19.10.2009 mit, dass die Überzahlung derVersorgungsbezüge insgesamt 11.917,10 Euro betrage und bat denKläger, sich wegen der Rückzahlung mit der Beklagten in Verbindungzu setzen.

Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mitWiderspruchsbescheid vom 04.11.2010 zurückgewiesen, unter anderemunter Hinweis darauf, dass der Kläger in den seit 2001 jährlichübersandten Abrechnungsnachweisen darauf hingewiesen worden sei,dass sich die Versorgungsbezüge im Fall des Bezugs einer Rentedurch die Anwendung von Ruhens- oder Kürzungsvorschriftenverringern könnten. Von der Rückforderung könne auch nicht inAnwendung des § 52 Abs.2 Satz 3 BeamtVG aus Billigkeitsgründenabgesehen werden. Besondere Anhaltspunkte, die für ein Absehen vonder Rückforderung sprechen könnten, seien nicht ersichtlich. Derhohe Überzahlungsbetrag sei hier vielmehr allein deswegen zustandegekommen, weil der Kläger über einen Zeitraum von acht Jahrenentgegen den in regelmäßigen Abständen erhaltenen ausdrücklichenHinweisen auf die Auswirkungen, die ein Rentenbezug auf dieVersorgungsansprüche habe, seine Anzeigepflichten grob fahrlässigverletzt habe.

Der Kläger hat am 06.12.2010 Klage erhoben. Er erhebt dieEinrede der Verjährung, beruft sich wegen des langen Zeitraums,während dem die Überzahlung erfolgte, auf Treu und Glauben undbemängelt vor allem, wie schon im Widerspruchsverfahren, das Fehleneiner adäquaten Billigkeitsentscheidung.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 26.04.2010 und den Widerspruchsbescheid vom04.11.2010 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie beruft sich darauf, dass es nach § 62 Abs.2 Nr.2 BeamtVGprimär Pflicht des Versorgungsberechtigten sei, Einkünfte, dieAuswirkungen auf seine Versorgungsbezüge haben könnten, derVersorgungsbehörde mitzuteilen. In den seit 2001 jährlich an denKläger übersandten Abrechnungsbescheinigungen sei auf dieseVerpflichtung hingewiesen worden. Demgegenüber sei dieVersorgungsbehörde nicht verpflichtet, durch eigene ErmittlungenUmstände wie das Bestehen eines Rentenanspruchs selbst zurecherchieren. Im Übrigen verweist sie auf ihre Ausführungen imWiderspruchsbescheid vom 04.11.2010.

Die Beteiligten haben sich in der mündlichen Verhandlung vom17.11.2011 mit einer Entscheidung ohne (weitere) mündlicheVerhandlung einverstanden erklärt. Wegen der sonstigen Einzelheitenwird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten, die Gegenstandder mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.

Gründe

Das Gericht konnte nach Widerruf des Vergleichs mitEinverständnis der Beteiligten ohne weitere mündliche Verhandlungentscheiden (§ 101 Abs.2 VwGO).

Die – zulässige – Klage ist begründet. Der Bescheidder Beklagten vom 26.04.2010 in der Fassung desWiderspruchsbescheids vom 04.11.2010 ist rechtswidrig und verletztden Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs.1 VwGO). SeineRechtswidrigkeit beruht allein darauf, dass die bei Rückforderungzu viel gezahlter Versorgungsbezüge gemäß § 52 Abs.2 Satz 3 BeamtVGzu treffende Billigkeitsentscheidung fehlerhaft ist. Weil dieBeklagte diese Entscheidung unter Ausübung ihres Ermessens neu zutreffen hat, hat die Fehlerhaftigkeit nicht nur eine Teilhebung,sondern die Aufhebung des angefochtenen Bescheids im Ganzen zurFolge (a. A. VGH München, B. v. 14.02.2011 - 14 B 10.567).

