Hessischer VGH, Beschluss vom 09.11.1995 - 6 TG 2992/95
Fundstelle
openJur 2012, 20872
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Gründe

Mit der Beschwerde wenden sich der Antragsgegner und der Beigeladene gegen einen Beschluß des Verwaltungsgerichts, mit dem der Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet worden ist, dem Antragsteller ein vorläufiges Zeugnis über das Bestehen der Ärztlichen Vorprüfung im Herbst 1987 auszuhändigen.

Die Beschwerden sind zulässig, aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die vom Antragsteller begehrte einstweilige Anordnung zu Recht erlassen.

Der Antrag ist zulässig. Der Zulässigkeit steht es insbesondere nicht entgegen, daß der Beschluß des Verwaltungsgerichts vom 26. Februar 1988 in dem Verfahren III/3 G 2236/87, mit dem ein im wesentlichen inhaltsgleicher Antrag abgelehnt wurde, rechtskräftig war, als der nunmehr zur Entscheidung anstehende Antrag anhängig gemacht wurde. Zwar erwachsen Beschlüsse entsprechend § 121 VwGO grundsätzlich in formelle und materielle Rechtskraft (vgl. Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 10. Auflage, 1994, Rdnr. 42 zu § 123; Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 3. Auflage, 1986, Rdnrn. 104 und 106, jeweils mit weiteren Nachweisen). Jedoch greift in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem nach Ergehen der den Anordnungsantrag ablehnenden Entscheidung des Verwaltungsgerichts neue Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Finkelnburg/ Jank, a. a. O., Rdnr. 821) ergangen sind, die zu einem Obsiegen im verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahren führen können, der in §§ 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO, 927 Abs. 1 ZPO zum Ausdruck kommende Rechtsgedanke ein, um dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (Art. 19 Abs. 4 GG), Rechnung zu tragen. Zwar sind diese Vorschriften, nach denen Regelungen der Vollziehung und - im Zivilprozeß - einstweilige Verfügungen wegen veränderter Umstände geändert werden können, in § 123 Abs. 3 VwGO nicht genannt. Es ist jedoch davon auszugehen, daß die Verweisung auf § 927 Abs. 1 ZPO in § 123 Abs. 3 VwGO versehentlich unterblieben ist. Das folgt daraus, daß § 939 ZPO für anwendbar erklärt worden ist, worin ausgesprochen wird, daß die Aufhebung einer einstweiligen Verfügung nur unter besonderen Umständen gegen Sicherheitsleistung gestattet werden kann. Dies setzt eine Abänderungsmöglichkeit voraus (vgl. Hess. VGH, Beschluß vom 20. August 1980 - IV S 91/80 - ESVGH 31, 149 f.; VGH Bad.-Württ., Beschluß vom 6. April 1981 - NC 9 S 283/81 - ESVGH 31, 147 ff., 148/149). Der Rechtsgedanke des § 927 Abs. 1 ZPO beschränkt sich nicht nur auf den Fall der beantragten Aufhebung einer erlassenen einstweiligen Verfügung. Vielmehr sind unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Regelung sowie der Interessenlage keine stichhaltigen Gründe ersichtlich, die die Anwendung des genannten Rechtsgedankens auf den Fall der rechtskräftigen Ablehnung einer einstweiligen Anordnung verbieten (insofern a. A. der 5. Senat des Hess. VGH, Beschluß vom 13. August 1986 - 5 TG 2642/85 - NJW 1987, 1354).

