LSG der Länder Berlin und Brandenburg, Beschluss vom 30.11.2010 - L 34 AS 1501/10 B ER, L 34 AS 1518/10 B PKH
Fundstelle
openJur 2012, 14075
  • Rkr:
Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 3. August 2010 geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig ab 1. Dezember 2010 bis zum 31. Mai 2011 (längstens jedoch bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (einschließlich der Leistungen für Unterkunft und Heizung) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu zahlen, wobei bei der Ermittlung der von der Bundesagentur für Arbeit zu erbringenden Leistungen nur eine Regelleistung in Höhe von 85% zu berücksichtigen ist. Die mit Beschluss vom 14. Oktober 2010 für die Zeit vom 14. Oktober 2010 bis zum 30. November 2010 vorläufig bewilligten Leistungen bleiben unberührt.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die Kosten des gesamten einstweiligen Anordnungsverfahrens zu erstatten. Kosten für das Beschwerdeverfahren bezüglich der Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die erste Instanz sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt von dem Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II.

Die 1957 geborene Antragstellerin, die bulgarische Staatsangehörige ist, stellte am 29. März 2010 bei dem Antragsgegner einen Antrag auf Bewilligung von Leistungen. Sie legte die Freizügigkeitsbescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU, ausgestellt durch das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten, Ausländerbehörde, vom 2. März 2010 vor. Darin wurde bescheinigt, dass sie sich am 9. Juni 2008 angemeldet habe und Staatsangehörige eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union und nach Maßgabe des Freizügigkeitsgesetzes/EU zur Einreise und zum Aufenthalt in der Bundesrepublik berechtigt sei. Weiter legte sie die Meldebestätigung des Bezirksamts von Berlin vor, wonach sie sich am 9. Juni 2008 im K in Berlin- angemeldet hat. Weiter legte sie eine Meldebescheinigung des Bezirksamtes von Berlin vom 18. Juli 2008 vor, wonach sie vom 9. März bis 31. Juli 2002 in Berlin in der S gemeldet war und vom 30. Januar 2003 bis zum 8. Juni 2008 in Berlin in der B . Weiter legte die Antragstellerin eine Arbeitsgenehmigung-EU vor, ausgestellt von der Agentur für Arbeit, am 30. Dezember 2009. Diese Arbeitsberechtigung-EU gilt für eine berufliche Tätigkeit jeder Art und zwar ab dem 30. Dezember 2009 unbefristet.

In der Anlage zur Feststellung der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung (KdU) gab die Antragstellerin an, eine Ein-Zimmer-Wohnung für eine Gesamtmiete von 155,00 Euro monatlich zu bewohnen. Sie legte dazu den Untermietvertrag mit Frau A vor, nach dem diese ihr Wohnraum ab 1. Januar 2010 zu einer Miete von 155,67 Euro warm vermietet. In der Miete sind danach 59,00 Euro Heizkosten für Zentralheizung enthalten. Bei der Vermieterin handelt es sich um die Tochter der Antragstellerin, die mit ihrem Kind selbst in dem Haushalt lebt.

Mit Bescheid vom 16. April 2010 hat es der Antragsgegner abgelehnt, der Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu bewilligen. Zur Begründung hat er angegeben, dass sich die Antragstellerin allein aus dem Zweck der Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhalte und Leistungen deshalb gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen seien. Weiter sei aus den eingereichten Unterlagen nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin mindestens ein Jahr in Deutschland beschäftigt bzw. selbständig tätig gewesen sei. Eine zeitliche Obergrenze für den Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II ergebe sich aus § 4 a Freizügigkeitsgesetz. Habe sich der Unionsbürger seit fünf Jahren ständig rechtmäßig in der Bundesrepublik aufgehalten, genieße er ein Daueraufenthaltsrecht. Da die Berechnung des Fünf-Jahres-Zeitraums erst ab Beitritt Bulgariens, also ab 1. Januar 2007 möglich sei, könne sich ein erstmaliger Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes erst ab dem 1. Januar 2012 ergeben.

Am 11. Juni 2010 stellte die Antragstellerin einen Überprüfungsantrag hinsichtlich des Ablehnungsbescheides vom 16. April 2010. Die Voraussetzungen zur Bewilligung von Leistungen seien erfüllt.

Mit Bescheid vom 21. Juni 2010 (der auf Blatt 65 der Verwaltungsakten das Datum 18. Juni 2010 trägt) hat der Antragsgegner den Überprüfungsantrag mit der Begründung abgelehnt, die Voraussetzungen des § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) seien nicht erfüllt. Es sei weder das Recht unrichtig angewandt noch von einem falschen Sachverhalt ausgegangen worden.

