Hessischer VGH, Beschluss vom 08.01.1990 - 12 TH 1801/88
Fundstelle
openJur 2012, 19038
  • Rkr:
Gründe

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die in dem ausländerbehördlichen Bescheid vom 9. Juli 1987 enthaltene Ausweisung in der Gestalt des Widerspruchbescheides des Regierungspräsidenten in Darmstadt vom 10. Februar 1988 abgelehnt. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist nach dem insoweit eindeutig vorgebrachten Begehren des (anwaltlich vertretenen) Antragstellers die Ausweisungsverfügung. Es kann hier deshalb dahinstehen, ob die Abschiebungsdrohung oder -anordnung - wovon das Verwaltungsgericht ausging - gegenstandslos geworden ist, weil sie jedenfalls durch die Abschiebungsanordnung vom 14. April 1988 überholt und damit gegenstandslos geworden ist. Die Abschiebungsanordnung vom 14. April 1988 ist jedenfalls nach dem erkennbaren Willen der Beteiligten nicht Gegenstand des Verfahrens geworden, so daß diese insoweit nicht Gegenstand einer Überprüfung im Beschwerdeverfahren sein kann.

Nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen und in der Regel auch nur möglichen summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage erweist sich die Ausweisung, deren sofortige Vollziehung mit dem Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 1988 angeordnet ist, als offenbar rechtswidrig; unter diesen Umständen ergibt die hier notwendige Interessenabwägung, daß das private Interesse des Antragstellers am vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet bis zur Beendigung des Klageverfahrens das öffentliche Interesse an seine Ausreise überwiegt.

Zwar hat die Widerspruchsbehörde die Anordnung des Sofortvollzuges in formeller Hinsicht in ausreichendem Umfang begründet (vgl. zur Begründungspflicht Hess. VGH, 02.09.1988 - 12 TH 3533/87 -, EZAR 622 Nr. 5 m. w. N.), jedoch hält die Anordnung des Sofortvollzuges einer materiell-rechtlichen Überprüfung nicht Stand.

Rechtsgrundlage der Entscheidung über die Ausweisung ist § 10 Abs. 1 Nr. 2 Ausländergesetz (AuslG). Danach kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn er wegen einer Straftat verurteilt worden ist. Der Antragsteller erfüllt diesen Tatbestand, denn er ist wegen der Einfuhr von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Handeltreibens durch das Landgericht Frankfurt am 19. März 87 rechtskräftig seit dem gleichen Tag - zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren und 8 Monaten verurteilt worden. Die Ausweisung ist bei Vorliegen des gesetzlichen Tatbestandes des § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG allerdings keine zwingende Folge. Sie steht vielmehr im pflichtgemäßen Ermessen der Ausländerbehörde. Diese muß aufgrund einer Abwägung der öffentlichen Interessen des Ausländers prüfen, ob die Ausweisung geboten ist. Die Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde ist von den Verwaltungsgerichten nur auf Rechtsfehler überprüfbar, namentlich also darauf, ob die Ausländerbehörde dem Zweck der Ermächtigung entsprechend und unter Beachtung der Grundrechte und der in ihnen verkörperten Wertordnung sowie des Rechtsstaatsprinzipes, insbesondere des sich aus ihm herleitenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gehandelt hat (Hess. VGH, 07.11.1988 - 13 UE 1601/86 - m. w. N.). Die gerichtliche Nachprüfung des Ermessens hat sich an der bei Erlaß des Widerspruchsbescheides gegebenen Rechts- und Tatsachenlage zu orientieren (vgl. BVerwG, 13.11.1981 - 1 C 69.78 -, EZAR 610 Nr. 16 -- NJW 1982, 1413; Hess. VGH, 21.12.1989 - 12 TH 2820/88 -).

