VG Potsdam, Urteil vom 18.07.2008 - 11 K 2483/04
Fundstelle
openJur 2012, 9037
  • Rkr:

§ 136 Abs. 3 SGB IX ist kein mehr oder weniger unverbindlicher organisationsrechtlicher Programmsatz. Die Norm dient dem Rehabilitationsinteresse des einzelnen behinderten Menschen und ist im Regelfall rechtlich zwingend. Nur bei Vorliegen von Umständen, die den Fall als atypisch erscheinen lassen, darf die Behörde anders verfahren als im Gesetz vorgesehen und den atypischen Fall nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden.Ein atypischer Fall liegt nicht allein deshalb vor, weil der behinderte Mensch auf absehbare Zeit nicht in der Lage ist, ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen, und die Wohnstätte eine geeignete interne Tagesstruktur anbietet.

Tenor

Es wird festgestellt, dass der Bescheid des Beklagten vom 26. Mai 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Juli 2004 rechtswidrig gewesen ist. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Der 1952 geborene Kläger leidet unter einer Zerebralparese nach schwerer frühkindlicher Hirnschädigung mit tetraspastischem Syndrom. Er wohnt seit 1962 in Wohnstätten der Samariteranstalten F., seit 1998 im Wohnbereich „L.“ in B./N. .

Im Jahr 2000 bewilligte die Bundesanstalt für Arbeit eine Maßnahme im Eingangsverfahren der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Der Verlaufsbericht der ebenfalls von den Samariteranstalten getragenen Christophorus-Werkstätten in F. vom 19. April 2000 schließt mit der Einschätzung, der Kläger werde auch nach der maximal zur Verfügung stehenden Zeit beruflicher Förderung nicht in der Lage sein, ein Mindestmaß an verwertbarer Leistung zu erbringen. Ab Mai 2000 besuchte der Kläger den der Werkstatt angegliederten Förder- und Beschäftigungsbereich (FBB). Die Kosten trug der Beklagte.

Mit dem Entwicklungsbericht vom 24. Februar 2003 beantragten die Leiterin des FBB und der Leiter des Begleitenden Dienstes die Weiterführung der Maßnahme. Unter anderem wird ausgeführt, der Kläger habe sich gut in seine Gruppe eingelebt und einen Kontakt zu den anderen Beschäftigten aufgebaut. Sein Sprachschatz sei auf wenige Wörter beschränkt. Er habe für sich eigene Möglichkeiten entwickelt, um sich mittels Mimik und Gestik mit anderen zu verständigen. Durch seine Versuche zur Kommunikation mit den anderen Betreuten werde deutlich, wie wichtig ihm das Gruppenleben sei.

Laut Aktenvermerk des Beklagten erklärte die Betreuerin des Klägers bei einer Anhörung am 14. April 2003, der Kläger gehe schon wegen der anderen Umgebung gerne in die „Werkstatt“. Aus seiner Wohngruppe besuchten alle Bewohner die „Werkstatt“.

Am 14. April 2003 schloss das Landesamt für Soziales und Versorgung mit den Samariteranstalten für die Wohnstätte L. eine Vereinbarung gemäß § 93 Abs. 2 BSHG. In der Leistungsvereinbarung wird die Einrichtung als Wohnstätte für erwachsene WfbM-Besucher und im Heim betreute ältere geistig Behinderte beschrieben. Hinsichtlich des zeitlichen Umfangs wurde eine Betreuung außerhalb der WfbM-Zeiten vereinbart.

Mit Schreiben vom 6. Mai 2003 erklärte die Bereichsleiterin „Wohnen für Erwachsene“ der Samariteranstalten, in der Wohnstätte L. werde keine dem FBB adäquate Tagesförderung angeboten. Die Betreuung finde weder in separaten und entsprechenden Räumlichkeiten noch mit explizit verhandeltem Kostenansatz bzw. einer eigenen Leistungsbeschreibung statt.

Der Beklagte verfügte mit Bescheid vom 26. Mai 2003, die Eingliederungshilfe im FBB sei nur befristet bis 31. Mai 2003 bewilligt worden. Der Kläger könne nicht in den Berufsbildungsbereich wechseln. Zum jetzigen Zeitpunkt bestehe nicht die Aussicht, in absehbarer Zeit ein Mindestmaß an verwertbarer Arbeit zu erbringen. Der Kläger erhalte vollstationäre Eingliederungshilfe in der Einrichtung „L.“. Im Vordergrund stehe das lebenspraktische Training. Alle erforderlichen Maßnahmen könnten über die vollstationäre Einrichtung abgesichert werden.

Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. Juli 2004 zurück. Menschen mit Behinderungen, die wie der Kläger in Wohnstätten lebten, könnten an der Förderung in der Gruppe unter dem verlängerten Dach der WfbM nur dann teilnehmen, wenn absehbar sei, dass sie werkstattfähig werden könnten oder die Wohnstätte, in der sie lebten, auch zukünftig (planerisch) eine strukturierte Förderung nicht bieten werde.

Der Kläger trägt vor, er habe als behinderter Mensch einen Anspruch darauf, nicht auf das Wohnen in einer Wohnstätte reduziert zu werden. Das Angebot des FBB sei sowohl in sächlicher als auch in personeller Hinsicht so ausgestattet, dass seinen Belangen und Bedürfnissen Rechnung getragen werden könne. In der Wohnstätte sei dies nicht der Fall.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 26. Mai 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 5. Juli 2004 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Kosten für den Besuch in einer Einrichtung im Sinne des § 136 Abs. 3 SGB IX zu übernehmen,

hilfsweise festzustellen, dass der Bescheid des Beklagten vom 26. Mai 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Juli 2004 rechtswidrig gewesen ist.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte trägt vor, der Kläger habe keinen Anspruch auf Betreuung in einer Fördergruppe, die der WfbM angegliedert sei. Die Vorschriften des SGB IX seien subsidiär. Die Entscheidung, ob der Kläger nach drei Jahren Förderung im FBB weiterhin dort habe verbleiben können, sei nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen gewesen. Da die Ziele der dem Kläger im FBB zuteil werdenden Maßnahmen identisch seien mit denen, die ihm in der Wohnstätte zuteil würden, er beim Verbleib im FBB also doppelt gefördert werde, sei es ermessensfehlerfrei gewesen, die Eingliederungshilfe im FBB einzustellen. Es treffe nicht zu, dass dem Kläger eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in der Wohnstätte verwehrt sei. Den Samariteranstalten sei für die Betreuung des Klägers ein erhöhter Personalschlüssel zuerkannt worden. Im Haus „L.“ seien im Gegensatz zu anderen Häusern die Voraussetzungen für eine entsprechende Betreuung und Förderung mit abgesicherter Tagesstruktur geschaffen. Seit Ausgliederung aus dem FBB und Eingliederung in die tagesstrukturierenden Maßnahmen der Wohnstätte sei der Kläger aufgeschlossen, fröhlich und aktiver bei Beschäftigungseinheiten dabei und sein Gesundheitszustand habe sich sichtlich verbessert. Es sei nicht erkennbar, dass er die Arbeit im FBB vermisse.

Mit Beschluss vom 13. Mai 2008 hat die Kammer den Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des den Kläger betreffenden Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen.

Gründe

Die Klage hat mit dem Hilfsantrag Erfolg.

Der Hauptantrag ist zulässig für die Zeit bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides im Juli 2004.Der Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe kann grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang in zulässiger Weise zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gemacht werden, in dem der Träger der Sozialhilfe den Hilfefall geregelt hat. Das ist regelmäßig der Zeitraum bis zur letzten Verwaltungsentscheidung, also bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. August 1995 - 5 C 9.94 -, FEVS 46, 221). Zum einen ist die Sozialhilfe keine rentengleiche wirtschaftliche Dauerleistung mit Versorgungscharakter, sie dient vielmehr (im Regelfall) dazu, eine gegenwärtige Notlage zu beheben, und es ist nicht Sache des Verwaltungsgerichts, den Hilfefall unter Kontrolle zu halten. Zum anderen ist das Vorverfahren im Sinne der §§ 68 ff. VwGO, das dem gerichtlichen Verfahren u.a. aus Gründen der Filterwirkung vorauszugehen hat, im Anwendungsbereich des Bundessozialhilfegesetzes durch die Besonderheit gekennzeichnet, dass vor dem Erlass des Bescheides über einen Widerspruch gegen die Ablehnung der Sozialhilfe gemäß § 114 Abs. 2 BSHG sozial erfahrene Personen beratend zu beteiligen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Januar 1986 - 5 C 36.84 -, FEVS 36, 1).