Gegen diesen Bescheid hat die Antragstellerin mit Schreiben vom 23. Juni 2010 Widerspruch eingelegt.

Am 24. Juni 2010 hat die Antragstellerin bei dem Sozialgericht Berlin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, mit dem Begehren, ab Antragstellung bei Gericht für den üblichen Bewilligungszeitraum Leistungen zu gewähren sowie Prozesskostenhilfe unter Beiladung ihres Prozessbevollmächtigten. Die Antragstellerin sei – auch – rechtlich erwerbsfähig. § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II sei gemeinschaftsrechtlich auszulegen. Daraus ergebe sich, dass Leistungen zu bewilligen seien, da Art. 12 EG eine Diskriminierung verbiete. Auf die Aufforderung des Sozialgerichts glaubhaft zu machen, dass sich die Antragstellerin in den letzten fünf Jahren rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten habe, hat diese mitgeteilt, dass entsprechende Nachweise nicht vorlägen.

Auf eine entsprechende Anfrage des Sozialgerichts hat das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten – Ausländerbehörde – am 27. Juli 2010 mitgeteilt, dass sich die Antragstellerin vom 7. März 2002 bis 22. März 2005 in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten habe und in dieser Zeit nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen sei.

Mit Beschluss vom 3. August 2010 hat es das Sozialgericht abgelehnt, der Antragstellerin im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen zu bewilligen. Es hat auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats (Beschluss vom 23. Dezember 2009, Az. L 34 AS 1350/09 B ER) verwiesen, wonach es sich bei Leistungen nach dem SGB II um solche der Sozialhilfe handele, von denen nach Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie auch Unionsbürger ausgeschlossen werden könnten.

Gegen den am 6. August 2010 zugestellten Beschluss hat die Antragstellerin am gleichen Tage Beschwerde beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingelegt, der sich auch gegen die erfolgte Ablehnung der Prozesskostenhilfe wendet.

Mit Bescheid vom 31. August 2010 hat der Antragsgegner den Widerspruch gegen den Bescheid vom 21. Juni 2010 zurückgewiesen. Er ist bei seiner Auffassung verblieben. Hiergegen hat die Antragstellerin Klage beim Sozialgericht Berlin erhoben.

Mit Beschluss vom 14. Oktober 2010 sind der Antragstellerin im Rahmen des Beschwerdeverfahrens vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit vom 14. Oktober 2010 bis 30. November 2010 zugesprochen worden.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der eingereichten Schriftsätze der Beteiligten und den übrigen Akteninhalt verwiesen.

II.

Die gemäß § 172 Abs. 1 und § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig und in dem tenorierten Umfang begründet.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen. Die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 3 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung [ZPO]).

Der Senat sieht sich hinsichtlich der Frage, ob die Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II europarechtskonform ist sowie der Vielfalt der hierzu vertretenen Meinungen in Literatur und Rechtsprechung nicht in der Lage, zum jetzigen Zeitpunkt eine abschließende Aussage darüber zu treffen, ob ein Anordnungsanspruch besteht oder nicht. Es erscheint zumindest möglich, dass der Antragstellerin ein Recht auf Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zusteht.

Der Antragstellerin sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II auf Grund einer Folgenabwägung zu bewilligen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seiner Entscheidung vom 12. Mai 2005 (Az. 1 BvR 569/05, dokumentiert in Juris, weitere Fundstelle NVwZ 2005, 927 bis 929) ausgeführt, dass Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen könnten, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären (BVerfG, a.a.O., Juris Rn. 24). Das BVerfG führt weiter aus: „Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (vgl. BVerfG, a.a.O., juris Rn. 26).

Die Folgenabwägung im vorliegenden Fall geht zu Gunsten der Antragstellerin aus. Da sie nicht in der Lage ist, ihren Lebensunterhalt anderweitig zu sichern, sind die Nachteile, die ihr entstünden, wenn dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht nachgekommen würde, sehr viel gravierender als die Nachteile der öffentlichen Hand, die rein fiskalischer Natur sind und die entstehen, wenn der Antragstellerin vorläufig Leistungen zu bewilligen sind.

Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 SGB II sind erfüllt. Diese Vorschrift lautet:

Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die

1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,

2. erwerbsfähig sind,

3. hilfebedürftig sind und

4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben

(erwerbsfähige Hilfebedürftige).

Die Antragstellerin ist hilfebedürftig, da sie ihren Lebensunterhalt nicht aus Einkommen oder Vermögen bestreiten kann.