In Rechtsprechung und Literatur ist anerkannt, das generalpräventive Erwägungen bei bestimmten Deliktgruppen eine Ausweisungsverfügung tragen können, um dadurch auf andere Ausländer abschreckend einzuwirken und diese zu gesetzeskonformem Verhalten anhalten zu können (vgl. Hess. VGH, 28.03.1988 - 12 TH 4107/87 - m. w. N.); dies gilt hinsichtlich besonders schwerwiegender Verstöße bei bestimmten Deliktgruppen (vgl. BVerwG, 03.05.1973 - I C 33.72 -, BVerwGE 42, 133). Zu diesen schwerwiegenden Straftaten zählen vor allem auch Rauschgiftdelikte; sie rechtfertigen - insbesondere wenn es sich um den Handel mit dem besonders gefährlichen Heroin handelt - grundsätzlich die Ausweisung aus generalpräventiven Erwägungen, um andere im Bundesgebiet lebende Ausländern von vergleichbaren im besonderen Maße sozialschädlichen Straftaten abzuhalten (BVerwG, 06.04.1988 - 1 C 70.86 -, EZAR 122 Nr. 10), was sogar in schwerwiegenden Fällen im Falle einer Verheiratung mit einem deutschen Partner gilt (vgl. BVerfG, 18.07.1979 - 1 BvR 658/77 - BVerfGE 51, 386 = EZAR 123 Nr. 2 = NJW 1980, 514). Dabei ist allerdings eine schematische Betrachtung dieser Gesichtspunkte nicht vorzunehmen, sondern die Wertordnung des Grundgesetzes und dessen Prinzipien, insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu berücksichtigen (BVerfG, 17.01.1979 - 1 BvR 241/77 -, BVerfGE 50, 166 = EZAR 122 Nr. 1; BVerfG, 18.07.1979 - 1 BvR 658/77 -, BVerfGE 51, 386 = EZAR 123 Nr. 2; BVerwG, 01.12.1987 - 1 C 22.86 - = EZAR 120 Nr. 12).

Die Antragsgegnerin hat das ihr danach eröffnete Ausweisungsermessen zwar hinsichtlich der generalpräventiven und der spezial-präventiven Erwägungen rechtsfehlerfrei ausgeübt. Insoweit kann auf die zutreffenden Ausführungen in dem Beschluß des Verwaltungsgerichts (S. 13 2. Absatz bis S. 15 1. Absatz einschließlich) Bezug genommen werden (Art. 2 § 7 Abs. 1 EntlG), denen der Senat folgt. Die Ermessenserwägungen der Antragsgegnerin und auch der Widerspruchsbehörde erweisen sich jedoch insoweit als unzureichend, als die Frage der Doppelbestrafung des Antragstellers bei einer Rückkehr in die Türkei bei dem hier eröffneten Ausweisungsermessen in keiner Weise erkennbar in die Erwägungen einbezogen und berücksichtigt wurde.

Die im pflichtgemäßen Ermessen der Ausländerbehörde stehende Anordnung der Ausweisung erfordert eine Abwägung sämtlicher die Entfernung des Ausländers aus der Bundesrepublik Deutschland rechtfertigenden öffentlichen Interessen gegen die für seinen Verbleib sprechenden Gründe. Bei dieser Abwägung ist auch eine zusätzliche Bestrafung in seinem Heimatland bis hin zur Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe zu berücksichtigen, wenn dafür konkrete und ernsthafte Anhaltspunkte bestehen (BVerwG, 01.12.1987 - 1 C 29.85 -, BVerwGE 78, 285 = EZAR 120 Nr. 10 InfAuslR 1988, 34).

Der Antragsteller befürchtet, in der Türkei wegen des von ihm begangenen Rauschgiftdeliktes nochmals strafrechtlich verurteilt zu werden, wobei in der Türkei für derartige Straftaten (Art. 403 StGB) sogar Todesstrafen verhängt und gegebenenfalls vollstreckt werden können. Eine drohende Doppelbestrafung als solche hindert die Ausweisung und Abschiebung eines Ausländers aus dem Bundesgebiet grundsätzlich nicht. Denn Art. 103 Abs. 3 GG steht einer Bestrafung eines im Bundesgebiet Verurteilten wegen derselben Tat durch einen anderen Staat nicht entgegen. Art. 103 Abs. 3 GG besagt lediglich, daß jemand nicht nochmals von einem deutschen Gericht verurteilt werden darf, nachdem bereits ein Strafverfahren vor einem deutschen Gericht abgeschlossen ist (vgl. OVG Hamburg, 02.12.1985 - Bs V 227/85 -,1 EZAR 130 Nr. 3 = InfAuslR 1986, 34). Dem steht auch nicht entgegen, daß nach § 9 Nr. 1 des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 23.12.1982 (BGBl. I S. 2071) - IRG - eine Auslieferung wegen einer Tat, derentwegen in der Bundesrepublik Deutschland ein Strafverfahren abgeschlossen wurde, ausgeschlossen ist. Hierbei handelt es sich um eine auf das Auslieferungsrecht zugeschnittene Bestimmung mit dem Zweck, durch die Auslieferung eine Verurteilung zu ermöglichen, die bei Verbleib im Bundesgebiet nicht möglich wäre. Der Zweck der Ausweisung und deren Vollziehung nach dem Ausländergesetz ist es dagegen, die nachhaltige Beeinträchtigung von Belangen der Bundesrepublik Deutschland zu unterbinden (OVG Hamburg, a.a.O.).

