LSG der Länder Berlin und Brandenburg, Beschluss vom 11.12.2007 - L 1 B 616/07 KR ER
Fundstelle
openJur 2012, 7585
  • Rkr:
Tenor

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller auch dieaußergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zuerstatten.

Gründe

I.

Der bei der Antragsgegnerin versicherte Antragsteller unternahm am 15. Mai 2007 einen Suizidversuch. Er schoss sich viermal in die Herzgegend. Er überlebte und ist seither arbeitsunfähig. Die Antragsgegnerin zahlte ab 10. Juli 2007 Krankengeld. Mit Bescheid vom 15. August 2007 teilte sie dem Antragsteller -vertreten durch seinen Betreuer- mit, die weitere Zahlung von Krankengeld über den 25. Juli 2007 hinaus „nach Einsicht in den Reha-Entlassungsbericht vom 03. August 2007 und unter Anwendung der Rechtsvorschrift des § 52 Abs. 1 Fünftes Sozialgesetzbuch“ (SGB V) zu versagen. Dieser erhob Widerspruch. Er hat am 03. Oktober 2007 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Berlin (SG) beantragt.

Das SG hat mit Beschluss vom 17. Oktober 2007 die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vom 03. Oktober 2007 bis zum 03. Januar 2008, längstens bis zu und vorbehaltlich einer bestandskräftigen Ablehnung, Krankengeld nach den Vorschriften des SGB V zu gewähren.

Der Antragsteller habe einen Anordnungsanspruch mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht. Nach der einzig möglichen und auch nur gebotenen überschlägigen Prüfung stünde ihm ein Anspruch auf Krankengeld nach §§ 44 Abs. 1, 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V zu. Die Arbeitsunfähigkeit werde nicht in Frage gestellt. Ausweislich des ärztlichen Entlassungsberichtes könne der Antragsteller seine bisherige Tätigkeit bereits aus psychologischer Sicht nicht mehr ausüben. Dem Anspruch stehe auch nicht § 52 Abs. 1 SGB V entgegen, wonach die Krankenkasse u. a. das Krankengeld ganz oder teilweise für die Dauer der Krankheit versagen könne, die sich ein Versicherter vorsätzlich oder bei einem von ihm begangenen Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen zugezogen habe. Da der Selbsttötungsversuch straflos sei, komme hier allein eine vorsätzliche Zuziehung einer Krankheit als Ausschlussgrund in Betracht. Die Voraussetzungen lägen jedoch allem Anschein nicht vor, wobei Zweifel am Vorliegen der Versagungsvoraussetzungen zu Lasten der Antragsgegnerin gingen. Diese trage die materielle Beweislast und damit das Risiko der Unaufklärbarkeit.

Hier fehle es bereits an einer hinreichenden Sicherheit der Kausalität zwischen dem Suizidversuch und der (jetzigen) Arbeitsunfähigkeit, da der Antragsteller seinen Beruf aus psychologischer Sicht nicht mehr ausüben könne.

Ferner fehlten auch hinreichende Anhaltspunkte, die auf eine vorsätzliche und schuldhafte Zuziehung der Erkrankung schließen ließen. § 52 SGB V bezwecke den Schutz der Solidargemeinschaft der Versicherten vor grob unsolidarischem Verhalten. Der Versicherte, der die gesetzliche Risikoausgleichsgemeinschaft wegen Leistungen in Anspruch nehme, deren vermeidbare Voraussetzung er selbst vorsätzlich oder im Zusammenhang mit vorsätzlichen Straftaten mit erheblichem Unrechtsgehalt geschaffen habe, missbrauche diese. Die Folge solchen Verhaltens sei versicherungsfremd. Zugleich verletze der Versicherte dadurch auch in für die Gerechtigkeit unerträglicher Weise das in § 1 Satz 1 SGB V zum Ausdruck kommende Versicherungsprinzip. Der dadurch geschützte Versicherungsfall sei nämlich an der Grundvorstellung eines schicksalhaften Ereignisses orientiert. Insofern erscheine § 52 SGB V als ein normierter Sonderfall der Verwirkung in Form des Verbots widersprüchlichen Verhaltens (Bezugnahme auf Noftz in SGB V - gesetzliche Krankenversicherung § 52 SGB V Rdnr. 10). Voraussetzung sei Vorsatz im Sinne zumindest eines Eventualvorsatzes, in dessen Rahmen der Versicherte mit der Krankheit als mögliche Folge seines Verhaltens rechne und diese billigend in Kauf nehmen müsse. Voraussetzung sei weiter Schuldfähigkeit, bei deren Fehlen die Verantwortlichkeit, insbesondere wegen Vorsatzes, ausgeschlossen sei.