Sie dürfte auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Antragstellerin hat eine Wohnung in Berlin, also in Deutschland, sie hat nach ihren Angaben, an denen der Senat keinen Anlass zu Zweifeln hat, die Absicht, in der Bundesrepublik Deutschland zu bleiben. Bei Ausländern wird der Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes jedoch grundsätzlich durch rechtliche Voraussetzungen zertifiziert (vgl. Seewald in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 30 SGB I, Rn. 19), d.h., in der Regel kann ein gewöhnlicher Aufenthalt nur dort begründet werden, wo sich jemand rechtmäßig aufhält. Dies dürfte bei der Antragstellerin gegeben sein, da sie im Besitz einer Arbeitsgenehmigung–EU gemäß § 284 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) ist und in der Bundesrepublik Deutschland auf Arbeitsuche. Damit dürfte ein erlaubter Aufenthalt gemäß § 2 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU), zuletzt geändert durch Art. 7 des Gesetzes zur Änderung des Bundespolizeigesetzes und anderer Gesetze vom 26. Februar 2008, BGBl. I S. 215, vorliegen. Nach Absatz 1 dieser Vorschrift haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes.

Gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU sind Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer, zur Arbeitsuche oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen, gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt. Der Senat geht davon aus, dass die Antragstellerin arbeitsuchend ist. Spätestens mit dem Antrag auf Bewilligung von Arbeitslosengeld II hat sie ihren Willen dokumentiert, in der Bundesrepublik Deutschland eine Beschäftigung aufzunehmen. Der Antragsgegner wäre auch gehalten, sie bei der Suche nach Arbeit zu unterstützen. § 13 FreizügG/EU, nach dem dieses Gesetz nicht anwendbar ist für (noch) nicht arbeitnehmerfreizügige Unionsbürger (für rumänische Staatsangehörige ist die Freizügigkeit gemäß des Vertrages zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der Republik Bulgarien und Rumänien über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union vom 25. April 2005 [BGBl. II Seite 1146] sowie der Mitteilung der Bundesrepublik Deutschland an die Europäische Kommission über die weitere Anwendung der Freizügigkeit rumänischer Staatsangehöriger einschränkender nationaler Maßnahmen vom 17. Dezember 2008, B Anz. Nr. 198 vom 31. Dezember 2008, Seite 4807, eingeschränkt), ist vorliegend nicht einschlägig, da die Antragstellerin über eine Arbeitsgenehmigung-EU verfügt.

Die Antragstellerin ist auch erwerbsfähig. An der (gesundheitlichen) Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II bestehen keine Zweifel. Auch ist die Voraussetzung des § 8 Abs. 2 SGB II, wonach Ausländer nur erwerbstätig sein können, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte, ist auf Grund der vorliegenden Arbeitsgenehmigung–EU erfüllt.

Da somit die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 SGB II erfüllt sind, stellt sich die Frage, ob der Anspruch gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen ist. Diese Vorschrift lautet:

Ausgenommen sind

1. Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbständige noch auf Grund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,

2. Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen,

3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.

Satz 2 Nr. 1 gilt nicht für Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.

