SG Berlin, Beschluss vom 15.03.2010 - S 174 AS 7801/10 ER
Fundstelle
openJur 2012, 12647
  • Rkr:

Beim Zuschuss für den Ersatz eines defekten Kühlschrankes liegt kein Härtefall-Anspruch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09; 1 BvL 3/09; 1 BvL 4/09) vor; denn es handelt sich hierbei nicht um einen laufenden, sondern nur einen einmaligen Bedarf. Ein solcher Ersatz muss aus der Regelleistung angespart werden.

Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin 1/3 der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Gründe

Der am 08.03.2010 beim Sozialgericht Berlin sinngemäß gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung der Antragstellerin,

1.)festzustellen, dass der Widerspruch vom 19.02.2010 gegen den Rückforderungsbescheid vom 15.02.2010 aufschiebende Wirkung hat,2.)die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihr vorläufig einen (weiteren) Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung zu gewähren,3.)Die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihr vorläufig einen Zuschuss zur Anschaffung eines Kühlschrankes zu gewähren,war abzulehnen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nicht erfüllt sind.

1.) Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung anordnen.

Der Antrag auf Feststellung, dass der Widerspruch der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 15.02.2010 aufschiebende Wirkung entfaltet, ist in entsprechender Anwendung des § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG statthaft. Zwar kommt vorläufiger Rechtsschutz nach einer unmittelbaren Anwendung dieser Vorschrift nicht in Betracht, denn der Widerspruch der Antragstellerin gegen den Erstattungsbescheid vom 15.02.2010 entfaltet bereits aufschiebende Wirkung, so dass es einer Anordnung durch das Gericht nicht bedarf. Die aufschiebende Wirkung entfällt nämlich insbesondere nicht nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Denn danach entfällt die aufschiebende Wirkung nur bei Bescheiden, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende aufheben, zurücknehmen, widerrufen, oder herabsetzen. Danach wird zwar bei der Aufhebung der Leistungsbewilligung für die Vergangenheit nach den §§ 45, 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) über Leistungen der Grundsicherung im Sinne des § 39 Nr. 1 SGB II entschieden, nicht aber bei der Rückforderung dieser Leistungen nach § 50 Abs. 1 SGB X (vgl. LSG Berlin-Brandenburg Beschluss v. 28.07.2006, L 14 B 350/06 AS ER sowie Beschluss v. 05.09.2007, L 32 B 1312/07 AS ER). Da der Bescheid der Antragsgegnerin vom 15.02.2010 zwei Verwaltungsakte enthält, nämlich den über die Aufhebung der Bewilligung und den über die Rückforderung, und sich die Antragstellerin aber gegen den Rückforderungsanspruch aus § 50 SBG X wendet, bezüglich dessen gerade keine sofortige Vollziehbarkeit nach § 39 Nr.1 SGB II besteht, entfaltet der Widerspruch der Antragstellerin vom 19.02.2010 aufschiebende Wirkung.

Zur Vermeidung von Rechtschutzlücken ist aber die entsprechende Anwendung des § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG in den Fällen geboten, in denen sich die Behörde über einen bestehenden Suspensiveffekt hinwegsetzt, indem sie den angefochtenen Verwaltungsakt trotz des eingelegten Rechtsmittels vollzieht bzw. die dem Verwaltungsakt innewohnende Tatbestandswirkung bei ihrem Verwaltungshandeln berücksichtigt (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 86b Rn. 5 und 15).

Ein eiliges Rechtschutzbedürfnis im Hinblick auf die Feststellung der aufschiebenden Wirkung besteht aber - nachdem die Antragsgegnerin die Forderung aus dem Rückforderungsbescheid im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens, am 10.03.2010, ruhend gestellt hat - nicht mehr.