Zwar ist der mit Bescheid vom 26.04.2010 geltend gemachteRückforderungsanspruch verjährt, soweit er Überzahlungen betrifft,die vor dem Jahr 2008 entstanden sind (§§ 195, 199 Abs.1 Nr.2 BGB).Denn die Unkenntnis der Beklagten von dem Rentenbezug des Klägersberuhte auf grober Fahrlässigkeit, also auf einem schweren Verstoßgegen die Gebote des öffentlichen Interesses an einerordnungsgemäßen Haushaltsführung. Dieses Interesse gebietet es,Überzahlungen allein deshalb zu vermeiden, weil mangelsgesetzlicher Regelung über die Erstattung von Zinsen ein spätererRückforderungsanspruch von vornherein keine vollständigeKompensation für die Überzahlung sein kann. Nachdem der Kläger derBeklagten auf deren konkrete Nachfrage hin im Juli 1985 mitgeteilthatte, dass er eine Rentenanwartschaft besitze und wann mit demBeginn der Rentenzahlung zu rechnen sei, durfte die Beklagtedeshalb den Zeitpunkt des erwarteten Rentenbezugs nicht mehrereJahre verstreichen lassen, ohne den Kläger um Auskunft darüber zubitten, ob er eine Rente beziehe bzw. ob er die Rente nichtbeantragt oder auf sie verzichtet habe, oder ob er sich an Stelleeiner Rente eine Kapitalleistung, Beitragserstattung oder Abfindunghabe auszahlen lassen (vgl. § 55 Abs.1 Satz 3 BeamtVG). EinePflicht zur Nachfrage bestand nicht zuletzt auch deshalb, weil dieAnzeigepflicht des § 62 BeamtVG sich nur auf den Bezug von„Einkünften“ erstreckt, also etwa den Tatbestand, dassder Versorgungsempfänger die Rente nicht beantragt oder auf sieverzichtet, nicht erfasst.

Die Erhebung der Verjährungseinrede ist dem Kläger hierallerdings verwehrt. Sie stellt sich als unzulässige Rechtsausübungentsprechend § 242 BGB dar. Denn der Kläger war gemäß § 62 Abs.2Nr.2 BeamtVG verpflichtet, der Beklagten Mitteilung über den Bezugeiner Rente zu machen. Die Nichteinhaltung dieser Verpflichtung warursächlich dafür, dass die Beklagte von der Entstehung ihresErstattungsanspruchs verspätet Kenntnis erlangt hat. Dass in Fällender Nichtbeachtung gesetzlicher Anzeigepflichten die Erhebung derVerjährungseinrede durch den Leistungsempfänger als unzulässigeRechtsausübung anzusehen ist, hat das BVerwG in Bezug auf dieMeldepflicht nach § 289 Lastenausgleichsgesetz, wonach derBerechtigte alle Umstände anzeigen muss, die für den Anspruch aufKriegsschadenrente oder für seine Höhe von Bedeutung sind,entschieden (BVerwG, B. v. 08.12. 1969 - 5 B 84.69; BVerwG, B. v.20.10.1994 - 3 B 67/94). Nichts anderes kann in Bezug auf dieRückforderung überzahlter Versorgungsbezüge gelten.

Der Rückforderungsbescheid und mit ihm der Widerspruchsbescheidwaren aber deshalb aufzuheben, weil die gemäß § 52 Abs.2 Satz 3BeamtVG zu treffende Billigkeitsentscheidung unter Ermessensfehlernleidet. Die Entscheidung darüber, ob und inwieweit ausBilligkeitsgründen von der Rückforderung überzahlter Bezügeabgesehen wird oder ob Ratenzahlung oder sonstige Erleichterungenzugebilligt werden, steht im pflichtgemäßen Ermessen derzuständigen Behörde. Die zu treffende Billigkeitsentscheidung hatdie Aufgabe, eine allen Umständen des Einzelfalles gerechtwerdende, für die Behörde zumutbare und für den Bereichertentragbare Lösung zu ermöglichen. Sie soll der besonderen Lage desEinzelfalles Rechnung tragen und die formale Strenge desBeamtenrechts auflockern. Neben den wirtschaftlichen und sozialenVerhältnissen des Versorgungsempfängers ist vor allem auch derGrund für die Überzahlung zu berücksichtigen, insbesondere dieFrage eines Mitverschuldens - oder jedenfalls einer Mitverursachung- durch die Behörde.