Das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin dürfte sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergeben. Anhaltspunkte dafür, dass sich ein Aufenthaltsrecht aus anderen Rechtsvorschriften ergibt, liegen nicht vor. Ob die Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II europarechtskonform ist, ist höchst umstritten (vgl. zum Ganzen Schreiber, Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf dem gemeinschaftsrechtlichen Prüfstand, info also 2009, Seite 195; Husmann, Reaktionen in der Freizügigkeits-Richtlinie 2004/38 und im deutschen Sozialleistungsrecht auf die Rechtsprechung des EuGH, NZS 2009, 652; Hailbronner, Ansprüche nicht erwerbstätiger Unionsbürger auf gleichen Zugang zu sozialen Leistungen, ZFSH/SGB 2009, Seite 195; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB II, 2. Aufl., § 7 Rn. 13ff und Brühl/Schoch, LPK-SGB II, 3. Aufl., § 7 Rn. 33ff). Von einer zumindest teilweisen Unvereinbarkeit mit Europarecht gehen u.a. das Bayerische Landessozialgericht aus (Beschluss vom 12. März 2008, Az. L 7 B 1104/07 AS ER, dokumentiert in juris) sowie das LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 25. August 2010, Az. L 7 AS 3769/10 ER-B, dokumentiert in juris). Die Entscheidung des EuGH auf die Vorlagebeschlüsse des Sozialgerichts Nürnberg (Urteil vom 4. Juni 2009, Az. C-22/08 und C-23/08, Vatsouras und Koupatantze, dokumentiert in juris sowie in SozR 4-6035 Art. 39 Nr. 5) hat diesbezüglich nicht sämtliche Fragen beantworten und Unklarheiten ausräumen können. Umstritten bleibt auch, ob Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (ABl. L 158/77; so genannte Unionsbürgerrichtlinie), die eine Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie vorsieht, mit höherrangigem Europarecht vereinbar ist, insbesondere, ob er gegen den aus Art. 18 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV - (früher Art. 12 des Vertrages über die Europäische Union- EV-) folgenden Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt (vgl. hierzu auch Schreiber, a.a.O., Seite 197). Von Bedeutung ist diesbezüglich, ob das Arbeitslosengeld II als „Sozialhilfe" anzusehen ist. Ob der erkennende Senat an seiner dies bejahenden Rechtsprechung festhält (vgl. Beschluss vom 8. Juni 2009, Az. L 34 AS 790/09 B ER, dokumentiert in juris) muss zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantwortet werden; die hieran in Rechtsprechung und Literatur geäußerten Zweifel (vgl. z.B. Spellbrink, a.a.O., Rn. 18, der darauf hinweist, dass es lebensfremd und auch nicht zielführend wäre, den EU-Bürger über § 7 Abs. 1 Satz 2 nur von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auszuschließen, ihm aber europarechtlich einen Anspruch auf Leistungen zur Eingliederung in Arbeit gemäß den §§14 ff SGB II einzuräumen, und Valgolio in Hauck/Noftz, Gesamtkommentar zum Sozialgesetzbuch, SGB II, § 7 Rn. 116 ff, der das Urteil des EuGH vom 4. Juni 2009, Az. C-22/08 so versteht, dass der EuGH angenommen hat, dass, da die Grundsicherungsleistung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern solle, es sich nicht um Sozialhilfe im Sinne des § 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie handele) sind geeignet, im Rahmen der Folgenabwägung einen vorläufigen Anspruch der Antragsteller zu begründen, da es zum jetzigen Zeitpunkt durchaus möglich erscheint, dass nach (späterer) Rechtsprechung des Bundessozialgerichts oder des EuGH ein Anspruch besteht.

Zweifel daran, dass man das Arbeitslosengeld II als Sozialhilfe ansehen kann, was einen Leistungsanspruch ausschließen würde, ergeben sich für den Senat (auch) aus der Regelung des Art. 70 der zum 1. Mai 2010 in Kraft getretenen Verordnung –VO - (EG) Nr. 883/2004 (ABl. L 116 vom 30. April 2004), zuletzt geändert durch VO (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 (ABl. Nr. L 28443). Danach besteht Anspruch auf beitragsunabhängige Geldleistungen, zu denen nach dem Anhang X Deutschland b) auch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende gehören; diese Leistungen sind nach Absatz 4 dieser Vorschrift lediglich nicht exportierbar. Es ist zwar fraglich, ob diese Vorschrift für die Antragstellerin anwendbar ist, da sie - möglicherweise - mangels Vorbeschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland nicht unter den Arbeitnehmerbegriff im Sinne der VO (EG) Nr. 883/2004 fällt, es stellt sich jedoch unter anderem die Frage, ob es nicht widersprüchlich ist, dass eine Leistung, auf die nach einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift ausdrücklich Anspruch besteht, bei der Auslegung einer anderen Vorschrift so verstanden werden kann, dass sie, da sie Sozialhilfe wäre, eigentlich ausgeschlossen wäre. Weiter stellt sich die Frage, ob eine Leistung, die den eigenen Staatsbürgern vorbehaltlos erbracht wird, Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten vorenthalten werden kann oder ob es sich um eine Diskriminierung allein aufgrund der Staatsangehörigkeit handelt.

Nach alledem ist es möglich, dass der Antragstellerin ein Anspruch auf Bewilligung von Arbeitslosengeld II zusteht.

Die Gewährung von Leistungen war angesichts der Vorläufigkeit des Beschlusses auf das Notwendige zu beschränken, so dass eine Kürzung der Regelleistung auf 85% vorzunehmen war. Weiter war die Gewährung von Leistungen, um den Wegfall anspruchsbegründender Elemente überprüfen zu können, auf ein halbes Jahr seit Beschlussfassung zu begrenzen.

Für die Vergangenheit, also für die Zeit vor Beschlussfassung des Senats, waren keine Leistungen zu bewilligen. Die bereits mit Beschlüssen des Senats bewilligten vorläufigen Leistungen bleiben unberührt.

Die Beschwerde hinsichtlich der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren erster Instanz war zurückzuweisen, da diesbezüglich im Hinblick auf die erfolgte Kostenentscheidung, die für beide Instanzen gilt, kein Rechtsschutzbedürfnis mehr besteht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog und aus § 73 a SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).

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