Hessischer VGH, Beschluss vom 13.06.1997 - 7 TZ 1796/97
Fundstelle
openJur 2012, 21391
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Gründe

Der nach § 146 Abs. 5 VwGO zulässige Antrag auf Zulassung der Beschwerde hat Erfolg, weil ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Beschlusses, der übrigens von einem im Beschlußeingang nicht aufgeführten Richter mitunterzeichnet ist, bestehen (§ 146 Abs. 4 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung sind dann anzunehmen, wenn nach der im Zulassungsverfahren allein möglichen summarischen Prüfung der vom Antragsteller dargelegten Umstände der Erfolg des Rechtsmittels wahrscheinlicher ist als der Mißerfolg (Hess. VGH, Be. v. 04.04.1997 - 12 TZ 1079/97 - u. v. 30.04.1997 - 7 TZ 1178/97 -). Diese Überzeugung hat der Senat aufgrund des Vorbringens der Antragsteller gewinnen können.

Es spricht nämlich vieles dafür, daß die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die ausländerbehördliche Verfügung des Antragsgegners vom 25. November 1996 schon deshalb hinsichtlich der Rücknahme der Aufenthaltsbefugnisse wiederhergestellt und hinsichtlich der Abschiebungsandrohungen angeordnet werden muß, weil es sich bei den den Antragstellern unter dem 8. August 1996 erteilten Aufenthaltsbefugnissen wahrscheinlich um rechtmäßige und nicht um - was § 48 Abs. 1 Satz 1 HVwVfG voraussetzt - rechtswidrige Verwaltungsakte handelt. Rechtmäßig sind die seinerzeit erteilten Aufenthaltsbefugnisse dann, wenn die Antragsteller zu dem von der "Härtefallregelung für ausländische Familien und Alleinstehende mit langjährigem Aufenthalt", die vom Hessischen Ministerium des Innern und für Landwirtschaft, Forsten und Naturschutz auf der Grundlage des Beschlusses der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 29. März 1996 gemäß § 32 AuslG im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern durch Erlaß vom 12. April 1996 (StAnz. 1996, S. 1579) angeordnet worden ist, erfaßten Personenkreis gehören. Der Antragsteller zu 1) ist vor dem für Personen mit minderjährigen Kindern maßgeblichen Stichtag, dem 1. Juli 1990, eingereist, die Antragsteller zu 2) bis 4) sind später eingereist, und der Antragsteller zu 5) ist am 28. Februar 1992 im Bundesgebiet geboren. Bei dem Antragsteller zu 1) handelt es sich demnach um einen vor dem Stichtag eingereisten Ausländer, der mit dem seit seiner Geburt im Bundesgebiet aufenthältlichen minderjährigen Antragsteller zu 5) in häuslicher Gemeinschaft lebt; die nach dem Wortlaut des Abschnitts "Personenkreis", Abs. 1, Satz 2, der Härtefallregelung erforderlichen Voraussetzungen sind also erfüllt. Hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein - wie der vom Hessischen Ministerium des Innern und für Landwirtschaft, Forsten und Naturschutz durch Erlaß vom 29. August 1996 - II A 43 (B) - 23 d - zur Rücknahme der Aufenthaltsbefugnisse angewiesene Antragsgegner meint - zusätzliches Erfordernis des Inhalts, daß mindestens zwei Familienangehörige vor dem Stichtag eingereist sein müssen, sind Wortlaut, Systematik und Zielsetzung der Härtefallregelung, die wegen ihres rechtssatzvertretenden Charakters entsprechend klar und bestimmt gefaßt sein muß (vgl. VGH Baden-Württemberg, U. v. 17.02.1993 - 11 S 1451/93 -, NVwZ 1994, 400, u. OVG Nordrhein-Westfalen, B. v. 13.07.1994 - 17 B 2830/93 -, EZAR 015 Nr. 5; ferner Hess. VGH, B. v. 27.07.1995 - 12 TG 2342/95 -, ESVGH 45, 298 = InfAuslR 1996, 116), nicht zu entnehmen.

Für eine dahingehende sprachliche Auslegung können insbesondere nicht die im vorgenannten Absatz der Härtefallregelung eingangs erfolgte Erwähnung von "Asylbewerberfamilien" und der im anschließenden Konditionalsatz verwendete Plural angeführt werden; denn in bezug auf Vertriebenenbewerber ist gerade nicht von Familien die Rede (obwohl dies, etwa durch Einfügung der Worte "Familien von" vor "abgelehnten Vertriebenenbewerbern", unschwer möglich gewesen wäre), und der Plural im Konditionalsatz ist notwendig wegen des im vorausgegangenen Hauptsatz benutzten gleichen Numerus bei beiden relevanten Personengruppen und (zudem) wegen deren sprachlicher Zusammenfassung. Demgegenüber spricht die Verwendung des Singular in Satz 2 des betreffenden Absatzes ("der Ausländer") deutlich gegen das vom Antragsgegner bezeichnete zusätzliche Erfordernis.

