VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 24.09.1991 - 10 S 2323/91
Fundstelle
openJur 2013, 7888
  • Rkr:

1. Zum Erfordernis hinreichender Tatsachenermittlungen der Verkehrsbehörde zur Klärung der Frage, ob ein Fahrerlaubnisinhaber zum Führen von Kraftfahrzeugen noch geeignet ist (hier: geringfügig über den Normbereich hinausgehende Leberfunktionswerte; im Anschluß an den Beschluß des Senats vom 7.3.1991 - 10 S 440/91 -).

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und begründet. Zu Unrecht hat das Verwaltungsgericht es abgelehnt, gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederherzustellen, den der Antragsteller gegen die Verfügung des Landratsamts Reutlingen vom 26.7.1991 erhoben hat, durch die dem Antragsteller unter Anordnung des Sofortvollzugs die Fahrerlaubnis entzogen worden ist. Nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand überwiegt das private Interesse des Antragstellers, vorläufig weiterhin Kraftfahrzeuge führen zu dürfen, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Fahrerlaubnisentzugs. Denn der auf Tatsachen gegründete dringende Verdacht, daß der Antragsteller zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht geeignet ist, ist nicht ausreichend belegt.

Gemäß § 4 Abs. 1 StVG muß die Verwaltungsbehörde einem Kraftfahrer, der sich zum Führen von Kraftfahrzeugen als ungeeignet erweist, die Fahrerlaubnis entziehen. Diese Vorschrift ist in § 15 b Abs. 1 StVZO dahin konkretisiert, daß u.a. ungeeignet ist, wer unter erheblicher Wirkung geistiger Getränke oder anderer berauschender Mittel am Verkehr teilgenommen oder sonst gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze erheblich verstoßen hat. Die Frage der Eignung ist als zukunftsorientierte Prognose auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Kraftfahrers zu beurteilen. Den Maßstab bildet die durch Tatsachen begründete Gefährlichkeit des Erlaubnisinhabers für den Straßenverkehr (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.3.1982, BVerwGE 65, 157; Urt. v. 20.2.1987, BVerwGE 77, 40).

Die in § 4 StVG vorausgesetzte Ungeeignetheit kann, wie auch ein Vergleich mit § 2 Abs. 1 S. 2 StVG zeigt, nur angenommen werden, wenn erwiesene Tatsachen vorliegen, die mit ausreichender Sicherheit zu dieser Schlußfolgerung führen. Es ist Sache der Verwaltungsbehörde, den Nachweis der Tatsachen zu führen (vgl. § 24 Abs. 2 LVwVfG); der Betroffene ist allerdings verpflichtet, an diesem Nachweis persönlich -- insbesondere durch Vorlage eines Gutachtens nach § 15 b Abs. 2 StVZO -- mitzuwirken. In dem Ausmaß, in dem die Behörde eine Ermittlungspflicht hat, geht eine etwaige Beweislosigkeit auch zu ihren Lasten (vgl. die Beschlüsse des Senats v. 17.11.1987 - 10 S 2363/87 -, vom 21.2.1991 - 10 S 335/91 - und vom 7.3.1991 - 10 S 440/91 -, NZV 1991, 287).