2.) Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) voraus, dass die Voraussetzungen für einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht sind. Ein Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn nach der Prüfung der materiellen Rechtslage überwiegend wahrscheinlich ist, dass die Antragstellerin mit ihrem Begehren im hauptsächlichen Verwaltungs- oder Klageverfahren erfolgreich sein wird. Zum anderen muss eine gerichtliche Entscheidung deswegen dringend geboten sein, weil es der Antragstellerin wegen drohender schwerwiegender Nachteile nicht zuzumuten ist, den Ausgang eines Hauptverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund).

a) Die Antragstellerin hat hier das Vorliegen eines Anordnungsanspruches auf Gewährung eines (weiteren) Mehrbedarfes für kostenaufwändige Ernährung nicht glaubhaft gemacht.

Nach § 21 Abs. 5 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung. Hinsichtlich der Art und Höhe des Krankenkostzulage sollen nach den Gesetzesmaterialien (BT-Dr. 15/1516, 57) die vom Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge entwickelten Empfehlungen herangezogen werden. Dadurch wird eine möglichst einheitliche Gewährungspraxis gefunden (so auch: LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 09.12.2008, L 13 AS 4462/07, LSG Nordrhein-Westfalen, v. 12.03.2009, L 19 B 54/09 AS). Ein Abweichen von den Empfehlungen ist begründungsbedürftig (vgl. BVerfG, Entscheidung v. 20.06.2006, 1 BvR 2673/05), so dass die Empfehlung eine typisiert prägende Wirkung entfalten.

Zwar hat das Bundessozialgericht (BSG) zur Vorauflage der Empfehlungen entschieden, es handele sich jedenfalls nicht mehr um ein antizipiertes Sachverständigengutachten, obwohl in der Gesetzesbegründung auf sie verwiesen werde und sie auf verschiedenen Sachgebieten eingeholten medizinischen, ernährungswissenschaftlichen und statistischen Gutachten beruhten und allgemeine Anerkennung genössen (BSG, Urteil v. 27.2.2008, B 14/7b AS 64/06 R; zu den Voraussetzungen eines antizipierten Sachverständigengutachten: BSG SozR 3-2200 § 581 Nr. 8). Gestützt hat es das aber allein auf die veralteten Datenerhebungen der Vorauflage. Dementsprechend kommt der aktualisierten 3. Auflage, gestützt auf neuere Datenerhebungen (Empfehlungen 2008, S. 10), wohl wieder die Qualität eines antizipierten Sachverständigengutachtens zu (so auch zur Parallelvorschrift des § 30 Abs. 5 SGB XII: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 22.01.2009, S 8 SO 32/07; Hessisches LSG, Beschluss vom 22.12.2008, S 7 SO 7/08 B ER). Jedenfalls sind sie ohnehin ungeachtet dessen als Orientierungshilfe zu verwenden, von der nur bei konkreten Anhaltspunkten - welche hier nicht ersichtlich sind - im Einzelfall abzuweichen ist (BSG, 27.2.2008, a.a.O.).

Die Empfehlungen 2008 sehen nunmehr ausdrücklich vor, dass regelmäßig ein Mehrbedarf wegen Erkrankungen, welche mit einer diätischen Vollkost zu behandeln sind, zu denen Diabetes-mellitus Typ II, Hyperlipidämie, Hypertonie, Hyperurikämie sowie Ödeme zählt, nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht anzunehmen ist (Empfehlungen 2008, S. 11 f.). Begründet wird dies damit, dass ein ernährungswissenschaftliches Gutachten, April 2008, ergeben habe, dass eine solche Vollkost aus dem Ansatz auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003, der bei der Bemessung des Regelsatzes für die Ernährung bestimmt ist, zu finanzieren sei. (Empfehlungen 2008, S. 17 ff.). Die Antragstellerin hat hier weder substantiiert dargelegt noch glaubhaft gemacht, dass sie aufgrund der oben genannten Erkrankungen - über den bereits gewährten Mehrbedarf in Höhe von 36,00 €, für die bei der Antragstellerin ebenfalls diagnostizierte Niereninsuffizienz, hinaus – einen weiteren Bedarf für kostenaufwändige Ernährung hat.

b) Die Antragstellerin hat auch keinen Anordnungsanspruch auf Gewährung eines Kühlschrankes glaubhaft gemacht.

Nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB II sind Leistungen für die Erstausstattung für die Wohnung einschließlich Haushaltsgeräten nicht von der Regelleistung umfasst. Sie werden nach § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB II gesondert erbracht. Der Begriff der Erstausstattung im Sinne des § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB II ist nicht legal definiert, sondern bedarfsbezogen zu verstehen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 29.10.2007, L 20 AS 12/07). Die bedarfsbezogene Betrachtungsweise entspricht auch der ansonsten in der Rechtsprechung und Kommentarliteratur vorherrschenden Meinung. Abzugrenzen ist der Begriff der Erstausstattung nach allgemeiner Meinung vom so genannten Erhaltungs- und Ergänzungsbedarf. Der Begriff der „Erstausstattung“ umfasst die Bedarfe an allen Wohnungsgegenständen, die für eine geordnete Haushaltsführung und ein menschenwürdiges Wohnen erforderlich sind (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 14.02.2007, L 2 B 261/06 AS ER). Maßstab ist dabei (und war bereits schon unter Geltung des Bundessozialhilfegesetzes) die Orientierung am Verbraucherverhalten und dem Lebenszuschnitt auch unterer Einkommensgruppen (vgl. BVerwG, Urteil v. 01.10.1998, 5 C 19/97). Eine Verweisung auf die Anschaffung von gebrauchten Möbeln ist nicht zu beanstanden, denn der Verweis auf die Möglichkeit der Anschaffung von gebrauchten Möbeln ist keine (unzulässige) Ausgrenzung des Leistungsempfängers, sondern der Verweis auf ein übliches, sparsames Verhalten (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 14.02.2007, a.a.O.). Voraussetzung für einen Anspruch nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB II ist somit, dass es sich um eine Erstausstattung handelt. Die 57jährige Antragstellerin, die seit Jahren einen eigenen Haushalt führt, hat hier weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht, dass der Kühlschrank als Erstausstattung begehrt wird. Nach dem der hier streitgegenständliche Gegenstand ersetzt werden soll, liegt eine Erstausstattung nicht vor.

In Betracht kommt danach allein ein Anspruch nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II, wonach im Einzelfall ein von der Regelleistung umfasster und nach den Umständen des Einzelfalles unabweisbarer Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhaltes als Darlehen erbracht werden kann, wenn der Bedarf nicht durch eigenes Vermögen oder auf andere Weise gedeckt werden kann. Ob die Voraussetzungen vorliegen, kann hier dahinstehen, da die Antragstellerin ausdrücklich einen Zuschuss und kein Darlehen begehrt. Ein Anspruch auf einen Zuschuss scheidet nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II aber aus.

Schlussendlich kommt auch kein Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09; 1 BvL 3/09; 1 BvL 4/09) in Betracht. Danach folgt aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – bis zur Schaffung einer entsprechenden Regelung durch den Gesetzgeber – ein unmittelbarer Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums bei unabweisbaren,laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfen. Bei der Anschaffung eines Kühlschrankes handelt es sich aber um einen einmaligen Bedarf.

Schlussendlich hat die Antragstellerin auch einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht.

Ist – wie hier – eine Regelungsanordnung begehrt, so ist ein Anordnungsgrund dann gegeben, wenn die begehrte Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG. Dies ist der Fall, wenn es einem Antragsteller nicht zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten, wobei es auf eine Interessenabwägung ankommt (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 86b Rnr. 28).

Dies zugrunde gelegt, überwiegen hier die Interessen des durch § 3 Abs. 1 Satz 4 SGB II an die Grundsätze von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit gebundene Antragsgegnerin, keine Sozialleistungen möglicherweise zu Unrecht zu erbringen, gegenüber den Interessen der Antragstellerin. Die Antragstellerin hat keine Tatsachen glaubhaft gemacht, die es für sie unzumutbar erscheinen lassen, auf eine Entscheidung in der Hauptsache verwiesen zu werden. Sie hat insbesondere nicht glaubhaft gemacht, dass ihre wirtschaftlichen Verhältnisse es nicht zulassen, auf eine Entscheidung in der Hauptsache verwiesen zu werden und die Aufwendungen bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache aus eigenen Mitteln vorzufinanzieren. Hiervon kann nicht ohne weiteres ausgegangen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 193 SGG.

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