Der Vorschrift kann - berücksichtigt man ihren Sinn und Zweck sowie die Interessenlage - entnommen werden, daß wegen veränderter Umstände in einem neuen Eilverfahren die Möglichkeit eröffnet werden soll zu erreichen, daß alsbald nach der Änderung der Umstände die rechtliche Situation der neuen Lage angepaßt wird. Soll das Anordnungsverfahren das Hauptsacheverfahren durch den Erlaß sichernder oder regelnder Anordnungen entscheidungsfähig halten, so muß es grundsätzlich zulässig sein, Änderungen der Rechtsprechung bei einer erneuten Antragstellung zu berücksichtigen, wenn diese Änderungen sich auf die Entscheidung des bevorstehenden Hauptsacheverfahrens auswirken werden. Insofern kommt als Änderung der Umstände auch eine Änderung der höchstrichterlichen oder letztinstanzlichen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung in Betracht, die erwarten läßt, daß sie für die Entscheidung des Hauptsacheverfahrens bestimmend sein wird. Entsprechendes gilt für eine verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, die die grundsätzliche Klärung einer verfassungsrechtlich bedeutsamen Rechtsfrage herbeigeführt hat und von der zu erwarten ist, daß sie von den Fachgerichten beachtet wird (vgl. BVerfG, Beschluß vom 3. April 1979 - 1 BvR 1460, 1482/78 und 27, 169/79 - BVerfGE 51, 130 ff., 144; Finkelnburg/Jank, a. a. O., Rdnr. 118). §§ 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO und 927 Abs. 1 Satz 1 ZPO beschränken die erneute Antragstellung nicht auf die Fälle, in denen sich die Sach- oder Rechtslage geändert hat, was schon der Wortlaut ("wegen veränderter Umstände") deutlich macht.

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund im Sinne der §§ 123 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht. Es kann ihm nicht zugemutet werden, den rechtskräftigen Ausgang eines Hauptsacheverfahrens abzuwarten, zumal die streitige Ärztliche Vorprüfung bereits vor mehr als acht Jahren stattfand und wegen dieser besonders langen Wartezeit des Antragstellers sein Interesse daran, vorläufig das Medizinstudium fortsetzen zu können, noch schutzwürdiger erscheint als bei einer kürzeren Wartezeit.

Zu Recht ist das Verwaltungsgericht auch davon ausgegangen, daß der Antragsteller das Vorliegen der Voraussetzungen des gemäß § 123 Abs. 3 i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO erforderlichen Anordnungsanspruchs glaubhaft gemacht hat, denn die Frage A 57 = B 28 vom ersten Prüfungstag ist zu eliminieren, da sie keine eindeutig zutreffende Antwortalternative enthält. Die Eliminierung beruht auf § 14 Abs. 4 Sätze 3 bis 5 der Approbationsordnung für Ärzte vom 3. April 1979 (BGBl. I S. 425, 609) in der Fassung der 5. Änderungsverordnung vom 15. Dezember 1986 (BGBl. I S. 2457, berichtigt BGBl. I 1987, S. 150). Die Überprüfung ergibt, daß die genannte Prüfungsaufgabe offensichtlich fehlerhaft ist; sie gilt daher nach § 14 Abs. 4 Satz 3 ÄAppO als nicht gestellt.

§ 14 Abs. 2 Satz 1 ÄAppO bestimmt, daß die Prüfungsfragen auf die für den Arzt allgemein erforderlichen Kenntnisse abgestellt sein und zuverlässige Prüfungsergebnisse ermöglichen müssen. Diesem rechtlichen Maßstab genügen Aufgaben im Antwort-Wahl- Verfahren nur dann, wenn sie verständlich, widerspruchsfrei und eindeutig sind. Außerdem müssen sie dem vorgegebenen Prüfungsschema entsprechen, wonach der Prüfling in jeder Aufgabe eine richtige und vier falsche Antwort-Alternativen erwarten kann. Eine Aufgabe, die diese Merkmale nicht erfüllt, verletzt maßgebende Verfahrensvorschriften und ist deshalb rechtsfehlerhaft (BVerfG, Beschluß vom 17. April 1991 - 1 BvR 1529/84, 138/87 - NJW 1991, 2008 ff., 2010/2011). Diesen Anforderungen wird die Aufgabe A 57 = B 28 vom ersten Prüfungstag nicht gerecht. Die Aufgabe ist nicht widerspruchsfrei und eindeutig formuliert. Es wird gefragt nach dem Verhältnis der Leitungsgeschwindigkeit im spezifischen Erregungsleitungssystem der Kammerschenkel und dem Arbeitsmyokard der Kammern. Dieses Verhältnis soll nach den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten "etwa"

