Hessisches LAG, Beschluss vom 14.01.2010 - 9 TaBVGa 229/09
Fundstelle
openJur 2012, 32536
  • Rkr:
Tenor

Auf die Beschwerde der Beteiligten zu 2) wird der Beschluss desArbeitsgerichts Wiesbaden vom 20. Oktober 2009 - 9 BVGa 4/09 -teilweise abgeändert.

Der Antrag des Beteiligten zu 1), der Arbeitgeberin aufzugeben,ihm einen Auslagenvorschuss zur Verfügung zu stellen, wirdzurückgewiesen.

Im Übrigen wird die Beschwerde der Beteiligten zu 2)zurückgewiesen.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten um die Erforderlichkeit einer Schulung der Vertrauensperson der Schwerbehindertenvertretung. Von einer Sachdarstellung wird gemäß §§ 87 Abs. 2, 64 Abs. 6 ArbGG, 525 ZPO, 313 a Abs. 1 ZPO abgesehen, da gegen diesen Beschluss unzweifelhaft kein Rechtsmittel gegeben ist. Das Arbeitsgericht Wiesbaden hat die Beteiligte zu 2) durch Beschluss vom 20. Okt. 2009 – 9 BVGa 4/09 – im Wege der einstweiligen Verfügung verpflichtet, den Antragsteller für die Schulungsveranstaltungen von der Arbeitspflicht freizustellen und ihm einen Auslagenvorschuss in Höhe von EUR 1.600 zzgl. je EUR 210,- für Unterkunft und Verpflegung für jedes der vier zweitägigen Seminarteile zur Verfügung zu stellen. Bezüglich des Antrages auf Verpflichtung zur Freistellung unter Fortzahlung der Vergütung hat es die Anträge zurückgewiesen. Wegen der Begründung wird auf die Beschlussgründe Bezug genommen. Die Arbeitgeberin beantragt mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten Beschwerde die Abänderung des angefochtenen Beschlusses und die Zurückweisung der Anträge. Sie rügt, Tatsachen für die Notwendigkeit der Schulungsveranstaltungen habe der Schwerbehindertenvertreter nicht glaubhaft gemacht. Was die Beteiligung am Wiedereingliederungsmanagement betreffe, behaupte der Schwerbehindertenvertreter selbst nicht, dass bei ihr schwerbehinderte Arbeitnehmer mit psychischen Erkrankungen beschäftigt seien. Abgesehen davon bestünde kein Verfügungsgrund. Der Schwerbehindertenvertreter verteidigt den angefochtenen Beschluss und verweist auf seine präventiven Verpflichtungen.

Wegen der Einzelheiten des Beschwerdevorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der Beschwerdeschriftsätze und den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 14. Jan. 2010 verwiesen.

Hinsichtlich der Freistellung von der Arbeitspflicht für die beiden ersten, bereits stattgefundenen Seminarteile haben die Beteiligten das Verfahren übereinstimmend für erledigt erklärt und wurde das Verfahren vom Beschwerdegericht eingestellt.

II.

Die Beschwerde ist statthaft, § 87 Abs. 1 ArbGG, und zulässig, da sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden ist, §§ 87 Abs. 2 Satz 1, 66 Abs. 1 Satz 1, 89 Abs. 1 und 2 ArbGG. Die Beschwerde hat jedoch in der Sache überwiegend keinen Erfolg.

Hinsichtlich der Anträge auf Freistellung von der Arbeitspflicht ist noch über die für die Seminarteile vom 4. / 5. März und 9. / 10. Juni 2010 beantragte Freistellung von der Arbeitspflicht zu entscheiden. Soweit der Schwerbehindertenvertreter erstinstanzlich beantragt hatte, ihn unter Fortzahlung der Vergütung freizustellen, hat das Arbeitsgericht den Antrag zurückgewiesen. Diese Teilabweisung ist rechtskräftig geworden. Die Erledigungserklärung konnte sich dementsprechend auf die begehrte Fortzahlung der Vergütung nicht mehr beziehen.

