Hessischer VGH, Urteil vom 08.05.1995 - 12 UE 289/93
Fundstelle
openJur 2012, 20689
  • Rkr:
Tatbestand

Der 1969 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er reiste am 5. April 1987 mit einem am 23. März 1987 vom Generalkonsulat in Istanbul ausgestellten Sichtvermerk, gültig vom 31. März 1987 bis 30. Juni 1987, in das Bundesgebiet ein. Am 26. Juni 1987 beantragte er die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, wobei er in dem Antragsformular angab, vorbestraft zu sein. Unter der Rubrik "Zweck des Aufenthalts" verwies er auf eine Stellungnahme seines Rechtsanwaltes. Dieser führte mit Schriftsatz vom 7. August 1987 an, durch den weiteren Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik solle eine Familienzusammenführung erfolgen. Der Vater des Klägers halte sich ununterbrochen seit März 1973 in der Bundesrepublik auf; für die Mutter treffe dies seit 1983 ebenfalls zu.

Der Kläger heiratete am 22. April 1988 eine im Bundesgebiet lebende türkische Staatsangehörige; am 16. September 1989 wurde das erste Kind des Klägers geboren.

Das Schwurgericht in Trabzon verurteilte den Kläger durch Urteil vom 13. Oktober 1987 nach Art. 456, 457 TStGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten. Dabei handelt es sich nach einer Mitteilung des Auswärtigen Amtes vom 19. April 1989 um eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags und nächtlicher Verletzung der Unverletzlichkeit der Wohnung. Das Urteil erlangte am 17. Februar 1988 Rechtskraft. Nach den Urteilsgründen habe ein verheirateter türkischer Staatsangehöriger mit der Schwester des Klägers ein Verhältnis begründen wollen und sei deshalb mit der Absicht, die Schwester des Klägers zu sprechen, in deren Wohnung gekommen, wobei ihn der Kläger mit einem Jagdgewehr lebensgefährlich verletzt habe.

Mit Bescheid vom 26. September 1989 lehnte der Landrat des kreises den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab, wies den Kläger aus dem Geltungsbereich dieses Gesetzes aus, forderte ihn auf, die Bundesrepublik Deutschland unverzüglich, spätestens einen Monat nach Erhalt dieser Verfügung zu verlassen und drohte ihm für den Fall der Nichtbefolgung seine Abschiebung an, wobei er die Kosten der Abschiebung zu tragen habe. Zur Begründung führte er an, der Kläger sei ohne die erforderliche Aufenthaltserlaubnis und damit illegal in die Bundesrepublik Deutschland mit der Absicht der Familienzusammenführung eingereist. Mit diesem Verhalten habe er Belange der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des § 2 AuslG 1965 beeinträchtigt, so daß deshalb sein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abzulehnen gewesen sei. Aufgrund der Verurteilung eines türkischen Gerichts zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten wegen versuchten Totschlags und nächtlicher Verletzung der Unverletzlichkeit der Wohnung sei der Ausweisungstatbestand des § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1965 erfüllt. Diese Straftat sei der mittleren und schweren Kriminalität zuzuordnen, so daß schwerwiegende Gründe gegeben seien, die die Ausweisung rechtfertigen würden. Die Ausweisung sei auch notwendig, um andere Ausländer von der Begehung ähnlicher Straftaten abzuschrecken. Art. 6 GG stehe der Ausweisung nicht entgegen. Es müsse davon ausgegangen werden, daß die türkische Ehefrau von der begangenen Straftat informiert gewesen sei. Auch sei es bei ausländischen Ehen dem Ehegatten im Interesse der Fortführung der ehelichen Lebensgemeinschaft zuzumuten, in die gemeinsame Heimat zurückzukehren.

Gegen diesen, seinem früheren Prozeßbevollmächtigten am 16. Oktober 1989 zugestellten, Bescheid erhob der Kläger mit am 20. Oktober 1989 eingegangenem Schriftsatz Widerspruch, den er im Rahmen eines Eilverfahrens hinsichtlich der Versagung der Aufenthaltserlaubnis und der Abschiebungsandrohung zurücknahm.

