BGH, Urteil vom 22.09.2004 - IV ZR 200/03
Fundstelle
openJur 2012, 57065
  • Rkr:
Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 18. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 15. Juli 2003 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an den 25. Zivilsenat des Berufungsgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

Tatbestand

Der Kläger ist Versicherungsnehmer einer bei der Beklagten gehaltenen Lebensversicherung mit Berufsunfähigkeitszusatzversicherung. Versicherte Person ist seine Ehefrau. Die Parteien streiten darum, ob der Kläger von der Beklagten die vertraglich für den Fall einer Berufsunfähigkeit von mindestens 50% zugesagten Versicherungsleistungen (Berufsunfähigkeitsrente von jährlich 12.082 DM/6.174,43 € ab dem 1. August 1996 und Beitragsfreistellung in der Lebensversicherung) beanspruchen kann.

Nach der Behauptung des Klägers leidet seine Ehefrau an Bronchialasthma und einer Allergie gegen Latex. Weil sie in ihrem zuletzt ausgeübten Beruf als Krankenschwester regelmäßig mit Latex in Kontakt gekommen sei (insbesondere durch das Tragen von Latex-Handschuhen), habe sie bei der Arbeit unter ständigen Atembeschwerden gelitten und sei seit dem 15. Dezember 1995 zu jedenfalls 50% berufsunfähig.

Die Beklagte, die das bestreitet, hat den Rücktritt vom Zusatzversicherungsvertrag erklärt und ihre auf den Vertragsschluß gerichteten Willenserklärungen wegen arglistiger Täuschung angefochten, weil der Kläger beim Vertragsschluß arglistig Vorerkrankungen seiner Ehefrau verschwiegen habe.

Das Landgericht hat die Anfechtung für wirksam erachtet und die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht zwar festgestellt, der Berufsunfähigkeitszusatzversicherungsvertrag sei weder durch die Anfechtung noch durch den Rücktritt der Beklagten aufgelöst worden, im übrigen hat es die Klagabweisung aber bestätigt. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Gründe

Die Revision führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I. Das Berufungsgericht nimmt an, der Kläger habe den Eintritt einer Berufsunfähigkeit seiner Ehefrau von mindestens 50% nicht bewiesen. Dabei sei es nicht entscheidungserheblich, ob die Ehefrau des Klägers an einer spezifischen Latex-Allergie oder aber an einer unspezifischen Hyperreagibilität leide, wie sie der gerichtlich bestellte Sachverständige Prof. Dr. Dr. K. angenommen habe. Denn obwohl der Sachverständige davon ausgegangen sei, daß eine durch unterschiedlichste Stoffe (unspezifisch) ausgelöste Atemwegsverengung für den Betroffenen zu einem sogar ungünstigeren Beschwerdebild führe und schwerer beherrschbar sei als eine allein durch den Stoff Latex ausgelöste (spezifische) Hyperreagibilität, sei er zu dem Ergebnis gelangt, die von ihm diagnostizierte Lungenerkrankung schränke die Fähigkeit der Ehefrau des Klägers, als Krankenschwester zu arbeiten, um höchstens 30% ein. Der Sachverständige, an dessen Sachkompetenz nicht zu zweifeln sei, habe diese Einschätzung in seiner mündlichen Anhörung ergänzend damit begründet, daß es möglich sei, im Krankenhaus in einem Bereich mit weniger Reizstoffen zu arbeiten, etwa als Stationsschwester. Seine Feststellung zum Grad der Berufsunfähigkeit stehe im Einklang mit vom Kläger vorgelegten Äußerungen des Gutachters Prof. Dr. B. , der eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20% angenommen habe.

Im übrigen habe der Kläger nicht ausreichend zu der Frage vorgetragen, ob seine Ehefrau aufgrund ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten nicht wenigstens zu 50% in der Lage sei, eine andere Tätigkeit auszuüben, die ihrer bisherigen Lebensstellung entspreche. Ihr Bemühen um eine Beschäftigung auf anderen Gebieten zeige, daß sie sich eine andere Tätigkeit zutraue.

II. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Die vom Berufungsgericht als letztlich allein entscheidend angesehene Annahme des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. K. , die Ehefrau des Klägers sei zu höchstens 30% in ihrer Fähigkeit eingeschränkt, als Krankenschwester zu arbeiten, beruht nicht auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage.

a) Nach der Rechtsprechung des Senats (BGHZ 119, 263, 266; Urteil vom 29. November 1995 -IV ZR 233/94 -NJW-RR 1996, 345 unter 2 a) kommt es bei der Beurteilung, ob der Versicherte bedingungsgemäß berufsunfähig geworden ist, zunächst darauf an, wie sich seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen in seiner konkreten Berufsausübung auswirken. Deshalb muß bekannt sein, wie das Arbeitsfeld des Versicherten tatsächlich beschaffen ist und welche Anforderungen es an ihn stellt. Insoweit ist es Sache desjenigen, der den Eintritt von Berufsunfähigkeit geltend machen will, hierzu substantiiert vorzutragen und im Falle des Bestreitens Beweis für sein Vorbringen anzutreten. Als Sachvortrag genügt dazu nicht die Angabe des Berufstyps und der Arbeitszeit, vielmehr muß eine ganz konkrete Arbeitsbeschreibung verlangt werden, mit der die anfallenden Tätigkeiten ihrer Art, ihres Umfangs wie ihrer Häufigkeit nach für einen Außenstehenden nachvollziehbar werden.

Sache des Gerichts ist es dann zu entscheiden, ob zunächst eine Beweisaufnahme zu dem vorgetragenen Beruf in seiner konkreten Ausgestaltung geboten ist, deren Ergebnis einem anschließend einzuschaltenden Sachverständigen vorzugeben ist -sei es in alternativer Form, sei es aufgrund von Feststellungen, die das Gericht bereits zu treffen vermag. Jedenfalls muß der Sachverständige wissen, welchen -für ihn unverrückbaren -Sachverhalt er zugrunde zu legen hat. Erst dann erscheint es unbedenklich, ihn auch zu Frage und Ausmaß einer gesundheitsbedingten Einschränkung der Fähigkeit des Versicherten, den vorgegebenen Anforderungen gerecht zu werden, Stellung nehmen zu lassen (BGHZ aaO).

b) Das Berufungsgericht hat hier vor der Beauftragung des gerichtlich bestellten Sachverständigen keine Feststellungen dazu getroffen oder Vorgaben dazu gemacht, wie sich die berufliche Tätigkeit der Ehefrau des Klägers zuletzt konkret gestaltete und welchen Anforderungen sie im einzelnen unterlag. Insoweit bleibt offen, an welchen tatsächlichen Vorgaben sich die Einschätzung des Sachverständigen orientiert hat, die Versicherte sei in ihrer Berufsausübung zu maximal 30% beeinträchtigt. Das Berufungsgericht hätte aufgrund der Behauptungen des Klägers insbesondere Feststellungen treffen und dem Sachverständigen Vorgaben dazu machen müssen, mit welcher Häufigkeit die Ehefrau des Klägers im Rahmen der zuletzt ausgeübten Tätigkeit notwendigerweise mit dem Stoff Latex in Berührung kommen mußte. Erst danach hätte weiter geprüft werden können, ob die vom Kläger behauptete spezifische LatexAllergie sich angesichts der konkreten Ausgestaltung der beruflichen Tätigkeit der Versicherten entscheidend auf den Grad der Berufsunfähigkeit hätte auswirken können und ob es hier offen bleiben konnte, ob eine solche spezifische Latex-Allergie bei der Ehefrau des Klägers vorliegt.

c) Soweit die Revisionserwiderung im Rahmen der von ihr erhobenen Gegenrüge geltend macht, der Kläger sei bislang seiner Vortragslast nur unvollständig nachgekommen und habe insbesondere bisher die Arbeitsabläufe im zuletzt von seiner Ehefrau ausgeübten Beruf nicht ausreichend beschrieben (vgl. dazu BGH, Urteil vom 12. Juni 1996 -IV ZR 118/95 -VersR 1996, 1090 unter II 2 a; Urteil vom 29. November 1995 aaO unter 2 a), kann der Senat die Klage nicht abweisen. Da das Berufungsgericht den Vortrag des Klägers für ausreichend erachtet und demgemäß auf dessen Unvollständigkeit auch nicht hingewiesen, sondern stattdessen Beweis erhoben hat, ist dem Kläger nunmehr Gelegenheit zur Ergänzung seines Vorbringens zu geben (vgl. dazu BGHZ 119, 263, 267; BGH, Urteile vom 29. November 1995 aaO unter 3 und vom 12. Juni 1996 aaO unter II 2 d). Schon deshalb bedarf die Sache neuer Verhandlung.