Aus der Erwähnung von "Familien" im Betreff des Erlasses und aus der abweichenden Stichtagsregelung für alleinstehende Personen und Ehegatten ohne Kinder kann der Antragsgegner ebenfalls nichts für seine Auffassung herleiten. Denn im Betreff stehen Alleinstehende gleichrangig neben Familien, und der frühere Stichtag gilt gerade für Personen ohne Kinder und vermag deshalb für die Auslegung der Behandlung von Personen mit Kindern nichts wesentliches herzugeben. Demgegenüber deuten die ausdrückliche Anführung von "Alleinstehende(n) mit kleinen Kindern" im Abschnitt "Voraussetzungen und Form der Aufenthaltsgewährung", Buchstabe a), 3. Spiegelstrich, und die Regelung in Satz 1 des Abschnitts "Familiennachzug" eher darauf hin, daß auch ein vor dem Stichtag allein eingereister Ehegatte wie der Antragsteller zu 1) bei späterer Geburt eines Kindes im Bundesgebiet, jedenfalls wenn diese vor Erlaß der Härtefallregelung erfolgt ist, von dieser erfaßt wird. Gleiches gilt für Ziffer 1 Satz 1 der mit unveröffentlichtem Erlaß des Hessischen Ministeriums des Innern und für Landwirtschaft, Forsten und Naturschutz vom 19. Juli 1996 - II A 4 - 23 d - gegebenen Auslegungshinweise zur Härtefallregelung, wonach der begünstigte Personenkreis sowohl Ehepaare als auch Alleinstehende mit mindestens einem minderjährigen Kind umfaßt; Satz 2 dieses Hinweises betrifft dann allerdings - entgegen dem bereits weiter oben zitierten Erlaß vom 29. August 1996 - nur den Fall der Einreise des anderen Elternteils oder weiterer minderjähriger Kinder nach dem Stichtag, nicht hingegen den - hier einschlägigen - Fall der Geburt eines minderjährigen Kindes im Bundesgebiet.

Sinn und Zweck der Härtefallregelung gebieten ebenfalls nicht die vom Antragsgegner vertretene Auslegung. Auszugehen ist mit Blick auf Abschnitt II des Beschlusses der ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 29. März 1996 davon, daß die Regelung darauf abzielt, Personen mit langjährigem Aufenthalt, die faktisch integriert sind, ein Bleiberecht zu gewähren. Die dabei eingeführten unterschiedlichen Stichtage stellen auf das Vorhandensein minderjähriger Kinder ab, haben also offensichtlich das besonders schutzwürdige Vertrauen dieser Personengruppe im Blick. Dabei werden im Bundesgebiet geborene Kinder ersichtlich als in gleicher Weise schutzwürdig angesehen wie vor dem Stichtag eingereiste Minderjährige. Dies erscheint auch vor dem Hintergrund als nachvollziehbar, daß hier geborene Kinder zum Herkunftsland ihrer Eltern meist keine unmittelbare eigene Beziehung haben und - jedenfalls mit zunehmendem Alter - regelmäßig nahezu ausschließlich in den hiesigen Lebensverhältnissen verwurzelt sind. In Anbetracht dessen besteht auch für eine einschränkende Auslegung des Abschnitts "Personenkreis", Abs. 1, Satz 2, der Härtefallregelung dahingehend, daß die der Einreise vor dem 1. Juli 1990 gleichgestellte Geburt ebenfalls vor diesem Stichtag erfolgt sein müsse (so aber VG Gießen, B. v. 06.12.1996 - 7 G 1347/96 -, HessVGRspr. 1997, 40), kein Anlaß. Abgesehen davon würde solchenfalls die Alternative "oder seit seiner Geburt" in dem vorbezeichneten Satz 2 praktisch leerlaufen, weil sich jeder vor dem Stichtag Geborene ebenso wie jeder vorher Eingereiste "seit dem 1. Juli 1990 ... im Bundesgebiet aufhält".

Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung bestehen außerdem im Hinblick auf das für die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Rücknahme der Aufenthaltsbefugnisse nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 und Abs. 3 VwGO erforderliche besondere Interesse. Ob diese Zweifel - insbesondere mit Blick auf die insoweit von Verfassungs wegen zu stellenden Anforderungen (vgl. dazu BVerfG, B. v. 25.01.1996 - 2 BvR 2718/95 -, AuAS 1996, 62) - ebenfalls als ernstlich zu qualifizieren sind, kann angesichts der schon aus den oben dargelegten anderen Gründen gebotenen Zulassung der Beschwerde auf sich beruhen.

Die Verteilung der Kosten des vorliegenden Antragsverfahrens folgt der künftigen Kostenentscheidung im Beschwerdeverfahren.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 13 Abs. 1 Satz 2, 20 Abs. 3, 25 Abs. 2 Satz 2 GKG und § 5 ZPO, wobei der Senat nach ständiger Praxis für jeden Antragsteller vom Auffangstreitwert ausgeht und hierfür für das Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes die Hälfte in Ansatz bringt.

Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).