Laut einer Grenzübertrittsbescheinigung verließ der Kläger am 30. November 1990 das Bundesgebiet.

Das Regierungspräsidium wies mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juli 1991 den Widerspruch zurück. Der Kläger erfülle den Ausweisungstatbestand des § 46 Nr. 2, 3. Alternative AuslG, wonach nach § 45 Abs. 1 AuslG insbesondere ausgewiesen werden kann, wer außerhalb des Bundesgebietes eine Straftat begangen habe, die im Bundesgebiet als vorsätzliche Straftat anzusehen sei. Diese Voraussetzung sei aufgrund des Urteils des Schwurgerichts Trabzon gegeben. Aus generalpräventiven Gründen sei die Ausweisung geboten. Zwar handele es sich um die erste Verurteilung des Klägers; dies schließe jedoch keineswegs aus, eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen auszusprechen. Die vom Kläger begangene Straftat habe auch nach deutschem Strafrecht ein erhebliches Gewicht; immerhin habe er unter Waffengebrauch einen anderen Menschen lebensgefährlich verletzt und sich eines versuchten Totschlags schuldig gemacht. Angesichts der Häufigkeit von Gewaltdelikten gerade auch jüngerer Ausländer komme der Ausweisung aus generalpräventiven Interessen ein erhebliches Gewicht zu. Auch sei der Kläger unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das Bundesgebiet eingereist und beeinträchtige auch aus diesem Grund Belange der Bundesrepublik Deutschland. Gegenüber diesen überwiegenden Interessen müßten die privaten Interessen des Klägers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet zurücktreten. Insbesondere stehe Art. 6 GG dieser Entscheidung nicht entgegen. Die Eheleute hätten schon nicht damit rechnen können, die eheliche Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet führen zu können. Denn zum Zeitpunkt der Eheschließung sei der Kläger bereits durch das türkische Gericht verurteilt gewesen. Der Ehefrau des Klägers sei es zumutbar, ihrem Ehemann ins Heimatland zu folgen. Der Kläger selbst habe den weitaus überwiegenden Teil und die prägenden Entwicklungsjahre in seinem Heimatland verbracht; eine Integration in die hiesigen Verhältnisse sei aufgrund der kurzen Verweildauer nicht festzustellen.

Mit am 12. August 1991 beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main eingegangenem Schriftsatz erhob der Kläger Klage und führte zur Begründung an, nach Art. 14 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses EWG/Türkei Nr. 1/80 - ARB - dürfe die Ausweisung nicht auf generalpräventive Gründe gestützt werden; nach dieser Vorschrift dürfe eine Ausweisung nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit erfolgen. Eine strafrechtliche Verurteilung stelle aber nicht ohne weiteres eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar; es müßten vielmehr auch der Hergang der Straftat, die Vorgeschichte und eine etwaige Provokation durch das Opfer gewürdigt werden. Im übrigen sei der Kläger auch nicht wegen eines versuchten Totschlages sondern wegen eines tätlichen Angriffs mit einer Waffe verurteilt worden. Er habe von der verhängten Freiheitsstrafe nur sechs Monate und zwölf Tage in Haft verbringen müssen. Da er zum Zeitpunkt der Einreise noch minderjährig gewesen sei, komme ihm auch der besondere Ausweisungsschutz des § 48 Abs. 1 Nr. 2 AuslG zugute. Im Rahmen der Entscheidung über eine Ausweisung seien auch die familiären Verhältnisse zu berücksichtigen.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid des Landrates des Hochtaunuskreises vom26. September 1990 in der Fassung des Widerspruchsbescheidesdes Regierungspräsidiums vom 29. Juli 1991aufzuheben.Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.Zur Begründung bezog er sich im wesentlichen auf den Inhalt der angegriffenen Bescheide.