Hiervon ausgehend bestünden angesichts der vom Antragsteller vorgetragenen, seinem Selbsttötungsversuch vorangegangenen Geschehnisse (Kurzschluss- bzw. Panikreaktion nach einem von ihm verschuldeten Verkehrsunfall möglicherweise aufgrund eines Schocks) Zweifel an seiner Schuldfähigkeit. Auch sei nichts dafür ersichtlich, dass der Antragsteller mit dem Vorsatz geschossen habe, verletzt zu überleben und Krankengeld in Anspruch zu nehmen. Auch wenn man annehme, dass der Tötungsvorsatz grundsätzlich auch den Körperverletzungsvorsatz umfasse, so gelte dies nur als notwendiges Durchgangsstadium. Jedenfalls hätte der unterschiedliche Wille (Selbsttötungsvorsatz einerseits, bedingter notwendiger Eventualvorsatz hinsichtlich der damit verbundenen Körperverletzung andererseits) im Rahmen des Ermessens Berücksichtigung finden müssen.

Es bestehe ab Antragstellung bei Gericht auch ein eiliges Regelungsbedürfnis gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG (Anordnungsanspruch). Die Möglichkeit, Leistungen nach den Vorschriften des SGB II oder Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Vorschriften des SGB XII zu beantragen, lasse das eilige Regelungsbedürfnis nicht entfallen.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin vom 07. November 2007, welcher das SG nicht abgeholfen hat.

Sie führt aus, dass entgegen der erstinstanzlich vertretenen Auffassung Schuldfähigkeit des Antragstellers vorgelegen habe. Aus der mittlerweile vorhandenen Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg vom 29. Oktober 2007 ergebe sich, dass aus psychiatrischer Sicht davon auszugehen sei, dass zum Zeitpunkt der Tat mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bestanden habe.

Zwar sei der eigene Bescheid vom 15. August 2007 sicherlich wegen Ermessensnichtgebrauch rechtswidrig. Allerdings könne dieser Fehler noch geheilt werden. § 52 Abs. 1 Alternative SGB V greife nicht erst dann ein, wenn die Krankheit geplant werde, um später eine SGB V-Leistung zu erlangen. Vielmehr genüge der Vorsatz hinsichtlich der Krankheitszufügung selbst. Im Strafrecht werde davon ausgegangen, dass der Tötungsvorsatz stets einen Körperverletzungsvorsatz beinhalte. Es falle immer auch in den Bereich der Vorstellung des Suizidenten, dass er, um sein Vorhaben zu verwirklichen, seinem Körper irgendeinen Schaden zufügen müsse. Speziell der Antragsteller, der sich mit einer Waffe mehrfach in die Brust geschossen habe, müsse es in diesem Moment nicht nur möglich gehalten haben, sondern vielmehr gerade davon ausgegangen sein, dass er sich schwerste, wenn auch nicht im Einzelfall zum Tode führenden Verletzungen zufüge.

Schließlich beziehe der Antragsteller seit dem 01. August 2007 Arbeitslosengeld II. Für Bezieher von Arbeitslosengeld II sei der Krankengeldanspruch ausgeschlossen.

II.

Die zulässige Beschwerde bleibt erfolglos. Zur Begründung verweist der Senat auf die angefochtene Entscheidung des SG, deren Gründe er sich zu Eigen macht (§ 142 Abs. 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz).

Das Beschwerdevorbringen gibt zu einer anderen Einschätzung keinen Anlass. Der Bezug von Arbeitslosengeld II steht einem Anordnungsanspruch nicht entgegen. Krankengeld ist nur bei den Arbeitslosengeld II-Beziehern nach § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB V ausgeschlossen, die nur wegen Bezugs dieser Sozialleistung gesetzlich krankenversichert sind nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 a SGB V. Hier sieht jedoch alles danach aus, dass die Mitgliedschaft des Antragstellers als Arbeitnehmer (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V) aktuell noch gemäß § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V aufgrund des Anspruchs auf Krankengeld fortbesteht.

Auf die Frage, ob der Antragsteller während seines Suizidversuches am 15. Mai dieses Jahres zumindest Eventualvorsatz hinsichtlich der damit verbundenen Körperverletzung gehabt hat und diesbezüglich in keinem den freien Willen ausschließenden Zustand gewesen ist, kommt es - wie das SG zutreffend herausgearbeitet hat - gleich aus zwei Gründen nicht an:

Es ist bislang nicht ersichtlich, dass ein Zusammenhang zwischen der jetzigen Arbeitsunfähigkeit und dem Selbstmordversuch überhaupt besteht. Darauf ist die Antragsgegnerin in ihrer Beschwerde überhaupt nicht eingegangen.

Selbst wenn von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Antragstellers zur Zeit seines Suizidversuches und Vorsatz hinsichtlich der Körperverletzung ausgegangen wird, fehlt es an einer rechtmäßigen Versagungsentscheidung nach § 52 Abs. 1 SGB V. Der Antragsgegner geht selbst davon aus, bislang rechtswidrig gehandelt zu haben. Die jetzige lapidare Feststellung, Mängel des angefochtenen Bescheides könnten im Widerspruchsverfahren (theoretisch) noch geheilt werden, vermögen die Darlegung der Ermessenserwägungen, welche zu einer rechtmäßigen Versagung führen könnten, nicht zu ersetzen. Es ist keinesfalls ersichtlich, dass das Ermessen zwingend zu einer Krankengeldablehnung führen muss.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten haben (§ 177 SGG).

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