LSG der Länder Berlin und Brandenburg, Urteil vom 07.04.2011 - L 13 SB 80/10
Fundstelle
openJur 2012, 15062
  • Rkr:
Tenor

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 22. März 2010 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung – auch über die Kosten des Berufungsverfahrens – an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 zusteht.

Für die 1966 geborene Klägerin wurde erstmals im Jahr 1976 eine Funktionsbeeinträchtigung in Form einer hochgradigen Schwerhörigkeit mit Sprachstörungen anerkannt und dafür eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 60 angesetzt. In der Folgezeit wurde die MdE bzw. später der GdB unter Anerkennung von weiteren Funktionsbeeinträchtigungen heraufgesetzt; zuletzt mit Bescheid vom 17. August 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 2001 auf einen GdB von 90. Dem lag ein versorgungsärztliches Gutachten der Fachärztin für HNO-Krankheiten Dr. F vom 14. Mai 2001 zugrunde, welche nach Untersuchung der Klägerin ausgehend von einem Einzel-GdB von 90 für die praktische Taubheit beidseits mit Sprachstörungen sowie einem Einzel-GdB von 20 für ein chronisches Hautleiden die Anhebung des damals innegehabten GdB von 80 auf 90 empfohlen hatte.

Am 9. Januar 2006 stellte die Klägerin einen Neufeststellungsantrag wegen Verschlimmerung bestehender Behinderungen und Hinzutreten neuer Behinderungen. Die Klägerin machte geltend, dass der Hörverlust und der Tinnitus schlimmer geworden seien. Außerdem seien psychische Beeinträchtigungen sowie Nacken- und Kopfschmerzen hinzugekommen. Der Beklagte holte einen Befundbericht des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. F vom 27. März 2006 sowie eine gutachterliche Stellungnahme der versorgungsärztlichen Gutachterin M nach Aktenlage vom 31. Oktober 2006 ein. Die Gutachterin hat einen GdB von 90 festgestellt und dabei folgende Funktionsbeeinträchtigungen (in Klammern jeweils die verwaltungsintern zugeordneten Einzel-GdB) zugrunde gelegt:

a) praktische Taubheit beidseits mit Sprachstörung (90)b) chronisches Hautleiden (20)c) Kopfschmerzen (10)d) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (10)Der Beklagte lehnte dem folgend mit Bescheid vom 21. Februar 2006 eine Anhebung des GdB auf 100 ab. Auf den dagegen gerichteten Widerspruch der Klägerin vom 6. März 2007 holte der Beklagte einen weiteren Befundbericht der Fachärzte für HNO L/Dr. R vom 9. März 2007 sowie eine weitere versorgungsärztliche Stellungnahme des HNO-Facharztes Dr. R nach Aktenlage vom 9. Juli 2007 ein. Dr. R hielt den bisherigen Einzel-GdB von 90 für die praktische Taubheit beidseitig mit den Sprachstörungen für ausreichend und angemessen und empfahl die Beibehaltung des Gesamt-GdB von 90. Dem folgend wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14. September 2007 zurück.

Mit ihrer am 2. Oktober 2007 beim Sozialgericht Berlin erhobenen Klage verfolgte die Klägerin ihr Begehren auf Zuerkennung eines GdB von 100 weiter. Sie verwies darauf, dass sie seit ihrer Geburt taub sei und fast gar nicht sprechen könne. Sie kämpfe seit Jahren für den Erhalt von Pflegegeld nach dem Berliner Landespflegegeldgesetz. Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 22. März 2010 gestützt auf das versorgungsärztliche Gutachten der HNO-Fachärztin Dr. F vom 4. Mai 2001 und Auswertung der im Verwaltungsverfahren erhobenen Befundberichte sowie der dazu ergangenen versorgungsmedizinischen Stellungnahmen nach Aktenlage abgewiesen.

Gegen den am 26. März 2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 20. April 2010 Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Zur Begründung vertieft die Klägerin ihr erstinstanzliches Vorbringen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 22. März 2010 sowie den Bescheid des Beklagten vom 21. Februar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. September 2007 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihr ab 9. Januar 2006 einen GdB von 100 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält seine Entscheidung für zutreffend.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, die Protokolle und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.

Gründe

Die Berufung der Klägerin ist gemäß § 143, 144 Sozialgerichtsgesetz – SGG – zulässig und im Sinne einer Zurückverweisung auch begründet.

Das Verfahren vor dem Sozialgericht leidet an einem wesentlichen Mangel (§ 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG ist gegeben, wenn ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Wesentlich ist dieser Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts darauf berufen kann (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 159 Rdnr. 3). Die Entscheidung des Sozialgerichts leidet in zweierlei Hinsicht an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Zum einen hat das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid entschieden, obwohl die für das Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen dafür nicht erfüllt waren (1.). Zum anderen hat das Sozialgericht den Sachverhalt nicht entsprechend aufgeklärt (2.).

1. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft durch die Kammervorsitzende als Einzelrichterin mittels Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 11 Abs. 1 Satz 2 SGG) entschieden, obwohl die Voraussetzungen von § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht vorgelegen haben. Dadurch hat es der Klägerin entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz ihrem gesetzlichen Richter, nämlich der Kammer in voller Besetzung (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 125 SGG), entzogen. Nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG ist der Erlass eines Gerichtsbescheides nur dann möglich, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Diese Voraussetzungen waren vorliegend nicht gegeben. Ein Sachverhalt ist grundsätzlich nur dann als geklärt im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG anzusehen, wenn ein verständiger Prozessbeteiligter in Kenntnis des gesamten Prozessstoffes keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des vom Gericht zugrunde gelegten entscheidungserheblichen Sachverhalts haben wird. Der Senat geht insoweit davon aus, das unter Klärung des Sachverhalts im Sinne von § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG mehr zu verstehen ist, als die dem Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren ohnehin gemäß §§ 103, 106 SGG obliegende Verpflichtung zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen. Dafür, dass die Voraussetzungen in § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG enger zu fassen sind, spricht der Umstand, dass der Gesetzgeber für den Gerichtsbescheid einen geklärten Sachverhalt als zusätzliche Voraussetzung ausdrücklich in den Wortlaut aufgenommen hat. Im vorliegenden Fall schied danach eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter aus. Unabhängig davon, dass Gerichtsbescheide in medizinisch geprägten Fällen ohnehin nur äußerst zurückhaltend eingesetzt werden sollten, ist der Sachverhalt vorliegend nicht als geklärt anzusehen. Denn das Sozialgericht hat bereits der bestehenden allgemeinen Amtsermittlungspflicht nicht hinreichend Rechnung getragen (siehe dazu unter 2.). Der bestehende Besetzungsmangel ist auch als wesentlich anzusehen, weil nicht ausgeschlossen kann, dass die Kammer in ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Besetzung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.

2. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft gegen seine Aufklärungspflicht gemäß § 103 SGG verstoßen, wonach alle entscheidungserheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln sind. Die Aufklärung eines medizinisch geprägten Sachverhalts durch ein Tatsachengericht unterliegt in allen Gerichtsinstanzen einheitlichen Qualitätsanforderungen. Im Hinblick auf die Amtsermittlung erstinstanzlicher Gerichte sind danach im Grundsatz die gleichen Anforderungen heranzuziehen, die auch das Bundessozialgericht an die Sachverhaltsaufklärung durch die Landessozialgerichte stellt. Das Sozialgericht hätte sich zu weiteren medizinischen Ermittlungen gedrängt fühlen müssen. Für die Entscheidung kam es auch eigener Sicht des Sozialgerichts wesentlich auf die bei der Klägerin bestehenden Funktionsbehinderungen an. Mangels entsprechender medizinischer Fachkenntnisse durfte es sich nicht allein auf die eingeholten Befundberichte bei eigener Auswertung stützen und sich im Übrigen auf eine Schlüssigkeitskontrolle der nach Aktenlage erfolgten versorgungsärztlichen Stellungnahmen sowie der bei Entscheidung bereits fast 9 Jahre zurückliegenden versorgungsärztlichen Begutachtung durch Frau Dr. F beschränken.

Auch ungeachtet etwaiger medizinische Grundkenntnisse durch richterliche Tätigkeit in medizinischen Sparten berechtigen diese jedenfalls nicht zu einer eigenständigen Beurteilung medizinischer Sachverhalte. Soweit das Gericht einen medizinischen Sachverhalt auf Grund eigener Sachkunde bewerten will, wäre überdies die Grundlage darzulegen gewesen, auf der diese Sachkunde beruht, damit die Beteiligten hierzu hätten Stellung nehmen können (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 10. Dezember 1987 – 9a RV 36/85 = SozR 1500 § 128 Nr. 31). Befundberichte sind zudem schriftliche Zeugenaussagen. Den behandelnden Ärztinnen und Ärzten fehlt in aller Regel eine sozialmedizinische Schulung und Erfahrung. Ihre Angaben können im Grundsatz Sachverständigengutachten nicht ersetzen. Außerdem sollte die richterliche Sachaufklärung nicht (auch nicht ungewollt) dazu führen, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient beeinträchtigt wird, solange geeignetere Methoden der Sachverhaltsaufklärung zur Verfügung stehen. Zur Aufklärung eines Sachverhalts in medizinischer Hinsicht bedarf es nach alledem regelmäßig der Einholung eines Sachverständigengutachtens, wobei sowohl im Hinblick auf das jeweilige medizinische Fachgebiet als auch im Hinblick auf die sozialmedizinischen Erfordernisse auf eine hinreichende Qualifikation und Erfahrung von Sachverständigen zu achten ist.