Der Beklagte hat den Hilfefall auch nicht - ausnahmsweise - für einen längeren Zeitraum geregelt. Die Auslegung eines Ablehnungsbescheides in diesem Sinne setzt voraus, dass sich der Hilfefall deshalb in die Zukunft hinein regeln lässt, weil abzusehen ist, dass sich der Sachverhalt nicht ändern wird, oder weil in der Zukunft eintretende Änderungen bereits bekannt sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Januar 1986, a.a.O.). Maßgeblich ist der - gegebenenfalls schlüssig geäußerte - Regelungswille der Behörde (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. August 1995, a.a.O.). Der Beklagte hat im Ausgangsbescheid die Einstellung der Hilfegewährung damit begründet, „zum jetzigen Zeitpunkt“ bestehe keine Aussicht, ein Mindestmaß an verwertbarer Arbeit zu erbringen. Ferner stellt der Widerspruchsbescheid auf die nach Meinung des Beklagten bei der Ermessensausübung zu berücksichtigende Qualität der Förderung in der vollstationären Einrichtung ab. Der Beklagte stützte seine Entscheidung also auf Tatsachen, deren Veränderung nicht von vornherein auszuschließen war. Aus seiner Sicht war es daher erforderlich, den Hilfefall auch nach Erlass des Widerspruchsbescheides weiter unter Kontrolle zu halten. Damit wäre die Annahme einer Dauerregelung nicht zu vereinbaren.

Im Rahmen der Zulässigkeit ist der Hauptantrag unbegründet. Die Ablehnung der Übernahme der Kosten für die Betreuung des Klägers im FBB ist nicht (mehr) rechtswidrig und verletzt den Kläger daher gegenwärtig nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO). In diesem Zusammenhang kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger ursprünglich einen Anspruch auf Kostenübernahme hatte. Nach dem Ablauf des Streitzeitraums steht dem Anspruch jedenfalls der Grundsatz „Keine Sozialhilfe für die Vergangenheit“ entgegen. Dieser Grundsatz folgt aus dem Wesen der begehrten Leistung, die als staatliche Hilfe zur Behebung einer gegenwärtigen Notlage gedacht ist. Ihre Aufgabe, die Führung eines menschenwürdigen Lebens zu ermöglichen, lässt sich nicht im Nachhinein verwirklichen.

Ausnahmen hiervon kommen in Eilfällen um der Effektivität der gesetzlichen Gewährung des Rechtsanspruchs des Bürgers auf Fürsorgeleistungen willen und bei Einlegung von Rechtsbehelfen um der Effektivität des Rechtsschutzes willen in Betracht. Diese Voraussetzungen können hier als gegeben unterstellt werden. Weitere Bedingung ist aber, dass der Hilfebedürftige den Bedarf anderweitig gedeckt hat und dass dies den Charakter der Vorläufigkeit hatte - beispielsweise durch den Einsatz von Schonvermögen oder durch Zuwendungen Dritter mit dem Vorbehalt der Rückzahlung (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juni 1994 - 5 C 26.92 -, FEVS 45, 138). Der Anspruch auf Sozialhilfe wird dann zu einem Anspruch auf Aufwendungsersatz. Im vorliegenden Fall macht der Kläger derartige Aufwendungen jedoch nicht geltend. Sein Bedarf blieb ungedeckt, denn er ist im Streitzeitraum nicht im FBB betreut worden.

Der Hilfsantrag ist zulässig. Es handelt sich um eine Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO. Der Kläger hat ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung. Eine solches Feststellungsinteresse ist unter anderem dann gegeben, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass die Verwaltungsbehörde in naher Zukunft auf einen gleichartigen Antrag hin eine auf gleichartigen Erwägungen beruhende negative Entscheidung treffen könnte (Wiederholungsgefahr, vgl. BVerwG, Urteil vom 25. August 1993 - 6 C 7.93 -, NVwZ-RR 1994, 234). Dies ist hier zu bejahen. Die maßgebliche Rechtslage hat sich durch den Übergang vom Bundessozialhilfegesetz zum Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch nicht geändert. Der Beklagte ist auch gegenwärtig der Auffassung, die Entscheidung betreffend die Übernahme der Kosten für die Betreuung in einer Einrichtung im Sinne des § 136 Abs. 3 SGB IX stehe in seinem Ermessen. Dieses will er weiterhin im Sinne einer Förderung in der vollstationären Einrichtung ausüben.