2. Die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts zur Frage des Grades der Berufsunfähigkeit ist auch aus weiteren Gründen rechtsfehlerhaft.

a) Das Berufungsgericht meint, das Ergebnis des Gutachtens des gerichtlich bestellten Sachverständigen Prof. Dr. Dr. K. finde seine Bestätigung darin, daß die vom Kläger vorgelegten Privatgutachten des Sachverständigen Prof. Dr. B. sogar nur zur Annahme einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20% gelangten. Es hat dabei nicht bedacht, daß es sich bei der hier maßgeblichen Berufsunfähigkeit im privatversicherungsrechtlichen Sinn um einen eigenständigen Rechtsbegriff handelt, der nicht mit der Berufsunfähigkeit oder gar der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des gesetzlichen Rentenversicherungsrechts gleichgesetzt werden kann (vgl. dazu BGH, Urteil vom 12. Juni 1996 -IV ZR 116/95 -VersR 1996, 959 unter II 1 und 2 a).

b) Zu Recht beanstandet die Revision im übrigen, daß das Berufungsurteil sich unzureichend mit weiteren ärztlichen Stellungnahmen auseinandersetzt, die dem Ergebnis des gerichtlich bestellten Sachverständigen zur Einschätzung des Grades der Berufsunfähigkeit widersprechen. Es verletzt damit jedenfalls das dem Tatrichter bei Erhebung des Sachverständigenbeweises eingeräumte Ermessen und den Grundsatz freier tatrichterlicher Beweiswürdigung (§§ 412, 286 ZPO). Daneben lässt das Berufungsurteil besorgen, der Tatrichter habe auch den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt.

aa) Legt eine Partei ein privat eingeholtes medizinisches Gutachten vor, das im Gegensatz zu den Erkenntnissen des gerichtlich bestellten Sachverständigen steht, so ist vom Tatrichter besondere Sorgfalt gefordert (vgl. BGH, Urteile vom 15. Juni 1994 -IV ZR 126/93 -VersR 1994, 1054 unter 1; vom 11. Mai 1993 -VI ZR 243/92 -VersR 1993, 899 unter II 2 a, vom 19. Mai 1981 -VI ZR 220/79 -VersR 1981, 752 unter II 1 und vom 10. Dezember 1991 -VI ZR 234/90 -VersR 1992, 722 unter 2). Er darf in diesem Fall -wie auch im Fall sich widersprechender Gutachten zweier gerichtlich bestellter Sachverständiger -den Streit der Sachverständigen nicht dadurch entscheiden, daß er ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begründung einem von ihnen den Vorzug gibt (BGH, Urteile vom 11. Mai 1993 aaO und vom 23. September 1986 -VI ZR 261/85 -VersR 1987, 179 unter II 2 a; vgl. auch BGH, Urteil vom 9. Juni 1992 -VI ZR 222/91 -VersR 1992, 1015 unter II 2 c).

bb) Der Kläger hat im vorliegenden Rechtsstreit mehrere ärztliche Stellungnahmen vorgelegt, mit denen sich das Berufungsurteil nach den vorgenannten Maßstäben nicht ausreichend auseinandersetzt. So hatte der Arzt für Lungenund Bronchialheilkunde Dr. L. der Ehefrau des Klägers am 5. Juni 1998 bescheinigt, sie könne als Krankenschwester in einer neurologischen Station nur noch "2 Stunden bis unterhalbschichtig" arbeiten. Der Internist Dr. C. hatte am 21. Januar 2001 berichtet, die Patientin leide trotz intensiver medikamentöser Therapieversuche unter erheblichen rezidivierenden obstruktiven Beschwerden, welche eine systematische Corticoid-Therapie unumgänglich machten. Der Direktor der Medizinischen Hochschule H. , Prof. Dr. F. , hatte am 14. Februar 2001 im Rahmen einer kurzen gutachtlichen Stellungnahme ausgeführt, es lasse sich trotz maximaler Asthma-Therapie weiterhin eine deutliche Einschränkung der Lungenfunktion nachweisen. Aufgrund dessen und wegen der Vorgeschichte halte er die Ehefrau des Klägers für erwerbsunfähig in ihrem Beruf und in einem vergleichbaren Beruf.