Mit Gerichtsbescheid vom 10. September 1992 wies das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main die nur noch gegen die Ausweisungsverfügung gerichtete Klage ab. Zur Begründung ist im wesentlichen ausgeführt, aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung durch das Schwurgericht Trabzon lägen die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 45 Abs. 1, 46 Nr. 2, 3. Alternative AuslG vor. Die angegriffene Ausweisung lasse auch keinen Ermessensfehler erkennen. Die generalpräventiven Erwägungen würden die Ausweisung des Klägers rechtfertigen. Dem würde auch nicht der Assoziationsratsbeschluß EWG/Türkei Nr. 1/80 entgegenstehen. Denn der Kläger erfülle nicht die Voraussetzungen. Bei ihm handele es sich nicht um einen Arbeitnehmer im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB, und er sei illegal in das Bundesgebiet eingereist, so daß er nicht die erforderliche Zuzugsgenehmigung erhalten habe, weshalb zu seinen Gunsten nicht Art. 7 Satz 1 ARB eingreife. Die Ausweisung sei auch nicht unverhältnismäßig; insoweit seien die Erwägungen in dem Widerspruchsbescheid nicht zu beanstanden.

Gegen das am 4. Dezember 1992 zugestellte Urteil hat der Kläger mit beim Verwaltungsgericht am 10. Dezember 1992 eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt, die er trotz Aufforderung nicht begründete.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

unter Abänderung des Gerichtsbescheids des VerwaltungsgerichtFrankfurt am Main vom 10. September 1992 die Verfügungdes Landrates des kreises vom 26. September1990 hinsichtlich der darin ausgesprochenen Ausweisung inder Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29. Juli 1991aufzuheben.Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.Er führt an, daß auch dann, wenn die Tat lediglich als Körperverletzung einzuordnen wäre, eine entsprechende Ermessensausübung im Endergebnis zu einer Ausweisung des Klägers führen müßte.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, den Inhalt der Akte des VG Frankfurt am Main - VI/1 H 2930/89 -, die im Rahmen dieses Verfahrens beigezogenen, den Kläger betreffenden Behördenakten (2 Hefter) und den Text des Türkischen Strafgesetzbuches in der Veröffentlichung von Sensoy und Tolun (Berlin 1955) verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Gründe

Die am 10. Dezember 1992 eingegangene Berufung des Klägers gegen das am 4. Dezember 1992 zugestellte Urteil ist fristgerecht und auch im übrigen zulässig. Obwohl der Kläger in der Zwischenzeit das Bundesgebiet verlassen hat, fehlt ihm wegen der Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 Satz 1 AuslG nicht das Rechtsschutzbedürfnis an der Weiterverfolgung seines Begehrens (vgl. BVerfG -Kammer -, 19.12.1991 - 2 BvR 1160/90 -). Danach darf ein Ausländer, der ausgewiesen oder abgeschoben worden ist, nicht erneut ins Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten, und ihm darf auch nach Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach dem Ausländergesetz keine Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden.

Die Berufung ist auch begründet. Das Verwaltungsgericht hat die gegen die Ausweisungsverfügung gerichtete Klage zu Unrecht abgewiesen. Die bereits vor dem Verwaltungsgericht nur noch in diesem Umfang angegriffene Verfügung der Ausländerbehörde des Landrates des kreises in der Fassung des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO), wobei für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides abzustellen ist (vgl. BVerwG, 17.11.1994 - 1 B 224.94 -, InfAuslR 1995, 150; BVerwG, 16.10.1989 - 1 B 106.89 -, EZAR 124 Nr.11 = Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 119; Hess. VGH, 20.10.1992 - 12 TH 1509/92 -, EZAR 034 Nr. 1). Danach sind die Vorschriften des Ausländergesetzes vom 9. Juli 1990 (BGBl. I S. 1354, in Kraft getreten am 1. Januar 1991) heranzuziehen, da der Widerspruchsbescheid am 29. Juli 1991 ergangen ist. Die nachfolgenden Änderungen des Ausländergesetzes (Gesetz vom 26.06.1992 (BGBl. I S. 1126); Gesetz vom 30.06.1993 (BGBl. I S. 1062) und Gesetz vom 28.10.1994 (BGBl. I 3186)) kommen daher nicht zur Anwendung.

Allerdings folgt die Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung nicht schon daraus, daß der Kläger sich zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides bereits im Ausland aufhielt (vgl. BVerwG, 02.12.1994 - 1 B 235.94 -, InfAuslR 1995, 154).

