VG Frankfurt am Main, Beschluss vom 11.11.2011 - 9 L 3208/11.F
Fundstelle
openJur 2012, 35306
  • Rkr:
Tenor

Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnungaufgegeben, die Antragstellerin wieder in dem familiengerichtlichenDezernat, Abteilung 460, einzusetzen, in dem die Antragstellerinvor der Zuweisung des Dezernats Abteilung 31 RGA 23 (früherRichterin X) eingesetzt war.

Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen.

Der Streitwert wird auf 5.000,- € festgesetzt.

Gründe

Das Begehren der Antragstellerin richtet sich auf dieeinstweilige Rückgängigmachung des am 21. September 2011getroffenen Beschusses des Antragsgegners, mit dem dieAntragstellerin aus dem ihr bisher übertragenenfamiliengerichtlichen Dezernat herausgenommen wurde, indem ihrstattdessen mit Wirkung zum 10. Oktober 2011 ein zivilgerichtlichesDezernat neu übertragen wurde.

Dieses Begehren ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligenAnordnung nach §123 Abs. 1 S. 2 VwGO zulässig und hat auch Erfolg,da die Antragstellerin sowohl einen Anordnungsgrund wie auch einenAnordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920Abs. 2 ZPO).

Die Eilbedürftigkeit ergibt sich daraus, dass dieAntragstellerin ohne die gerichtliche Entscheidung den Zustandaufgrund einer rechtswidrigen Umsetzung für längere Zeit hinnehmenmüsste und dieser Zustand rückwirkend nicht korrigiert werden kann,da insoweit lediglich für die Zukunft Abhilfe geschaffen werdenkann. Dies würde zu einem Leerlauf des Anspruchs derAntragstellerin führen, dass ihr Dienstgeschäfte nur infehlerfreier Ausübung des Ermessens entzogen und zugewiesenwerden.

Der Anordnungsanspruch folgt daraus, dass der Beschluss desPräsidiums zur Änderung des dienstlichen Aufgabenbereichs derAntragstellerin ermessensfehlerhaft ist. Es ist in derbeamtenrechtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass eineermessensfehlerhafte und damit rechtswidrige Umsetzung auf Antragdes/der Betroffenen rückgängig zu machen ist, indem eineRückumsetzung in das frühere Arbeitsgebiet erfolgt. So verhält essich auch im Richterdienstrecht, da insoweit keinerichterrechtlichen Besonderheiten bestehen, die eine Abweichung vondiesem Grundsatz erfordern. Auch Richter/innen haben einen Anspruchdarauf, frei von Ermessensfehlern dienstlich eingesetzt zu werden.Der Umstand, dass der dienstliche Einsatz innerhalb eines Gerichtsnicht vom Präsidenten oder einem höheren Dienstvorgesetzten,sondern vom Präsidium als Organ richterlicher Selbstverwaltunggeregelt wird, ändert daran nichts.

Der Antragsgegner verfügt über ein weites Ermessen, wie die aneinem Gericht tätigen Richter/innen eingesetzt werden, welcheAufgaben ihnen im Rahmen der Geschäftsverteilung zugewiesen werden,sofern die sich aus dem Recht auf amtsangemessene Beschäftigungergebenden Grenzen beachtet werden. Dieses Ermessen ist in ersterLinie daran auszurichten, dass die bei einem Gericht anfallendenrichterlichen Geschäfte im Interesse der Rechtsschutzsuchendenmöglichst gut in sachlicher und zeitlicher Hinsicht bearbeitet undeinem Ergebnis zugeführt werden. Dies ergibt sich schon daraus,dass die Ausübung der rechtsprechenden Gewalt den Richtern undRichterinnen lediglich anvertraut ist (Art. 92 GG), diese alsotreuhänderisch für die Allgemeinheit und in ihrem wohlverstandenenInteresse tätig zu sein haben.

Ungeachtet dessen sind für die Durchführung dieserOrganisationsaufgabe auch die einzelne Richter/innen in ihremDienstverhältnis schützenden Individualregelungen zu beachten. Zuihnen gehört § 84 Abs. 2 SGB IX. Er gilt für alle Beschäftigtenohne Rücksicht auf ihren arbeits- oder dienstrechtlichen Status undohne Rücksicht darauf, ob eine Behinderung bereits vorliegt oderlediglich ihr möglicher künftiger Eintritt im Bereich des Möglichenliegt (BAG U. v. 17.7.2007 – 2 AZR 716/06 – juris Rn.35; 24.3.2011 – 2 AZR 170/10 – juris Rn. 19; BVerwG B.v. 23.6.2010 – 6 P 8.09 – juris Rn. 14; Kammer U. v.29.2.2008 – 9 E 941/07(V) – AGG-ES B.II.9 § 42 BBG Nr.1 m. w. N.). § 84 Abs. 2 SGB IX verpflichtet den Arbeitgeber, d. h.hier den Dienstherrn der Antragstellerin. Im Bereich desRichterdienstrechts sind vom Geltungsbereich erfasst einerseits dieDienstvorgesetzten der Antragstellerin, andererseits dieDienstherrnbefugnisse im Rahmen der richterlichen Selbstverwaltungausübenden Präsidien der Gerichte. Diegerichtsverfassungsrechtliche Aufspaltung der Dienstherrnbefugnisseführt nicht dazu, dass sich der Anspruch der Richter/innen aufEinleitung und Durchführung des in § 84 Abs. 2 SGB IX vorgesehenenVerfahrens auf die Dienstvorgesetzten beschränken würde und diePräsidien insoweit ohne Rücksicht auf das dort vorgeseheneVerfahren entscheiden dürften.