Die Beteiligte zu 2) ist, wie das Arbeitsgericht zutreffend erkannt hat, verpflichtet, den Beteiligten zu 1) in der Zeit vom 4. und 5. März sowie vom 9. und 10. Juni 2010 für die Schulungsveranstaltungen „Wenn ich mit meinem Latein am Ende bin – Umgang mit psychisch kranken Menschen, Teil 3 und 4, des Veranstalters A e.V. von der Verpflichtung zur Arbeit freizustellen. Die Angriffe der Beschwerde führen nicht zu einer anderen Beurteilung. Auf die Freistellung für die Teilnahme an Schulungen von Schwerbehindertenvertretern nach § 96 Abs. 4 Satz 3 SGB IX gerichtete einstweilige Verfügungen sind zulässig, weil gemäß §§ 85 Abs. 2 ArbGG, 935, 940 ZPO auch im Beschlussverfahren dem Verfassungsgebot eines effektiven Rechtsschutzes mit der Möglichkeit des Erlasses einer einstweiligen Verfügung Rechnung zu tragen ist. Eine Befriedigungsverfügung ist trotz ihrer nicht nur sichernden, sondern befriedigenden Wirkung und der damit verbundenen Vorwegnahme der Entscheidung im Hauptsacheverfahren ausnahmsweise zulässig, wenn sie zur Erfüllung des rechtsstaatlichen Justizgewährungsanspruchs auf effektiven Rechtsschutz erforderlich ist. Entscheidend für die Zulässigkeit einer Befriedigungsverfügung ist in den Fällen der Dringlichkeit wegen der Gefahr eines irreversiblen Rechtsverlustes eine Abwägung der Interessen der Beteiligten im jeweils gegebenen Einzelfall, zumal gemäß § 85 Abs. 2 Satz 2 ArbGG Schadensersatzansprüche nach § 945 ZPO hier ausscheiden. Das Interesse des Schwerbehindertenvertreters an einer Befriedigungsverfügung ist darin zu sehen, dass die Schulung, sofern sie dringlich ist, zeitnah und nicht erst nach Durchführung des Hauptsacheverfahrens vielleicht in 12 oder 18 Monaten stattfindet. Er läuft Gefahr, für die Dauer der Schulung keine Vergütung zu bekommen und die Kosten für die Unterbringung und die Fahrtkosten tragen zu müssen. Das Interesse des Arbeitgebers liegt darin, dass nicht im Eilverfahren ohne hinreichend sichere Feststellung der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Schulung endgültige und irreparable Zustände geschaffen werden, denn die Verpflichtung zur Freistellung nach § 96 Abs. 4 Satz 3 SGB IX schafft die Grundlage für den Vergütungsanspruch ohne Erfüllung der Arbeitsleistung. Die Freistellung nach diesen Vorschriften lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Bei Streit über die Teilnahme an der Schulungsmaßnahme ist in dieser Situation eine einstweilige Verfügung geboten, wenn die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Schulung glaubhaft gemacht sind und die Schulungsteilnahme dringend ist. Für den Schwerbehindertenvertreter besteht dann ein hohes Maß an Rechtssicherheit, dass die Schulungsteilnahme rechtmäßig ist und eine Sanktion nicht zu befürchten ist (zutreffend U. Fischer AiB 2005, 90). Es besteht dann zwar keine Rechtssicherheit für das Hauptsacheverfahren, aber eine große Wahrscheinlichkeit (U. Fischer a.a.O.). Darauf, ob es einer Zustimmung oder Freistellungserklärung nicht bedarf, kommt es vor diesem Hintergrund nicht an (für Betriebsratsschulungen Hess. LAG Beschluss vom 18. Juni 2009 – 9 TaBVGa 107/09 – nicht veröffentl.; Hess. LAG Beschluss vom 19. Aug. 2004 - 9 TaBVGa 114/04 – Juris). Einen Verfügungsgrund hat das Arbeitsgericht angesichts des kurz bevorstehenden dritten Seminarteils und des demnächst stattfindenden vierten Seminarteils ebenfalls zutreffend bejaht.