Zu Recht hat die Widerspruchsbehörde die Ausweisungsverfügung auf §§ 45 Abs. 1, 46 Nr. 2 AuslG gestützt. Nach § 45 Abs. 1 AuslG kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt; nach § 46 Nr. 2 AuslG kann insbesondere ausgewiesen werden, wer unter anderem außerhalb des Bundesgebiets eine Straftat begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche Straftat anzusehen ist. Damit hat eine Ausländerbehörde bei ihrer Entscheidung über eine Ausweisung grundsätzlich auf die im Ausland begangene Straftat abzustellen. Da es der Ausländerbehörde regelmäßig aber nicht möglich sein wird, Akten ausländischer Behörden oder Gerichte zur Entscheidungsfindung beizuziehen, ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn sie bei einer vorliegenden Verurteilung des Ausländers durch ein ausländisches Gericht dieses Urteil ihrer Bewertung zugrundelegt (Kanein/Renner, AuslR, 6. Aufl., 1993, § 46 AuslG Rdnr. 24). Etwas anderes gilt nur dann, wenn nach den allgemeinen, unter anderem verfahrensmäßigen Bedingungen, unter denen das ausländische Urteil ergangen ist, und nach den konkreten Gegebenheiten des Falles keine hinreichende Gewähr für die Richtigkeit der sie tragenden und für die Ausweisungsentscheidung maßgebenden Feststellungen besteht (BVerwG, 16.09.1986 - 1 B 143.86 -, Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 112 = InfAuslR 1986, 305 = NVwZ 1987, 144); dies gilt insbesondere dann, wenn der Ausländer substantiiert seine Täterschaft bestreitet (vgl. OVG Hamburg, 19.10.1990 - BS II 206/90 -, InfAuslR 1991, 7; VGH Baden-Württemberg, 17.04.1986 - 11 S 2213/84 -, EZAR 120 Nr. 10).

Eine Ausweisung nach §§ 45 Abs. 1, 46 AuslG erfordert desweiteren von der Ausländerbehörde die Feststellung, daß vom Ausländer künftig eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen wird oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt werden (a.A.: OVG Nordrhein- Westfalen, 31.03.1992 - 18 B 299/92 - EZAR 033 Nr. 1; OVG Hamburg, 16.07.1993 - Bf IV 18/92 - EZAR 033 Nr. 3; vgl. auch Otte, ZAR 1994, 67, 74). Auszugehen ist davon, daß § 45 Abs. 1 AuslG den Grundtatbestand der Ausweisung darstellt, deren ordnungsrechtlicher Charakter immer eine Gefahrenprognose verlangt (Kanein/Renner, a.a.O., § 45 AuslG Rdnr. 9). Etwas anderes gilt nur in den Fällen, in denen der Gesetzgeber aufgrund eines bestimmten Verhaltens eines Ausländers kraft Gesetzes bereits eine negative Zukunftsprognose getroffen hat, wie z.B. in § 47 Abs. 1 AuslG. Eine solche gesetzgeberische Entscheidung stellen die Ausweisungstatbestände des § 46 AuslG jedoch nicht dar. Vielmehr werden die Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 AuslG durch die nicht abschließenden Beispiele des § 46 AuslG konkretisiert; die im Katalog des § 46 AuslG aufgenommenen Tatbestände wären sonst unter § 45 Abs. 1 AuslG zu subsumieren (Kanein/Renner, a.a.O., § 46 AuslG Rdnr. 2; GK-AuslR, § 45 AuslG Rdnr. 42). Dabei geben die Tatbestände des § 46 AuslG Beispiele für Sachverhalte an, aus denen im allgemeinen für den Einzelfall auf eine künftige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bzw. Beeinträchtigung sonstiger erheblicher Belange der Bundesrepublik Deutschland geschlossen werden kann; sie beschreiben jedoch noch nicht ohne weiteres die Gefahrenprognose des § 45 Abs. 1 AuslG, ohne daß es dazu im Einzelfall noch weiterer Tatsachen und Wertungen bedürfte (so aber: OVG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.; OVG Hamburg, 16.07.1993, a.a.O.). Denn die Ausweisungsgründe des § 46 AuslG entsprechen im wesentlichen den in § 10 Abs. 1 Nr. 1 bis 10 AuslG 1965 geregelten Ausweisungsgründen (Wollenschläger/ Schraml, ZAR 1992, 66, 71; Brühl, JuS 1991, 314, 317), für die unbestritten war, daß die Ausländerbehörde eine Gefahrenprognose zu erstellen hatte. Desweiteren müßte der Gesetzestext in § 46 AuslG, wenn jeder dort geregelte Einzeltatbestand bereits die Gefahrenprognose ersetzen sollte, etwa dahingehend lauten: "Der Aufenthalt beeinträchtigt die öffentliche Sicherheit und Ordnung i.S. von § 45 Abs. 1 AuslG insbesondere, wenn der Ausländer ...." (vgl. Renner, NJ 1995, 231, 234). Auch aus der Entstehungsgeschichte läßt sich nicht eine Absicht des Gesetzgebers erkennen, mit dem Katalog des § 46 AuslG eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung allgemein, ausnahmslos und unwiderlegbar festzuschreiben; vielmehr läßt sich daraus nur der Wille entnehmen, mit den Ausweisungstatbeständen des § 47 AuslG ein schärferes Instrument einzusetzen und insoweit eine behördliche Einzelprüfung überflüssig zu machen (BT-Drs. 11/6321, S. 49 ff, S. 72 f). Nach allem läßt sich die Regelung des § 46 AuslG nur dahin auslegen, daß darin Beispiele für Fallgestaltungen aufgeführt sind, in denen allgemein eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung i. S. von § 45 Abs. 1 AuslG angenommen werden kann (Renner, NJ 1995, 231, 234); die Regelbeispiele lassen sich daher als ein Indiz für die Annahme einer Gefährdung anführen, und es ist dann aber noch eine auf den Einzelfall bezogene Gefahrenprognose erforderlich.