Dem ist die Beklagte nicht gerecht geworden. Die –erstmalig im Widerspruchsbescheid aufgegriffene – Thematikeiner möglichen Unbilligkeit der Rückforderung beschränkt sich derSache nach auf die Feststellung, dass der Antragsteller schuldhaftseine Anzeigepflichten verletzt habe, dass bei schuldhafterPflichtverletzung von der Rückforderung grundsätzlich nichtabgesehen werden könne, und dass vorliegend keine besonderenAnhaltspunkte ersichtlich seien, die eine Ausnahme von diesemGrundsatz zuließen. Diese Erwägungen greifen zu kurz, weil dieBeklagte ihren eigenen Verursachungsbeitrag nicht in dieBetrachtung einstellt. Nach der Nomenklatur der Ermessensfehlerstellt dies ein Ermessensdefizit dar (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, §40 Rdn.62).

Der Mitverursachungsbeitrag der Beklagten besteht darin, dasssie die Praxis, an die Versorgungsempfänger Formulare für dieAbgabe von Jahreserklärungen zu versenden, im Jahr 1997(vorübergehend) einstellte. Die geänderte Praxis war ursächlichdafür, dass der Kläger in den Jahren 2001 bis 2008 der Beklagtenden Bezug einer Rente nicht mitgeteilt hat. Anders ausgedrückt:Hätte die Beklagte diese Praxis beibehalten, wäre es mit hoherWahrscheinlichkeit nicht zu einer Überzahlung gekommen. Dies zeigtallein die Tatsache, dass der Kläger mit Wiedereinführung dieserPraxis im Jahr 2009 den Bezug einer Rente sofort angezeigt hat. DieBeendigung der über viele Jahre geübten Praxis, denVersorgungsempfängern Formulare zur Abgabe einer Jahreserklärung zuübersenden, hat eine jedenfalls im Rahmen derBilligkeitsentscheidung zu beachtende normative Wirkung. Zwar stehtes im Ermessen der Versorgungsbehörden, zu entscheiden, welcheorganisatorischen und prozeduralen Maßnahmen sie ergreifen, umsicherzustellen, dass es nicht zu Überzahlungen kommt. Insbesonderegibt es keine explizite Verpflichtung, den jeweils aktuellen Statusder Versorgungsempfänger mittels sogenannter Jahreserklärungenabzufragen. Entscheidet sich eine Behörde aber, wofür es guteGründe gibt, für ein solches Verfahren und behält sie es übermehrere Jahre bei, entsteht eine Übung, die gegenüber demVersorgungsempfänger nur um den Preis kommentarlos beendet werdenkann, dass im Fall der Rückforderung überzahlter Bezüge dieEinstellung dieser Praxis gegebenenfalls als Verursachungsbeitragim Rahmen der Billigkeitsentscheidung zu würdigen ist. Dabei istauch zu beachten, dass die Versendung vonAbrechnungsbescheinigungen in den Jahren 2001 bis 2008 kein derJahreserklärung adäquates Vergewisserungsverfahren war. DieAbrechnungsbescheinigungen entfalteten nicht einmal eineausreichende Hinweisfunktion, weil es zur Lektüre der am unterenRand der Bescheinigung gedruckten Ausführungen zur Gesetzeslage beieiner Buchstabengröße von 1 -1,5 mm buchstäblich einer Lupebedurfte.

Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen, weil sieunterlegen ist (§ 154 Abs.1 VwGO). Die Zuziehung einesBevollmächtigten im Vorverfahren war gemäß § 80 Abs. 2 HVwVfG fürnotwendig zu erklären, weil es in Anbetracht des beträchtlichenRückforderungsbetrages und der nicht einfachen Rechtslage dem nichtrechtskundigen Kläger nicht zuzumuten war, dasWiderspruchsverfahren selbst zu führen. Die Entscheidung über dieVollstreckbarkeit beruht auf §§ 167 VwGO, 708 Nr.11, 711 ZPO.