24Der Hilfsantrag ist begründet. Die Ablehnung der Kostenübernahme war bis zum Ablauf des Regelungszeitraums rechtswidrig. Der Kläger hatte aus § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG/§ 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 136 Abs. 3 SGB IX einen Anspruch auf Kostenübernahme. Der Kläger war unstreitig wesentlich behindert im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG/§ 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und erfüllte nicht die in § 136 Abs. 2 SGB IX normierten Voraussetzungen für die Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen. § 136 Abs. 3 SGB IX sieht in einem solchen Fall vor, dass die behinderten Menschen in Einrichtungen und Gruppen betreut und gefördert werden sollen, die der Werkstatt angegliedert sind. Dabei handelt sich nicht lediglich um einen mehr oder weniger unverbindlichen organisationsrechtlichen Programmsatz, mit dem den Werkstätten aufgegeben wird, ein Leistungsangebot auch für diejenigen behinderten Menschen vorzuhalten, die wegen mangelnder „Werkstattfähigkeit“ keinen Zugang zur WfbM als Institution haben (anders wohl Haines/Jacobs, in: LPK-SGB IX, 1. Auflage 2002, § 136 Rdnr. 17; vgl. auch Knittel, SGB IX, Stand 2008, § 136 Rdnr. 29). Auch will das Gesetz mit dem Wort „sollen“ nicht nur einen Ausnahmefall regeln (in diesem Sinne aber - „sehr kleiner Kreis von behinderten Menschen“ - Pahlen, in: Neumann u. a., SGB IX, 11. Auflage 2005, § 136 Rdnr. 14). Die Betreuung unter dem „verlängerten Dach der Werkstatt“ ist eine Maßnahme der sozialen Eingliederung (vgl. BT-Drucks. 13/2764, S. 7). Die Norm dient dem Rehabilitationsinteresse des einzelnen behinderten Menschen und ist daher eine „Soll“-Vorschrift im verwaltungsrechtlichen Sinne. Derartige Normen sind im Regelfall für die mit ihrer Durchführung betraute Behörde rechtlich zwingend und verpflichten sie, grundsätzlich so zu verfahren, wie es im Gesetz bestimmt ist. Im Regelfall bedeutet das „Soll“ ein „Muss“. Nur bei Vorliegen von Umständen, die den Fall als atypisch erscheinen lassen, darf die Behörde anders verfahren als im Gesetz vorgesehen und den atypischen Fall nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Juli 1992 - 5 C 39.90 -, BVerwGE 90, 275, m.w.N.).

§ 136 Abs. 3 SGB IX gilt gemäß § 39 Abs. 4 Satz 1 BSHG/§ 53 Abs. 4 Satz 1 SGB XII bzw. § 7 Satz 1 SGB IX auch im Anwendungsbereich des Sozialhilferechts. Nichts anderes folgt daraus, dass sich die Voraussetzungen für die Leistungen zur Teilhabe gemäß § 39 Abs. 4 Satz 2 BSHG/§ 53 Abs. 4 Satz 2 SGB XII bzw. § 7 Satz 2 SGB IX für den Träger der Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz bzw. dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch richten. Die Voraussetzungen betreffen das „Ob“ der Leistung (vgl. Brühl, in: LPK-BSHG, 6. Auflage 2003, § 39 Rdnr. 36). Zu ihnen gehören insbesondere die Grundsätze der Bedarfsdeckung (§§ 1 Abs. 2, 39 Abs. 1 BSHG/§§ 1, 53 Abs. 1 SGB XII) und des Nachrangs (§§ 2 Abs. 1, 28 Abs. 1 BSHG/§§ 2 Abs. 1, 19 Abs. 3 SGB XII). § 136 Abs. 3 SGB IX normiert aber nicht das „Ob“, sondern das „Wie“ der Leistung. Die Anwendbarkeit der Vorschrift ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil sich aus dem Sozialhilferecht Abweichendes ergibt. Eine solche Annahme liegt schon deshalb fern, weil die Norm dann in weitem Umfang gegenstandslos wäre. Für die von ihr vorgesehene Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist nur in Ausnahmefällen neben dem Träger der Sozialhilfe ein anderer - vorrangig in Anspruch zu nehmender - Rehabilitationsträger zuständig (vgl. Knittel, a.a.O. Rdnr. 34). Davon abgesehen widerspricht § 136 Abs. 3 SGB IX insbesondere nicht dem Individualisierungsgrundsatz (§ 3 Abs. 1 Satz 1 BSHG/§ 9 Abs. 1 SGB XII). Dieser Grundsatz hindert den Gesetzgeber nicht daran, die Form der Hilfe generell zu regeln (vgl. etwa den Vorrang der offenen Hilfe gemäß § 3a BSHG/§ 13 Abs. 1 SGB XII oder den Anspruch auf Beschäftigung in einer WfbM gemäß § 136 Abs. 2 SGB IX). Der Besonderheit des Einzelfalles wird jeweils dadurch Rechnung getragen, dass solche Vorgaben, soweit erforderlich, im Ausnahmefall Abweichungen zulassen. Dem genügt auch die „Soll“-Vorschrift des § 136 Abs. 3 SGB IX.

Zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides war der Beklagte verpflichtet, die Kosten für die Betreuung in einer Einrichtung im Sinne des § 136 Abs. 3 SGB IX zu übernehmen. Es lag kein die Einräumung von Ermessen begründender Ausnahmefall vor. Der Beklagte hat die Einstellung der Hilfe in erster Linie damit gerechtfertigt, der Kläger sei nach gegenwärtigem Kenntnisstand auf absehbare Zeit nicht in der Lage, ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen. Mit diesem Argument wäre der Ausschluss von Leistungen im Berufsbildungsbereich zu rechtfertigen (§ 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX), nicht dagegen der Ausschluss von Leistungen im FBB. Der räumliche Zusammenhang gewährleistet zwar auch die Durchlässigkeit zur Werkstatt (vgl. Wendt, in: Neumann, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, 1. Auflage 2004, § 22 Rdnr. 21; Schorn, in: Müller-Wenner/Schorn, SBG IX, 2003, § 136 Rdnr. 45; Haines/Jacobs, a.a.O. Rdnr. 17). Dies ändert aber nichts daran, dass die Situation des Klägers sich nicht wesentlich von der anderer behinderter Menschen unterschied, die keiner Beschäftigung in einer WfbM nachgehen. Wer die Voraussetzungen für eine solche Beschäftigung nicht erfüllt, ist in vielen Fällen nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft nicht in der Lage, ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen.

27Auch lässt sich ein atypischer Fall im Sinne des § 136 Abs. 3 SGB IX nicht damit begründen, die Wohnstätte biete eine geeignete interne Tagesstruktur an. Dem Gesetz geht es darum, dass die Tagesförderung nicht in der vollstationären Einrichtung, sondern davon räumlich getrennt in der Nähe der Werkstatt erfolgt. Denn allein schon der regelmäßige Orts-, Gruppen- und Betreuungswechsel bewirkt eine Erweiterung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Die Folgen einer Behinderung werden gemildert, wenn ein behinderter Mensch die Gelegenheit erhält, einen den Gewohnheiten nichtbehinderter Menschen ähnlichen Tagesablauf zu erleben. Indem so weit wie möglich vermieden wird, dass einzelne behinderte Menschen an Werktagen in der Wohnstätte zurückbleiben, während die Mitbewohner einer Beschäftigung in der WfbM nachgehen, wird zudem der Gefahr einer sozialen Ausgrenzung entgegengewirkt.

Ein atypischer Fall, der unter den Voraussetzungen des § 136 Abs. 3 SGB XI das Ermessen der Behörde eröffnen würde, läge etwa dann vor, wenn ein regelmäßiger Ortswechsel mit besonderen Beschwernissen verbunden wäre, eine dem individuellen Bedarf entsprechende Förderung in der der Werkstatt angegliederten Einrichtung nur eingeschränkt erbracht werden könnte oder der Integration in die Gruppe erhebliche Schwierigkeiten entgegenstünden. Eine derartige Sondersituation war bei dem Kläger nicht gegeben.

Nach alledem kommt es auf den Streit der Beteiligten über die Qualität der Förderung in der vollstationären Einrichtung nicht an. Nur vorsorglich ist darauf hinzuweisen, dass der Beklagte sich für seine positive Einschätzung im wesentlichen auf Umstände beruft, die erst nach dem hier maßgeblichen Zeitpunkt - dem Erlass des Widerspruchsbescheides - eingetreten sind (Erhöhung des Personalschlüssels, Änderung der Leistungsvereinbarung, Sozialbericht der Wohnstätte), und dass diese Umstände für sich genommen keinen atypischen Fall im Sinne des § 136 Abs. 3 BSHG begründen können, zumal die fachliche Einschätzung der Wohnstätte vom 10. September 2004 zu dem Ergebnis kommt, dass die an den Kläger erbrachten Leistungen durch die Ausgliederung aus dem FBB abgesenkt worden sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.