Ungeachtet dessen ist jedoch, wie der Antragsteller zu Recht geltend gemacht, die Gefahr einer Bestrafung bis hin zur Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe bei der Ausübung des Ausweisungsermessens zu berücksichtigen und nicht nur unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 Satz 1 AuslG bei der Abschiebung. Die möglicherweise in einem bestimmten Staat drohenden Nachteile sind nicht nur bei der Abschiebung, sondern auch bei der Ausweisung zu beachten. Der Ausweisung kommt gegenüber der Abschiebung selbständige Bedeutung zu, weil der zukünftige Aufenthaltsstaat noch nicht festgelegt wird. Eine Verbindung besteht aber insoweit, als, wenn der Ausländer seiner Verpflichtung zur unverzüglichen Ausreise nicht nachkommt 12 Abs. 1 Satz 2 AuslG), die Abschiebung nach § 13 Abs. 1 AuslG als Maßnahme zur Entfernung des Ausländers mit der Ausweisung eingeleitet wird. Die Ausweisung in Drittstaaten ist aber nur mit deren Zustimmung möglich, die gerade wegen der der Ausweisung nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG zugrundeliegenden Gründe - insbesondere bei Rauschgifttaten - im Regelfall nicht zu erwarten ist, so daß voraussichtlich nur der Heimatstaat zur Aufnahme bereit ist. Die sachgerechte Interessenabwägung gebietet daher, einen derartigen faktischen "Zugzwang" bereits im Rahmen des Ausweisungsermessens zu berücksichtigen (BVerwG, 01.12.1987 - 1 C 29.85 -, a.a.O.). Die Ausländerbehörden haben sich bei der im Rahmen der Ermessensentscheidung vorzunehmenden Prüfung, ob dem Ausländer die Gefahr einer Bestrafung bis hin zur Todesstrafe droht, aller vorhandenen Erkenntnisquellen zu bedienen. Sie haben insbesondere zu berücksichtigen, in welchem Maß mit dem Eintritt der befürchteten Nachteile und Zugriffe zu rechnen ist. Bei einer Verurteilung wegen Rauschgifttaten kommt der umfassenden Abwägung der für und der gegen die Ausweisung sprechenden Zustände eine besondere Bedeutung zu. Ist im Heimatland des Ausländers eine derartige Tat mit der Todesstrafe bewehrt, so ist dies eine strafrechtliche Maßnahme, die der Wertordnung und den Grundprinzipien der deutschen Rechtsordnung zuwider läuft. Nach Art. 102 GG ist die Todesstrafe abgeschafft. Diese darin zum Ausdruck kommende grundsätzliche Einstellung zum Wert des Menschenlebens (BVerfG, 30.06.1964 - 1 BvR 93/64 - BVerfGE 18, 122; BVerfG, 04.05.1982 - 1 BvR 1457/81-, BVerfGE 60, 348 = EZAR 150 Nr. 2) - die im Auslieferungsrecht durch § 8 IRG inzwischen weitgehend zur Geltung gebracht wurde ist in jedem Stadium des Verfahrens zu beachten. Zum einen kann dabei der Zeitfaktor zwischen Ausweisung und Abschiebung eine Rolle spielen, zum anderen können die in einem Land zu erwartenden Nachteile an Gewicht verlieren, wenn die Abschiebung in ein Drittland möglich erscheint.