Hat die Ausländerbehörde eine negative Gefahrenprognose erstellt, erfordert eine Ausweisung nach §§ 45 Abs. 1, 46 Nr. 2 AuslG zusätzlich noch eine unter Beachtung des § 45 Abs. 2 AuslG begründete Ermessensentscheidung.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze konnte die Widerspruchsbehörde für die Ausweisung des Klägers rechtsfehlerfrei § 46 Nr. 2 AuslG heranziehen. Der Kläger ist vom Schwurgericht Trabzon durch Urteil vom 13. Oktober 1987 wegen eines Körperverletzungsdelikts (Art. 456/2, 457 TStGB) - und nicht, wie das Auswärtige Amt dem Landrat des kreises mitteilte, wegen versuchten Totschlags, wie sich schon aus den in diesem Urteil angeführten Strafvorschriften ergibt - zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt worden. Strafverschärfend berücksichtigte das Gericht das Benutzen einer Waffe durch den Kläger, während als strafmildernd das Alter des Klägers und die Aufhetzung des Geschädigten herangezogen wurden. Dieses Verhalten ist auch im Bundesgebiet als vorsätzliche Straftat anzusehen, und zwar nach § 223a StGB.

Zweifelhaft ist dann aber schon, ob die Widerspruchsbehörde die zu fordernde Gefahrenprognose in ausreichendem Maße getroffen hat. Im Widerspruchsbescheid wird nämlich keine klare Trennung zwischen der Gefahrenprognose des § 45 Abs. 1 AuslG und der sich erst bei einer negativen Prognose eröffnenden Ermessensentscheidung über eine Ausweisung vollzogen. Es ist aus dem Widerspruchsbescheid zwar zu entnehmen, daß die Gefahrenprognose mit generalpräventiven Erwägungen, nämlich andere durch die ausgesprochene Ausweisung von dem Begehen von Gewaltdelikten abzuschrecken, begründet ist. Eine solche Vorgehensweise ist bei schweren Gewalttaten, insbesondere mit gefährlichen Werkzeugen, anerkannt (BVerwG, 26.02.1980 - 1 C 90.76 -, BVerwGE 60, 75, 79 = EZAR 122 Nr. 7). Ob es sich vorliegend bei der Verurteilung des Klägers wegen eines Körperverletzungsdelikts - begangen mit einer Schußwaffe - um eine solch schwere Gewalttat handelt und ob die Widerspruchsbehörde alle maßgebenden Prognosetatsachen tatsächlich berücksichtigt hat, woran schon deshalb Zweifel bestehen, weil sie von einer Verurteilung des Klägers wegen versuchten Totschlags ausgegangen ist, bedarf letztlich keiner ab- schließenden Entscheidung.