(A) 2 (B) 8 (C) 20 (D) 50 (E) 100

betragen. Nach Ansicht des Beigeladenen war die Antwortalternative (A) zu wählen, während der Antragsteller die Antwortalternative (B) markiert hat. Durch die Verwendung des Wortes "etwa" im Fragenstamm hat der Beigeladene den Prüflingen zwar hinreichend deutlich gemacht, daß nicht nach einer einzigen allein richtigen Zahl gefragt wurde, sondern daß es genügte, mit einer der vorgegebenen Antworten die Größenordnung zu bezeichnen, ohne daß insoweit etwa nur die Rundungsregeln gelten. Gleichwohl hat das Verwaltungsgericht zutreffend entschieden, denn die bereits zur Zeit der hier streitigen Prüfung am 24./25. August 1987 auf dem Markt befindliche Fachliteratur, die das Verwaltungsgericht auf Seite 7 des angefochtenen Beschlusses wiedergegeben hat, zeigt auch dann, wenn man das von dem Beigeladenen nicht zur anerkannten Fachliteratur gerechnete Werk von Franke, Antwortkatalog Physiologie, außer acht läßt, daß es damals Fachschriftsteller gab, nach deren Auffassung das Verhältnis der Leitungsgeschwindigkeit im spezifischen Erregungsleitungssystem der Kammerschenkel und dem Arbeitsmyokard der Kammern ein Vielfaches der vorgegebenen Antwort "2" betragen kann und damit die Größenordnung "2" verlassen wird. Nach Gebert beträgt das Verhältnis 2 bis 4, nach Keidel 1,25 bis 6,25 (nicht 6.21, wie vom Verwaltungsgericht angegeben), nach Ganong 2,5 bis 5, nach Silbernagel/Despopoulus 1,0 bis 3,5 und nach Kramer 1,0 bis 4. Da das Verhältnis unter Zugrundelegung dieser anerkannten Werke der Fachliteratur bis "4", "6,25", "5", "3,5" oder "4" betragen kann, wird deutlich, daß dann, wenn es tatsächlich einen dieser Höchstwerte erreicht, die vorgegebene Antwort "etwa 2" nicht richtig ist, denn "4" oder "6,25" oder "5" ist nicht "etwa 2", sondern ein Vielfaches davon. Entspricht das Verhältnis einem der angegebenen Höchstwerte, so bewegt es sich nicht mehr in der Größenordnung, die mit der Antwortalternative "etwa 2" gekennzeichnet wird.

Aber auch die vom Antragsteller gewählte Lösung (B), wonach das Verhältnis "etwa 8" betragen soll, bezeichnet die gefragte Größenordnung nicht genau genug und ermöglicht damit ebenfalls kein zuverlässiges Prüfungsergebnis im Sinne des § 14 Abs. 2 Satz 1 ÄAppO. Denn Werte zwischen 1 und 6,25 fallen nicht in den Größenbereich, der mit "etwa 8" bezeichnet wird. Ob sich die Frage mit der Lösung B vertretbar beantworten ließ, was die Beschwerdeführer bestreiten, ist nicht entscheidungserheblich und kann daher offenbleiben.

Zu Recht hat das Verwaltungsgericht die Frage B 151, die der Beigeladene eliminiert hatte, in die Berechnung der relativen Bestehensgrenze einbezogen und im Wege des Nachteilsausgleichs gemäß § 14 Abs. 4 Satz 6 ÄAppO als richtig gelöst angerechnet. In dem im Rahmen des Klageverfahrens III/2 E 1243/91 VG Gießen vom Berichterstatter am 11. Mai 1995 durchgeführten Erörterungstermin hat der Vertreter des Beigeladenen einen Vermerk des Professors Dr. Boelcke vom 7. September 1987 vorgelegt. Aus dem Vermerk geht hervor, daß die Aufgabe eliminiert wurde, weil sie keine eindeutige Lösung zuließ. Als Falschaussage und damit als Lösung der Aufgabe war die Antwortalternative (C) vorgesehen, die der Antragsteller auch zutreffend markiert hat. Jedoch ist im Druckverfahren die Markierung (B) bei der Zeichnung verrutscht, so daß nicht mehr beurteilt werden konnte, ob auch die Lösungsmöglichkeit (B) die gesuchte Falschaussage beinhaltete. Allerdings geht auch der Beigeladene davon aus, daß nur die Antwort (C) eine vertretbare Antwort sei und es sich nicht um einen Fall der Doppellösung handele (vgl. Seite 2 der Niederschrift vom 11. Mai 1995 über den Erörterungstermin des Berichterstatters des Verwaltungsgerichts im Hauptsacheverfahren III/2 E 1243/91 sowie Seite 2 des Schriftsatzes des Beigeladenen vom 3. September 1992 in dem genannten Hauptsacheverfahren).