Die vierteilige Veranstaltung „Wenn ich mit meinem Latein am Ende bin – Umgang mit psychisch kranken Menschen“ des Veranstalters A e.V. ist erforderlich im Sinne des § 96 Abs. 4 Satz 3 SGB IX. Der Schwerbehindertenvertreter ist seit 27. Nov. 2008 im Amt, seit 17. Nov. 2006 war er stellvertretender Schwerbehindertenvertreter. Am Standort B sind regelmäßig 20 schwerbehinderte Mitarbeiter beschäftigt, im deutschen Konzern etwa 80. Der Antragsteller ist seit November 2008 Verhandlungsführer aller fünf Schwerbehindertenvertretungen sowie der Gesamtbetriebsräte für die Einführung einer konzernweiten Integrationsvereinbarung für schwerbehinderte Mitarbeiter. Der Schwerbehindertenvertreter hat durch seine eidesstattliche Versicherung vom 15. Okt. 2009 (Bl. 21 ff d. A.) glaubhaft gemacht, dass er im Rahmen seiner Tätigkeit als Schwerbehindertenvertreter regelmäßig mit Kolleginnen und Kollegen mit psychischen Störungen konfrontiert werde. Viele Kollegen und Kolleginnen wendeten sich nicht gern an den Betriebsarzt auch aus Angst, das Unternehmen könne etwas erfahren. Fakt ist, dass psychische Erkrankungen in den Betrieben zunehmen. Nach einer die Jahresberichte der Krankenkassen auswertenden Studie der Bundestherapeutenkammer aus dem Jahre 2010 sind Arbeitnehmer in Deutschland immer häufiger aufgrund von psychischen Erkrankungen arbeitsunfähig. Alle gesetzlichen Krankenkassen verzeichnen einen kontinuierlichen Anstieg des Anteils der Arbeitsunfähigkeitstage durch psychische Erkrankungen seit dem Jahr 2000. Psychische Erkrankungen sind für die Kassen vor allem aufgrund der Länge der Krankschreibung von Relevanz (ca. drei bis sechs Wochen im Vergleich zu durchschnittlich sechs bis sieben Tagen bei Erkrankungen des Atmungs- oder Verdauungssystems). Seit 1990 haben sich die Krankschreibungen verdoppelt. Mittlerweile gehen knapp elf Prozent aller Fehltage auf psychische Erkrankungen zurück, heißt es in dieser Studie. Grund ist danach zum einen, dass psychische Krankheiten von den Ärzten heute eher erkannt werden als früher. Zum anderen ist die Zunahme auf die spezifischen Belastungen in der modernen Arbeitswelt zurückzuführen. Veränderungen der Arbeitswelt in den letzten Jahren in Richtung wissensintensiver Dienstleistungsberufe mit Erhöhung von Zeitdruck und Komplexität der Aufgaben und einer parallel erfolgenden Abnahme von Arbeitsplatzsicherheit können zumindest teilweise die Häufung von Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen erklären. Gefordert wird eine wirksame Prävention in den Betrieben. Die Arbeitsbedingungen müssten so gestaltet werden, dass das Arbeitsstakkato und Überforderung vermieden werden. In diese Prävention ist der Schwerbehindertenvertreter im Rahmen seiner Betreuungsaufgaben und Beratungstätigkeit eingeschaltet. Nach § 93 SGB IX fördert er die Eingliederung der schwerbehinderten Menschen und achtet darauf, dass die dem Arbeitgeber nach §§ 81 bis 84 SGB IX obliegenden Pflichten erfüllt werden. Hinzukommt, dass der Schwerbehindertenvertreter Verhandlungsführer aller fünf Schwerbehindertenvertreter für die Einführung einer konzernweiten Integrationsvereinbarung für schwerbehinderte Menschen und hinsichtlich der schwerbehinderten Menschen am betrieblichen Wiedereingliederungsmanagement nach § 84 Abs. 1 SGB IX beteiligt ist. Die Schulung ist nach Seminarprogramm (Bl. 26 d. A.) geeignet. Es heißt dort:

„Schwerbehindertenvertretungen..., die in ihren Grenzen zuständig sind, sich für die Belange der psychisch erkrankten Beschäftigten einzusetzen, fühlen sich häufig verunsichert und einem besonderen Druck ausgesetzt. Oft stoßen sie im Umgang mit psychisch Kranken an ihre Grenzen. Das Seminar will helfen, diesen Druck zu mindern und Schwerbehindertenvertretungen…konkrete an ihrer Praxis orientierte und zielgerichtete Hilfestellungen zu geben.“

Nach der weiteren Seminarbeschreibung (Bl. 123, 124 d. A.) geht es in dem Seminar darum, den Blick zu schärfen für psychische Auffälligkeiten (Symptome), Berührungsängste im Kontakt und Umgang zu überwinden und zu üben und zu lernen mit psychisch auffälligen oder erkrankten Mitarbeitern angemessen umzugehen und zu kommunizieren. Ein weiterer Schwerpunkt der Seminarreihe ist – unter Hinweis auf die Selbstmordwelle bei C - die Krisenintervention und die damit einhergehende Suizid-Prophylaxe.