Denn die Beklagte hat das ihr nach §§ 45 Abs. 1, 46 Nr. 2 AuslG zustehende Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt. Nach § 114 VwGO ist eine Ermessensentscheidung jedoch nur eingeschränkt überprüfbar, nämlich unter anderem darauf hin, ob die Verwaltung bei ihren Erwägungen von zutreffenden Sachverhaltsfeststellungen ausgegangen ist (Redeker/von Oertzen, VwGO, 10. Aufl., 1991, § 114 Rdnr. 10). Ist der Sachverhalt, den die Behörde zum tragenden Grund ihrer Entscheidung gemacht hat, unrichtig, führt dies grundsätzlich zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung (Redeker/von Oertzen, a.a.O.), wobei sich bei einer Ermessensentscheidung die gerichtliche Prüfung grundsätzlich am Widerspruchsbescheid auszurichten hat (BVerwG, 13.11.1981 - 1 C 69.78 -, EZAR 610 Nr. 16 = NJW 1982, 1413 = DVBl. 1982, 304, 305). Die Widerspruchsbehörde legte den generalpräventiven Erwägungen, auf die sie ihre Ermessenserwägungen maßgeblich stützt, einen vom Kläger begangenen versuchten Totschlag zugrunde. Sie führt in diesem Zusammenhang aus:

..."Der vom Widerspruchsführer begangenen Straftat wirdauch vom deutschen Strafrecht ein erhebliches Gewicht beigemessen.Es muß zu seinen Lasten gehen, daß er immerhinunter Waffengebrauch einen anderen Menschen lebensgefährlichverletzte und sich eines versuchten Totschlags schuldiggemacht hat. Angesichts der Häufigkeit von Gewaltdeliktengerade auch junger Ausländer kommt der Ausweisung ausgeneralpräventiven Interessen ein erhebliches Gewicht zu.Es ist unumgänglich, diesen vor Augen zu führen, daß sogelagerte Straftaten, auch wenn sie, wie hier, von Jugendlichenbegangen werden, nicht nur strafrechtliche Sanktionenmit sich führen, sondern auch ausländerrechtliche Maßnahmenzur Folge haben, um so den mit der Bekämpfung dieserDelikte befaßten Behörden die notwendige Unterstützungzuteil werden zu lassen." ...Da dieser Sachverhalt aber nicht zutrifft, weil der Kläger in dem angeführten Urteil des Schwurgerichts Trabzon ausweislich der zitierten Strafvorschriften wegen eines Körperverletzungsdelikts verurteilt wurde, ist die Widerspruchsbehörde bei ihrer Ermessensentscheidung in einem für sie tragenden Gesichtspunkt von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen, so daß deshalb eine rechtsfehlerhafte Ermessensbetätigung vorliegt, die zur materiellen Rechtswidrigkeit der angegriffenen Ausweisungsverfügung führt.

Hat die Verwaltungsbehörde - wie hier - ihr Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt, ist es dem Gericht verwehrt, den richtigen Sachverhalt zugrunde zu legen und zu prüfen, ob dann ebenfalls eine Ausweisung gerechtfertigt wäre. Das Gericht würde dann nämlich anstelle der Verwaltung handeln. Ein solches Verhalten wäre mit der Aufgabe der Verwaltungsgerichte zur Kontrolle der Ermessensentscheidungen der Verwaltungsbehörden nicht mehr vereinbar (vgl. Hess. VGH, 02.03.1992 - 12 UE 1603/91 -, EZAR 120 Nr. 13 = BWVPr 1993, 92; vgl. auch BVerwG, 13.11.1979 - 1 C 16.75 -, EZAR 221 Nr. 3 = NJW 1980, 2034). Erst wenn die Behörde aufgrund eigener Prüfung unter Berücksichtigung des zutreffenden Sachverhalts ihre Ermessensentscheidung getroffen hätte, wäre es Aufgabe des Gerichts, diese anhand der gesetzlichen Vorgaben zu überprüfen. Dies ist nach allem aber nicht möglich.