Den Widerspruch der genannten ärztlichen Stellungnahmen zu der Annahme des gerichtlich bestellten Gutachters Prof. Dr. Dr. K. , es liege eine gut therapierbare und nur mittelschwere, geringgradige Ventilationsstörung vor, hat das Berufungsgericht nicht ansatzweise aufgelöst. Das Berufungsurteil läßt nicht einmal erkennen, ob und inwieweit das Berufungsgericht den betreffenden Klägervortrag überhaupt zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen einbezogen hat.

3. Für die neue Verhandlung weist der Senat darauf hin, daß die Auffassung des Berufungsgerichts, der Kläger allein trage die Darlegungslast dafür, daß seine Ehefrau auch nicht in einem der früheren beruflichen Tätigkeit vergleichbaren Beruf arbeiten könne, so nicht richtig ist.

Zwar trifft den Versicherungsnehmer grundsätzlich mit der Beweislast für den Eintritt von Berufsunfähigkeit auch die Beweislast dafür, daß keine andere Erwerbstätigkeit in einem die Berufsunfähigkeit ausschließenden Umfange ausgeübt werden kann. Diesen Negativbeweis kann der Versicherungsnehmer im Regelfall aber nur dann ordnungsgemäß antreten, wenn der Versicherer den von ihm beanspruchten Vergleichsberuf bezüglich der ihn prägenden Merkmale näher konkretisiert (Senatsurteile vom 29. Juni 1994 -IV ZR 120/93 -VersR 1994, 1095 unter 2 b und vom 12. Januar 2000 -IV ZR 85/99 -VersR 2000, 349 unter 3 a). Denn nur dann kann der Versicherungsnehmer das Bestreiten von Berufsunfähigkeit mit substantiierten Beweisangeboten bekämpfen. Der Umfang der Darlegungslast des Versicherers zu den prägenden Merkmalen des Vergleichsberufs hängt dabei jeweils davon ab, was der Versicherer beim Versicherungsnehmer insoweit an Kenntnissen voraussetzen darf.

Wenn der Versicherungsnehmer eine vom Versicherer als Vergleichsberuf in Anspruch genommene Tätigkeit schon tatsächlich ausübt, hat er -und nicht der Versicherer -Kenntnis davon, welche Anforderungen diese im einzelnen an ihn stellt. Dann genügt es nicht mehr, wenn der Versicherungsnehmer die Vergleichbarkeit der anderen Tätigkeit nur summarisch bestreitet, vielmehr muß er in einem solchen Fall von Anfang an vortragen und erforderlichenfalls beweisen, daß und warum er diese Tätigkeit nicht ausüben kann oder warum sie sonst den bedingungsgemäßen Anforderungen an eine Vergleichstätigkeit nicht genügt (Senatsurteile vom 12. Januar 2000 aaO und vom 30. November 1994 -IV ZR 300/93 -VersR 1995, 159 unter 3). Der vorliegende Fall, in welchem sich die Ehefrau des Klägers unstreitig lediglich erfolglos um andere Beschäftigungen beworben hatte, ist damit jedoch nicht zu vergleichen. Die bloße Bewerbung um andere Tätigkeiten, deren Ausübung sich auch als überobligationsmäßig darstellen könnte, besagt über deren Vergleichbarkeit nichts, noch verschafft sie allein dem Versicherungsnehmer die erforderlichen Kenntnisse über die konkreten Anforderungen der angestrebten Tätigkeiten.

Terno Seiffert Wendt Dr. Kessal-Wulf Felsch