Der Antragsgegner hat sich ausweislich der Antragserwiderung beiseiner Beschlussfassung im September 2011 auf den Standpunktgestellt, § 84 Abs. 2 SGB IX sei gegenüber der Antragstellerinschon deshalb nicht anzuwenden, weil sie nicht zum Kreis derSchwerbehinderten gehöre. Daraus leitet der Antragsgegner ab, dieAntragstellerin könne sich hinsichtlich ihrer Behandlung nicht miteiner Kollegin vergleichen, der als Schwerbehinderter im Rahmeneines Verfahrens nach § 84 Abs. 2 SGB IX Erleichterungen im Bereichder richterlichen Geschäftsverteilung zuteil geworden seien.

Die Voraussetzungen für ein Verfahren nach § 84 Abs. 2 SGB IXlagen jedenfalls im Zeitpunkt der Entscheidung des Antragsgegnerszur Änderung der Geschäftsverteilung vor, da die Antragstellerininsgesamt mehr als 6 Wochen, nämlich 6,5 Wochen, arbeitsunfähig warund in den entsprechenden zurückliegenden Zeiträumen keinen Dienstversehen hatte.

Die Ermessensentscheidung des Antragsgegners zurDezernatsänderung bei der Antragstellerin beruht damit auf einerErmessensunterschreitung, da die besonderen Handlungsmöglichkeiten,die § 84 Abs. 2 SGB IX eröffnet, nicht in den Blick genommen wurdenund damit für die streitige Entscheidung keine Rolle spielenkonnten. Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten zur Gestaltungder Geschäftsverteilung lässt sich nicht sagen, die gegenüber derAntragstellerin getroffene Entscheidung sei alternativlos gewesen.Dies zeigt schon das gegenüber einer schwerbehindertenFamilienrichterin gegenüber eingeschlagene Verfahren, das sich vondem Verfahren gegenüber der Antragstellerin unterscheidet.

Wenn der Antragsgegner im Schriftsatz vom 9.11.2011 durch seinenPräsidenten geltend macht, dieser habe schon im Juni 2011 ein sog.Wiedereingliederungsgespräch geführt, kann dies schon deshalb nichtüberzeugen, weil zuvor die Auffassung vertreten wurde, diesesGespräch sei jedenfalls nicht mit Bezug auf § 84 Abs. 2 SGB IXgeführt worden, da die Regelung für die Antragstellerin gar nichtgelte. Entsprechendes gilt für das mit der Antragstellerin nach derBeschlussfassung geführte Personalgespräch. § 84 Abs. 2 SGB IXsieht vor, dass an dem durch diese Regelung vorgegebenen Verfahrenmit Zustimmung der Betroffenen auch die betrieblicheInteressenvertretung zu beteiligen ist. Der Verweis auf § 93 SGB IXmacht deutlich, dass hier der Richterrat des Amtsgerichts zubeteiligen gewesen wäre. Ein Versuch, ihn zu beteiligen, istersichtlich nicht gemacht worden. Auch ist die Antragstellerininsoweit nicht darum angegangen worden, ob sie der Einschaltung derInteressenvertretung zwecks Behandlung der aufgetretenen Problemezustimmt. Ferner ist die mögliche Einschaltung sonstiger Stellenwie insbesondere der im Gesetz genannten Servicestellen nichterwogen worden.

Das Verfahren nach § 84 Abs. 2 SGB IX ist von Amts wegeneinzuleiten und durchzuführen, soweit dem nicht die verweigerteZustimmung des/der Betroffenen entgegensteht. Zur entsprechendenAnfrage gegenüber der Antragstellerin ist es hier jedoch –aufgrund des abweichenden Rechtsstandpunkts folgerichtig –gar nicht erst gekommen.

Die Einleitung und Durchführung des Verfahrens nach § 84 Abs. 2SGB IX liegt auch im wohlverstandenen Interesse des Dienstherrnselbst, um weitere krankheitsbedingte Arbeitsausfälle möglichst zuverhindern und damit einen besseren Arbeitsablauf zu gewährleisten.Davon abgesehen konkretisiert die Regelung die allgemeineFürsorgepflicht (§ 45 BeamtStG i. V. m. § 71 DRiG).

Zur Vermeidung weiterer Rechtsstreitigkeiten sei allerdingsdarauf hingewiesen, dass sich aus der Fürsorgepflicht auch unterBerücksichtigung der Ereignisse des Jahres 1997 kein Anspruch derAntragstellerin ergeben kann, ausschließlich in einemfamiliengerichtlichen Dezernat eingesetzt zu werden, von derZuweisung in ein zivil- oder strafrechtliches Dezernat„verschont“ zu bleiben. Insoweit ist der Antragsgegnervielmehr frei in der Ausübung seines Organisationsermessens.Beschränkungen ergeben sich über § 84 Abs. 2 SGB IX jedochinsoweit, wie im Rahmen bestehender Möglichkeiten und unterBerücksichtigung konstruktiver Mitarbeit der Betroffenen einArbeitsfeld und Arbeitsbedingungen gefunden werden, die geeignetsein können, eine vorzeitige Beendigung des Dienstverhältnisses ausgesundheitlichen Gründen zu vermeiden.

Da der Antragsgegner unterliegt, hat er nach § 154 Abs. 1 VwGOdie Verfahrenskosten zu tragen.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 3 Nr. 1, § 52Abs. 2 GKG. Da die Entscheidung die Hauptsache vorweg nimmt, istkein Abschlag im Hinblick auf ihre Vorläufigkeit vorzunehmen.

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