Im vorliegenden Fall ist von folgender Rechtslage in der Türkei auszugehen: Gemäß Art. 3 Abs. 1 des türkischen Strafgesetzbuches (TStGB) wird ein Türke, der in der Türkei eine Straftat begeht, ihretwegen auch dann verurteilt, wenn er bereits im Ausland für diese Tat verurteilt worden ist. Nach Art. 403 Abs. 1 und 2 TStGB wird mit lebenslänglichem Zuchthaus oder - bei qualifizierenden Tatbestandsmerkmalen - mit dem Tode bestraft, wer Heroin ohne Erlaubnis herstellt, ein- oder ausführt und im Land verbreitet. Wird also ein türkischer Staatsangehöriger in der Bundesrepublik wegen eines Rauschgiftdeliktes verurteilt und hat die Tat einen räumlichen Bezug zu der Türkei, ist im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 TStGB zu gewärtigen, daß er in der Türkei noch einmal bestraft wird, gegebenenfalls beim Vorliegen qualifizierender Tatbestandsmerkmale mit dem Tode. Gemäß Art. 5 TStGB muß ein türkischer Staatsangehöriger außerdem in der Türkei bestraft werden, wenn er im Ausland eine Straftat begangen hat, die nach dem türkischen Gesetz mit einer Freiheitsstrafe nicht unter 3 Jahren zu bestrafen ist (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, 03.06.1986 - 18 A 405/84 - InfAuslR 86, 241, 244). Ausgehend von dieser Rechtslage wäre die Ausländerbehörde auch im vorliegenden Fall verpflichtet gewesen, bei der Betätigung ihres Ausweisungsermessens diesem Umstand Rechnung zu tragen. Denn bei Rauschgiftdelikten der vorliegende Art (Handel mit Heroin) wurden in der Vergangenheit durchaus Todesstrafen verhängt, die nach Auskünften des Auswärtigen Amtes allerdings seit 1984 nicht mehr vollstreckt wurden. ob eine Vollstreckung zukünftig in derartigen Fällen ausgeschlossen ist und eine Umwandlung in eine lebenslange Freiheitsstrafe erfolgt, ist im Hinblick auf eine im September 1989 vom türkischen Justizministerium vorgeschlagenen Änderung des Art. 87 TStGB offen (vgl. Auswärtiges Amt an OVG Lüneburg vom 16.08.1989, Auswärtiges Amt an OVG Nordrhein-Westfalen vom 15.11.1989). Inwieweit die dem Senat vorliegenden Erkenntnisquellen (die Liste wird den Beteiligten mit dem Beschluß zur Kenntnis gebracht), die auch von der Widerspruchsbehörde nicht bedacht wurden, bei pflichtgemäßer Ermessensausübung dazu geführt hätten, daß das Interesse des Antragstellers am Verbleiben im Bundesgebiet den öffentlichen Interessen an seiner Ausreise vorgehen, bedarf einer auf den Einzelfall bezogenen Klärung durch Einholung entsprechender Auskünfte über die für den Antragsteller konkret zu erwartenden Nachteile einer etwaigen Verurteilung wegen seiner Rauschgifttat; dies muß aber wegen der nur summarischen Prüfung im Eilverfahren dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

Weder in dem ausländerbehördlichen Bescheid noch in dem Widerspruchsbescheid sind die insoweit maßgeblichen persönlichen und staatlichen Interessen berücksichtigt und gegeneinander abgewogen. Erweist sich danach die Ausweisung als offenbar rechtswidrig, überwiegt angesichts der im Heimatland des Antragstellers gegebenen Rechtslage das Interesse an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet das öffentliche Interesse an seiner sofortigen Ausreise. Dabei ist darauf hinzuweisen, daß der hier festgestellte Ermessensfehler (Ermessensunterschreitung) nicht während des Verfahrens nachträglich geheilt werden kann.

Soweit der Antragsteller am 9. Juli 1983 die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis beantragt hat, kann hier offenbleiben, ob dieser Antrag bereits beschieden ist, weil Gegenstand des vorliegenden Verfahrens allein die Ausweisungsverfügung ist.

Die Entscheidungen über die Kosten des gesamten Verfahrens und den Streitwert des Beschwerdeverfahrens folgen aus 154 Abs. 1 VwGO und §§ 13 Abs. 1, 20 Abs. 3 GKG.

Dieser Beschluß ist unanfechtbar ( § 152 Abs. 1 Satz 1 VwGO; 25 Abs. 2 Satz 2 GKG).