Angesichts dessen war auch die versorgungsmedizinische Begutachtung durch Frau Dr. F im Mai 2001 nicht geeignet das Begehren der Klägerin ohne weitere (aktuelle) medizinische Ermittlungen abschließend bewerten zu können. Unabhängig davon, dass es sich insoweit um eine Begutachtung in der Sphäre des Beklagten handelt, lag die Begutachtung viele Jahre zurück, so dass darin für den vorliegend zu beurteilenden Gesundheitszustand der Klägerin ab Januar 2006 bis aktuell keine hinreichenden Bewertungen entnommen werden können. Überdies macht die Klägerin auch weitere Beeinträchtigungen geltend, die nicht auf dem Fachgebiet der Gutachterin als HNO-Ärztin lagen. Zwischen der Anhörung zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid vom 25. Juli 2008 bis zur Entscheidung des Sozialgerichts am 22. März 2010 lag ferner nochmals ein Zeitraum von über 1 ½ Jahren, in dem die weitere Entwicklung des Gesundheitszustandes der Klägerin völlig ungeklärt blieb.

Das Sozialgericht war nach alledem gehalten, den Sachverhalt hinsichtlich des Ausmaßes der streitgegenständlichen Funktionsbehinderungen weiter aufzuklären und hinsichtlich der geltend gemachten Taubheit mit Sprachstörungen und Tinnitus im HNO-Bereich als auch hinsichtlich der weiteren Beeinträchtigungen auf unterschiedlichen ärztlichen Fachgebieten im Bereich Allgemeinmedizin jeweils gerichtliche Sachverständigengutachten einzuholen. Auch wenn gutachterliche Einschätzungen keine verbindliche Wirkung für die richterliche Entscheidung über die Höhe des GdB haben, so sind sie jedoch zumeist und so auch hier eine unentbehrliche Grundlage für die rechtliche Beurteilung, ob der vom Beklagten zuerkannte GdB von 90 ausreichend ist oder ob die Klägerin den begehrten GdB von 100 beanspruchen kann. Der danach vorliegende Verfahrensmangel ist auch wesentlich, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Sozialgericht nach gebotener Aufklärung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.

3. Im Rahmen seines nach § 159 SGG auszuübenden Ermessens hat das Gericht das Interesse der Klägerin an einer möglichst zeitnahen Erledigung des Rechtsstreits gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz abgewogen und sich angesichts der erheblichen Mängel des sozialgerichtlichen Verfahrens für eine Zurückverweisung entschieden. Hierbei hat es berücksichtigt, dass der Rechtsstreit noch weit von einer Entscheidungsreife entfernt ist und weitere tatsächliche Ermittlungen erfordert, weshalb der Verlust einer Tatsacheninstanz, wie er wegen der vom Sozialgericht unterlassenen Aufklärung praktisch eingetreten ist, besonders ins Gewicht fiel. Die Zurückverweisung stellt die dem gesetzlichen Modell entsprechenden zwei Tatsacheninstanzen wieder her. Auch der Grundsatz der Prozessökonomie führt nicht dazu, den Rechtsstreit bereits jetzt abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln. Es ist prozessökonomischer dem Sozialgericht zunächst Gelegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts zu geben.

Überdies ist ferner zu berücksichtigen, dass auch die Verwaltung dem Gebot der Amtsermittlung unterliegt. Dieses verletzt sie in der Regel, wenn ein medizinischer Sachverhalt nicht durch ärztliche Untersuchung des Betroffenen, sondern lediglich im schriftlichen Wege – etwa wie auch vorliegend durch ärztliche Äußerungen „vom Schreibtisch aus“ – geprüft wird. Die Klägerin ist nach Aktenlage auf ihren im Januar 2006 eingegangen Antrag auf Zuerkennung eines GdB von 100 weder im Verwaltungsverfahren auf Veranlassung des Beklagten noch im erstinstanzlichen Verfahren auf Veranlassung des Sozialgerichts von einem Arzt untersucht worden. Die versorgungsärztliche Begutachtung durch Frau Dr. F lag -wie bereits oben ausgeführt- Jahre zurück, so dass darauf nicht maßgeblich abgestellt werden konnte, zumal die Klägerin in ihrem Antrag neben einer Verschlimmerung der anerkannten Behinderungen auch das Hinzutreten neuer Behinderungen geltend gemacht hat. Das Sozialgericht hätte danach mangels entsprechenden Ermittlungen durch den Beklagten auch erwägen können, von der Vorschrift des § 131 Abs. 5 Sätze 1 und 2 SGG Gebrauch zu machen und das Verfahren ihrerseits an den Beklagten zurückzuverweisen. In einer solchen Situation darf der Klägerin jedenfalls nicht auch noch die erste Tatsacheninstanz genommen werden.

4. Das Sozialgericht hat nach alledem nunmehr zur Aufklärung des Sachverhalts zunächst eine Begutachtung der Klägerin durch einen Sachverständigen aus dem Bereich HNO zu veranlassen und der Klägerin für die Untersuchung auch einen Gebärdendolmetscher zu bestellen. Nach Vorlage dieses Gutachtens hat das Sozialgericht dann je nach dessen Ergebnis zur Abklärung der darüber hinaus geltend gemachten weiteren Funktionsbeeinträchtigungen ein weiteres Sachverständigengutachten auf allgemeinmedizinischem Gebiet einzuholen, wobei der Klägerin auch für diese Begutachtung ein Gebärdendolmetscher zu bestellen ist.

Das Sozialgericht wird in seiner Kostenentscheidung auch über die Kosten der Berufung zu befinden haben.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht gegeben.