OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16.12.2009 - OVG 10 N 70.09
Fundstelle
openJur 2012, 12055
  • Rkr:
Tenor

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das ihr am 16. Juni 2009 zugestellte Urteil des Verwaltungsgerichts Potsdam wird abgelehnt.

Die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens trägt die Beklagte.

Gründe

Der allein auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, weil die Beklagte den Zulassungsgrund nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG entsprechenden Weise dargelegt hat.

Wird die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend gemacht, so ist zur Darlegung erforderlich, dass eine höchstrichterlich oder obergerichtlich bislang nicht geklärte, konkrete und zugleich entscheidungserhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen und erläutert wird, warum sie über den Einzelfall hinaus bedeutsam ist und im Interesse der Rechtseinheit oder der Rechtsfortbildung der Klärung in einem Berufsverfahren bedarf (vgl. u.a. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12. Juni 2007 - OVG 10 N 63.06 -, veröffentlicht in juris; Marx, AsylVfG, 7. Aufl. 2009, § 78 Rn. 54). Mit der von der Beklagten formulierten Frage, ob Urteile türkischer Strafgerichte in vollem Umfang auf ihre inhaltliche Richtigkeit hin zu überprüfen sind, wenn der Ausländer behauptet, er habe die ihm in dem türkischen Urteil vorgeworfenen Taten nicht begangen, ist eine grundsätzliche Bedeutung jedoch nicht aufgezeigt.

Die Frage, ob deutsche Behörden oder deutsche Gerichte ein türkisches Strafurteil „in vollem Umfang auf inhaltliche Richtigkeit hin überprüfen“ müssen, wenn dessen Feststellungen bestritten werden, geht bereits an den tragenden Erwägungen des angefochtenen Urteils vorbei. Das Verwaltungsgericht hat sich nicht - wie von der Beklagten unterstellt - gleichsam an die Stelle des türkischen Gerichts gesetzt, das damals vorliegende Beweismaterial gewürdigt und einer vollen inhaltlichen Überprüfung unterzogen, nur weil der Kläger die Urteilsfeststellungen bestritten hat.

Soweit die Beklagte sinngemäß die Frage aufwirft, ob die in einem türkischen Strafurteil getroffenen Feststellungen im Rahmen eines Asylverfahrens hinsichtlich ihrer inhaltlichen Richtigkeit in Zweifel gezogen werden dürfen, bedarf es keiner Klärung in einem Berufungsverfahren, weil diese Frage sich auf der Grundlage der höchstrichterlichen Rechtsprechung eindeutig beantworten lässt.

Es ist anerkannt, dass auch eine strafrechtliche Verfolgung im Heimatland eine politische Verfolgung darstellen kann, wenn nämlich objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet (vgl. BVerfG, Senatsbeschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315, 338; Kammerbeschluss vom 12. Februar 2008 - 2 BvR 2141/06 -, NVwZ-RR 2008, 643, zitiert nach juris, Rn. 22; Kammerbeschluss vom 29. April 2009 - 2 BvR 78/08 -, NVwZ 2009, 1035, zitiert nach juris, Rn. 18). Ein solcher „Politmalus“ liegt nicht nur vor, wenn im Rahmen eines Strafverfahrens härtere Maßnahmen als bei „gewöhnlichen“ Straftätern ergriffen werden, sondern auch - und erst recht - wenn das Strafverfahren selbst als Mittel zur Verfolgung missbraucht wird. Wird ein solcher Politmalus geltend gemacht und lässt er sich nicht von vornherein ausschließen, so ist es Aufgabe des Verwaltungsgerichts, den diesbezüglichen Sachverhalt in einer der Bedeutung des Asylgrundrechts entsprechenden Weise aufzuklären (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 15. Februar 2000 - 2 BvR 752/97 -, InfAuslR 2000, 254, 259; Kammerbeschluss vom 12. Februar 2008, a.a.O., Rn. 28). Liegt eine Verurteilung durch ein türkisches Staatssicherheitsgericht vor, bedarf es daher einer Auseinandersetzung mit dem Einzelfall, um festzustellen, ob in der Anwendung der Strafgesetze durch das Gericht eine Maßnahme politischer Verfolgung zu erblicken war, wobei auch die Behauptung, im Zuge der Ermittlungen gefoltert worden zu sein, ein Indiz für das Bestehen eines „Politmalus“ sein kann, dem nachzugehen ist (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Februar 2008, a.a.O., Rn. 29; zur Überprüfung der Rechtsanwendung türkischer Gerichte durch das Verwaltungsgericht auch BVerwG, Beschluss vom 3. August 2006 - 1 B 20.06 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 339, zitiert nach juris). Wenn ein Asylsuchender unter Vorlage eines (echten) Strafurteils geltend macht, wegen eines asylrelevanten Merkmals zu Unrecht strafrechtlich verfolgt und verurteilt worden zu sein, ist das Verwaltungsgericht daher nicht nur berechtigt, sondern von Verfassungs wegen sogar verpflichtet, diesem Vortrag nachzugehen, und darf sich nicht darauf beschränken, ungeprüft auf die Feststellungen in dem ausländischen Urteil zurückzugreifen. In welchem Maße und mit welcher Intensität die Überprüfung zu erfolgen hat, ist eine Frage des jeweiligen Einzelfalls und vom Vortrag des Asylsuchenden und den übrigen Umständen des Falles abhängig. Diese zum Asylgrundgrundrecht entwickelten Grundsätze sind auch bei der Frage der Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG heranzuziehen (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand August 2009, § 60 Rn. 60).

Soweit die Beklagte in ihrem Zulassungsantrag vom 16. Juli 2009 vorträgt, das Asylverfahren diene nicht der „Superrevision“ ausländischer Gerichtsurteile, und in diesem Zusammenhang u.a. auf ein Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg verweist, wird im Übrigen darauf hingewiesen, dass dieses Urteil vom Bundesverfassungsgericht bereits mit Beschluss vom 29. April 2009 (a.a.O.) wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG (Willkürverbot) aufgehoben worden ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylVfG nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar; das Urteil des Verwaltungsgerichts Potsdam ist rechtskräftig (§ 80, § 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).

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