Eine Schulung nach § 96 Abs. 4 Satz 3 SGB IX muss keine spezifische behindertenbezogene Thematik zum Inhalt haben. Es wird zwar zum Teil vertreten (vgl. ArbG Hamburg Urteil vom 6. November 2003 - 4 Ca 320/03 - ArbuR 2004, 197 = Juris), erforderlich seien nur solche Tagungen, auf denen spezielle Kenntnisse des Schwerbehindertenrechts und der Tätigkeit von Vertrauensleuten besprochen würden, nicht aber allgemeine Veranstaltungen etwa für Betriebs- und Personalräte, auch wenn dabei die Aufgaben dieser Betriebs- und Personalräte gegenüber den Schwerbehinderten mitbehandelt würden. Für den Vertrauensmann bzw. den Stellvertreter seien andere Kenntnisse erforderlich als für Betriebs- und Personalräte. § 96 Abs. 4 Satz 3 SGB IX verlangt indessen die Vermittlung von Kenntnissen, die für die Arbeit der Schwerbehindertenvertretung erforderlich ist. Erforderlich ist die Teilnahme, wenn die Vertrauensperson die auf der Veranstaltung vermittelten Kenntnisse unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Betrieb sofort oder demnächst benötigt, um ihre Aufgaben sachgerecht wahrnehmen zu können. Das vermittelte Wissen muss sich unmittelbar auf die Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung gemäß § 95 SGB IX auswirken (Hauck/Noftz-Masuch, SGB IX, K § 96 Rz. 30; Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX, 2. Aufl., § 96 Rz. 25, 26). Es kommt mithin darauf an, ob sich die Thematik den Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung nach § 95 SGB IX zuordnen lässt. Diese vertritt die Interessen schwerbehinderter Menschen im Betrieb (Abs. 1), sie steht ihnen beratend und helfend zur Seite und sie wacht darüber, dass die Pflichten gemäß §§ 81 bis 84 SGB IX erfüllt werden (vgl. § 81 Abs. 2 Nr. 1: Benachteiligungsverbot).

Die Erforderlichkeit kann nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass der Betriebsmediziner Dr. D vertiefte Kenntnisse in den Bereichen Psychologie und Psychiatrie hat und dass er bereits von Mitarbeitern mit psychischen Erkrankungen ins Vertrauen gezogen wurde. Durch das Seminar soll der Schwerbehindertenvertreter ja nicht ärztliche Funktionen übernehmen können, sondern eine Art Brückenfunktion mit Beratungstätigkeit und der Motivierung für eine Behandlung ausfüllen.

Anhaltspunkte, wonach die vierteilige Veranstaltung „Wenn ich mit meinem Latein am Ende bin – Umgang mit psychisch kranken Menschen“ des Veranstalters A e.V. nicht verhältnismäßig ist, ergeben sich nicht. Die Gesamt-Seminarpauschale beträgt EUR 1.600 zzgl. EUR 210,- pro Seminarteil für Unterkunft und Verpflegung und hält sich damit im üblichen Kostenrahmen für derartige Seminare. Ortsnähere gleichwertige Seminare sind nicht bekannt geworden.

Die Beschwerde hat allerdings Erfolg, soweit das Arbeitsgericht dem Schwerbehindertenvertreter den von ihm beantragten Vorschuss zuerkannt hat. Die Beschwerdekammer hat im Beschluss vom 19. Aug. 2004 (- 9 TaBVGa 114/04 – Juris) hinsichtlich der gleichgelagerten Problematik einer Betriebsratsschulung entschieden, dass der Anspruch nach § 37 Abs. 6 in Verbindung mit § 37 Abs. 2 BetrVG darauf gerichtet ist, das Betriebsratsmitglied nach diesen Vorschriften von der Arbeitspflicht freizustellen. Eine einstweilige Verfügung auf Kostenübernahme ist nur denkbar, wenn das Betriebsratsmitglied glaubhaft macht, dass es die Schulungskosten nicht selbst bestreiten kann (ebenso U. Fischer a.a.O.). Das ist hier nicht vorgetragen.

Diese Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei, § 2 Abs. 2 GKG.

Ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung ist nicht gegeben, § 92 Abs. 1 Satz 3 ArbGG in Verbindung mit § 85 Abs. 2 ArbGG.