Daran ändert sich auch dadurch nichts, daß der Landrat des Hochtaunuskreises nach einem entsprechenden gerichtlichen Hinweis mit Schriftsatz vom 10. April 1995 unter anderem mitteilte, daß nach Rücksprache mit der vorgesetzten Behörde auf Weisung vorgetragen werde, daß selbst dann, wenn die Tat lediglich als Körperverletzungsdelikt einzuordnen wäre, eine entsprechende Ermessensausübung im Endergebnis zu einer Ausweisung führen müßte.

Zwar spricht sehr viel dafür, daß die Behörde aus verfahrensrechtlichen Gründen grundsätzlich nicht gehindert ist, Ermessenserwägungen im Verwaltungsprozeß nachzuschieben; insbesondere dürfte sie die zeitliche Grenze des § 45 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 2 HVwVfG vorliegend nicht daran hindern, weitere Ermessenserwägungen noch während des Verwaltungsrechtsstreits nachzuschieben (vgl. BVerwG, 14.05.1991 - 3 C 67.87 -, Buchholz 451.512 MGVO Nr. 37; BVerwG, 18.05.1990 - 8 C 48.88 -, BVerwGE 85, 163, 166 = DVBl. 1990, 1350, 1351; OVG Nordrhein-Westfalen, 03.02.1994 - 10 A 1149/91 -, BauR 1994, 741, 743; OVG Lüneburg, 02.10.1979 - I A 40/79 -, DVBl. 1990, 885; offengelassen: Hess.VGH, 14.11.1991 - 7 TH 12/89 -, NVwZ 1992, 393, 396; a. A.: VGH Baden-Württemberg, 07.12.1992 - 1 S 2079/92 -, NJW 1993, 1543, 1544 und 20.05.1980 - 3 S 617/80 -, ESVGH 31, 23, 25; VG Köln, 24.06.1980 - 2 K 973/79 -, NJW 1981, 780; Hess. VGH, 15.07.1978 - IV OE 63/77 -). Etwas anderes dürfte nur dann gelten, wenn eine entgegen § 39 HVwVfG unterbliebene Begründung nach dem Abschluß des Widerspruchsverfahrens nachgeholt wird (BVerwG, 24.09.1992 - 3 C 64.89 -, NVwZ 1993, 977). Dies ist jedoch vorliegend nicht gegeben, da der angegriffene Bescheid eine auf eine Ermessensausübung abstellende Begründung enthält.

Ein Nachschieben von Gründen ist allerdings nur dann zulässig, wenn die nachträglich angegebenen Gründe schon bei Erlaß des Verwaltungsakts vorlagen, dieser durch sie nicht in seinem Wesen geändert und der Betroffene dadurch nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt wird (BVerwG, 15.06.1971 - II C 17.70 -, BVerwGE 38, 191, 195; BVerwG, 19.08.1982 - 3 C 47.81 -, Buchholz 418.02 Tierärzte Nr. 2).

Die Verurteilung des Klägers wegen eines Körperverletzungsdelikts durch das Schwurgericht Trabzon lag bereits bei Erlaß des angegriffenen Bescheides vor, und durch eine jetzige Berücksichtigung dieses Umstandes wird der Kläger auch nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt. Bei einem Verurteilten, der auch einen Teil seiner Strafe abgesessen hat, kann davon ausgegangen werden, daß er wußte, aus welchem Grund er verurteilt worden ist. Dafür spricht insbesondere auch, daß der Kläger bereits in der Klageschrift anführte, nicht wegen versuchten Totschlags sondern wegen eines tätlichen Angriffs mit einer Waffe verurteilt worden zu sein. Es beeinträchtigt einen Kläger auch nicht in seiner Rechtsverfolgung, wenn Gründe erstmals im Berufungsverfahren nachgeschoben werden (BVerwG, 27.01.1982 - 8 C 12.81 -, BVerwGE 64, 356, 360).