Bei der Ermittlung der relativen Bestehensgrenze für den Antragsteller muß die Verminderung der Fragen um die Prüfungsaufgabe B 151 zugunsten des Antragstellers in Anwendung von § 14 Abs. 4 Satz 6 ÄAppO unterbleiben, weil die Verminderung sich nach dieser Vorschrift nicht zum Nachteil des Antragstellers auswirken darf. Gegen diese Regel würde verstoßen, wenn die Prüfungsaufgabe für den Antragsteller als nicht gestellt gälte anstatt berücksichtigt zu werden. Der Antragsteller hat die Prüfungsaufgabe durch Markieren der Lösungsalternative (C) vertretbar beantwortet und damit einen vollen Bewertungspunkt (1,0) erreicht. Allerdings fließt der auf die allein vertretbare Antwortalternative (C) entfallende Beantwortungsanteil aller Prüflinge (0,567) in "die durchschnittliche Prüfungsleistung des jeweiligen Prüfungstermins" im Sinne von § 14 Abs. 5 ÄAppO i.d.F. der Dritten Änderungsverordnung vom 15. Juli 1981 (BGBl. I S. 660) ein, weil "die durchschnittliche Prüfungsleistung des jeweiligen Prüfungstermins" die vertretbaren Antworten aller Prüflinge enthält (vgl. den Senatsbeschluß vom 29. November 1994 - 6 TG 2154/94 - NVwZ-RR 1995, 398 f. zu der Neufassung des § 14 Abs. 6 "die durchschnittlichen Prüfungsleistungen der Prüflinge").

Infolgedessen ist der amtlichen durchschnittlichen Prüfungsleistung von 198,333 richtig beantworteten Aufgaben (vgl. dazu den Schriftsatz des Beigeladenen vom 3. September 1992 in der Akte des Hauptsacheverfahrens III/2 E 1243/91) der die vom Beigeladenen eliminierte Frage B 151 betreffende und auf die Antwortalternative (C) bezogene Beantwortungsanteil aller Prüflinge von 0,567 hinzuzufügen. Der auf die von dem Beigeladenen für richtig gehaltene Antwortalternative (A) zur Frage B 28 entfallende durchschnittliche Beantwortungsanteil aller Prüflinge von 0,330 ist abzuziehen, da die Frage nicht beantwortet werden kann. Dies ergibt eine neue Durchschnittsleistung von 198,57 richtig beantworteten Fragen und nach Abzug von 18 % (§ 14 Abs. 5 ÄAppO in der Fassung der Dritten Änderungsverordnung vom 15. Juli 1981, BGBl. I S. 660) eine neue Bestehensgrenze von 162,8274. Der Antragsteller mußte somit 163 Fragen richtig beantworten, um die Ärztliche Vorprüfung zu bestehen. Das ist ihm gelungen, denn zusätzlich zu den vom Antragsgegner anerkannten 162 zutreffenden Antworten ist ihm für die von ihm richtig beantwortete Frage B 151 eine Antwort gutzuschreiben.

Der Antragsgegner und der Beigeladene haben nach §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 1 VwGO i. V. m. § 100 Abs. 1 ZPO jeweils die Hälfte der Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen, da ihre Beschwerden keinen Erfolg haben.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 20 Abs. 3 i. V. m. § 13 Abs. 1 und dem entsprechend anzuwendenden § 14 Gerichtskostengesetz - GKG -.