An den danach gebotenen umfassenden tatsächlichen Feststellungen des Landratsamts fehlt es bisher. Zwar konnte das Landratsamt auf der Grundlage des von ihm eingeholten medizinisch-psychologischen Gutachtens des TÜV Südwest e.V. -- ... -- vom 4.3.1991 sowie der dazu abgegebenen ergänzenden Stellungnahme vom 24.6.1991 davon ausgehen, daß nach wie vor Zweifel an der Eignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen bestehen. Diese Zweifel ergeben sich daraus, daß der Antragsteller am 17.7.1988 mit einem Blutalkoholgehalt von 2,63 0/00 am motorisierten Straßenverkehr teilgenommen und das nach der Wiedererteilung der deswegen entzogenen Fahrerlaubnis erstattete Gutachten vom 4.3.1991, dem eine Untersuchung am 13.2.1991 zugrunde lag, einen auf 31 U/l erhöhten Gamma-GT-Wert, einen auf 71 U/l gesteigerten GPT-Wert sowie beim Fragebogen für verkehrsauffällige Kraftfahrer (FVK) einen Testwert von 15 erbracht hat. Aus diesen Feststellungen kann aber entgegen der Ansicht des Antragsgegners bisher noch nicht mit hinreichender Sicherheit auf das Fehlen der Kraftfahreignung geschlossen werden. Wie aus dem im Gutachten vom 4.3.1991 wiedergegebenen Laborbefund hervorgeht, reichen die Normwerte der Gamma-GT-Untersuchung bei Männern von 8 bis 28 U/l und der GPT-Untersuchung bis 23 U/l. Der auf 31 U/l erhöhte, für die Feststellung eines erheblichen Alkoholkonsums besonders aussagekräftige Gamma-GT-Untersuchungsbefund lag also nur geringfügig über dem Normbereich. Eine derartige marginale Überschreitung, die möglicherweise auch auf meßtechnische Unsicherheiten zurückzuführen ist, kann nicht als hauptsächlicher Grund für die Entziehung der Fahrerlaubnis angeführt werden. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der früheren Trunkenheitsfahrt des Antragstellers und des Umstandes, daß der GPT-Wert deutlich erhöht war. Denn nach den Erfahrungen des Senats in vergleichbaren Fällen kommt insbesondere dem Gamma-GT-Befund eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Des weiteren bringt der beim Ausfüllen des Fragebogens für verkehrsauffällige Kraftfahrer (FVK) erreichte Testwert von 15, der ebenfalls nur knapp über den sich bis 14 erstreckenden Normbereich hinausgeht, keine zuverlässigen Schlüsse über die Fahrtauglichkeit des Antragstellers. Denn auch insoweit muß wegen der mit allen Bewertungen verbundenen Unsicherheiten davon ausgegangen werden, daß eine geringfügige Überschreitung des Normbereichs für sich noch nicht den Schluß zuläßt, der Proband sei zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet. Dieser Schluß ist vorliegend auch nicht im Zusammenhang mit den erhobenen Laborbefunden möglich, denn diese bewegen sich ebenfalls nur knapp über dem unbedenklichen Bereich.

Hinzu kommt, daß die vom Antragsteller im Verlauf des Verwaltungsverfahrens vorgelegten, zeitlich nach der medizinisch-psychologischen Untersuchung vom 13.2.1991 erhobenen Leberwerte sich ausnahmslos innerhalb des Normbereichs befanden. So erbrachte der am 3.4.1991 bei dem Arzt für Allgemeinmedizin Dr. K. erhobene Befund einen Gamma-GT-Wert von 26 und einen GPT-Wert von 22 U/l. Auch die am 19.7.1991 bei einer weiteren Untersuchung dieses Arztes festgestellten Werte von 21 U/l (Gamma-GT) und 22 U/l (GPT) lagen innerhalb des unbedenklichen Bereichs. Die zu diesen zusätzlichen Befunden ergangene Stellungnahme des medizinisch-psychologischen Instituts des TÜV Südwest e.V. vom 24.6.1991 ist insoweit unrichtig, als ihr die Annahme zugrundeliegt, der Antragsteller habe nach dem am 13.2.1991 erfolgten Lebertest nahezu 2 Monate lang Zeit gehabt, deren ungünstiges Ergebnis, das ihm von Anfang an bekannt gewesen sei, durch Alkoholabstinenz zu verbessern. Denn wie aus den Behördenakten hervorgeht, hat das Landratsamt erst mit Schreiben vom 21.3.1991 das medizinisch-psychologische Gutachten dem Antragsteller übersandt, so daß die Angabe des Antragstellers, er habe das Gutachten mit den für ihn negativen Leberwerten erst am 28.3.1991 erhalten, glaubwürdig ist. Sie wird im übrigen dadurch gestützt, daß ausweislich der vorliegenden Akten des Landratsamts der Antragsteller erst am 28.3.1991 den ihn vertretenden Rechtsanwalt bevollmächtigt hat. In den daraufhin bis zum 3.4.1991 verstrichenen wenigen Tagen hätte der Antragsteller kaum durch eine kurzfristige und gezielte Enthaltsamkeit die Leberbefunde deutlich verbessern können. Auch dieser Gesichtspunkt spricht daher eher für das Vorbringen des Antragstellers, er habe sich dauerhaft von einem überhöhten Alkoholkonsum gelöst.