Fraglich kann jedoch sein, ob der angegriffene Bescheid durch die nachgeschobene Erwägung in seinem Wesen geändert wird, weil die Beklagte nunmehr einen anderen Sachverhalt den Ermessenserwägungen zugrunde legt und selbst davon ausgeht, wie ihre Formulierung ("...lediglich als Körperverletzungsdelikt einzuordnen...") zeigt, daß einem solchen Delikt wohl eine verminderte Bedeutung gegenüber einem versuchten Tötungsdelikt zukommen soll. Zur Annahme einer Wesensveränderung reicht allein noch nicht aus, daß es sich vorliegend um nachgeschobene Ermessenserwägungen handelt (vgl. BVerwG, 19.08.1982 - 3 C 47.81 -, a.a.O.; Schmidt-Glaeser, Verwaltungsprozeßrecht, 12. Aufl., 1993, Rdnr. 534; kritisch überhaupt zu diesem Kriterium: Rupp, Nachschieben von Gründen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, 1987, S. 41; a. A.: Schenke, NVwZ 1988, 1, 4 f.). Ob hier eine Wesensveränderung durch das Nachschieben angenommen werden muß, bedarf letztlich aber keiner Entscheidung. Denn an der Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung ändert die oben angeführte Mitteilung des Landrates des Hochtaunuskreises im Schriftsatz vom 10. April 1995 nichts. Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn dadurch aus der rechtsfehlerhaften Ermessensentscheidung in dem angegriffenen Bescheid eine rechtsfehlerfreie Ermessensentscheidung geworden wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall. Zunächst erscheint bereits mehr als zweifelhaft, ob mit der Formulierung "müßte eine entsprechende Ermessensausübung im Ergebnis zu einer Ausweisung führen" überhaupt schon eine Ermessensentscheidung getroffen wurde. Die gewählte Formulierung ("müßte") spricht vielmehr eher dafür, daß der Landrat des Hochtaunuskreises damit das Ergebnis einer in der Zukunft noch zu treffenden Ermessensentscheidung unter Berücksichtigung des Umstandes, daß der Kläger nicht wegen eines versuchten Totschlages sondern wegen eines Körperverletzungsdelikts verurteilt worden ist, prognostiziert hat. Selbst wenn man jedoch annehmen würde, der Landrat des Hochtaunuskreises habe damit bereits eine Ermessensentscheidung dahingehend getroffen, daß er unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aufgrund einer Abwägung aller wesentlichen für und gegen die Maßnahme sprechenden Umstände eine Ausweisung des Klägers für geboten hielt, hat er dann jedoch dadurch nur das Ergebnis seiner Überlegungen mitgeteilt. Diese reine Ergebnismitteilung genügt aber dem Begründungserfordernis des § 39 Abs. 1 Satz 3 HVwVfG nicht. Es ist daraus nämlich nicht ersichtlich, ob und wenn ja, welche weiteren öffentlichen und privaten Interessen mit ihrer jeweiligen Gewichtung der Landrat des Hochtaunuskreises bei seinen Erwägungen eingestellt hat. Es kann insoweit auch nicht einfach auf die übrigen diesbezüglichen Erwägungen im Widerspruchsbescheid abgestellt werden. Das öffentliche Interesse bei generalpräventiven Erwägungen im Hinblick auf ein versuchtes Tötungsdelikt dürfte durchaus höher einzustufen sein als bei einem - hier zutreffenderweise zugrunde zu legenden - Körperverletzungsdelikt. Davon geht im übrigen der Landrat des Hochtaunuskreises auch selbst aus, wenn er nämlich in seinem Schriftsatz vom 10. April 1995 die Formulierung ("...lediglich als Körperverletzungsdelikt einzuordnen...") gebraucht.

Die Entscheidung über die Verfahrenskosten, die vorläufige Vollstreckbarkeit und die Nichtzulassung der Revision ergeben sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 167 VwGO, i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO und § 132 Abs. 2 VwGO.