Aus diesen Gründen erweist sich das Gutachten des medizinisch-psychologischen Instituts vom 4.3.1991, auf das sich das Landratsamt hauptsächlich beruft, in wesentlichen Punkten als unklar oder widersprüchlich. So wird einerseits gesagt, bei den durchgeführten ärztlichen Untersuchungen hätten sich keine schwerwiegenden verkehrsmedizinisch bedeutsamen krankhaften Störungen, keine eindeutig alkoholbedingten Körperschäden und keine Hinweise auf einen derzeit bestehenden Alkoholmißbrauch ergeben. Andererseits wird betont, die erhöhten Leberwerte wiesen auf einen behandlungsbedürftigen Leberschaden mit einer wahrscheinlich alkoholtoxischen Genese hin (...). Es müsse von einem wiederum gesteigerten Alkoholkonsum und der Gefahr erneuter alkoholbedingter Auffälligkeiten ausgegangen werden (...). Diesen Schluß vermag der Senat angesichts des am 13.2.1991 nur knapp über dem Normbereich liegenden Gamma-GT-Wertes und der zeitlich nachfolgenden Leberbefunde, die ausnahmslos normale Werte ergaben, bisher nicht nachzuvollziehen. Auch der beim Fragebogen für verkehrsauffällige Kraftfahrer (FVK) ebenfalls nur knapp über dem Normbereich liegende Testwert kann daran nichts ändern, weil diese geringfügige Überschreitung weder für sich noch im Zusammenhang mit den Laborbefunden und den übrigen medizinischen und psychologischen Feststellungen, die sämtliche unauffällig waren, eine ausreichende Tatsachengrundlage für die Annahme gibt, dem Antragsteller fehle die Kraftfahreignung.

Der Senat geht nach allem davon aus, daß wegen der Aussagen des medizinisch-psychologischen Gutachtens zwar Zweifel an der Eignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen bestehen, diese Zweifel sich aber bisher nicht auf einer hinreichenden Tatsachengrundlage zu der erforderlichen prognostischen Gewißheit verdichtet haben. Dem bestehenden Verdacht der Ungeeignetheit wird die Widerspruchsbehörde im Hauptsacheverfahren dadurch nachzugehen haben, daß sie die Beibringung eines weiteren medizinisch-psychologischen Gutachtens durch einen mit der Sache bisher nicht befaßten Gutachter anordnet. Mit einer erneuten Begutachtung hat sich der Antragsteller bereits mit Schriftsatz vom 2.4.1991 dem Landratsamt gegenüber einverstanden erklärt. Im gerichtlichen Eilverfahren ist eine derartige Beweisaufnahme wegen des summarischen Charakters dieses Verfahrens nicht angebracht.

Bei der damit derzeit offenen Sach- und Rechtslage und da andere Gründe nicht ersichtlich sind, die es gleichwohl dringend erforderten, den Antragsteller umgehend am Führen von Kraftfahrzeugen zu hindern, überwiegt sein Interesse, bis zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts im Widerspruchsverfahren weiterhin ein Kraftfahrzeug führen zu dürfen, das Interesse am Sofortvollzug der angefochtenen Verfügung.