OLG Hamburg, Beschluss vom 18.08.2011 - 3 – 16/11
Fundstelle
openJur 2011, 98550
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 1 Ss 39/11

1. Wird im beschleunigten Verfahren keine Anklageschrift eingereicht, sondern die Anklage mündlich erhoben, ist es nach § 418 Abs. 3 Satz 2 StPO erforderlich, dass der wesentliche Inhalt der mündlich erhobenen Anklage, also der Anklagesatz nach § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO, in das Sitzungsprotokoll aufgenommen wird. Sofern die von der Staatsanwaltschaft vorgetragene Anklage nicht direkt in das Sitzungsprotokoll aufgenommen wird, ist es ausreichend, aber auch erforderlich, dass eine schriftliche Fassung der mündlich erhobenen Anklage als Anlage zum Protokoll genommen und im Protokoll wegen des Inhalts der erhobenen Anklage auf diese Anlage verwiesen wird (vgl. Nr. 146 Abs. 2 RiStBV). Der Verweis auf den Inhalt eines in der Akte befindlichen Haftbefehls reicht nicht aus.

2. Ist der Inhalt der Anklage im beschleunigten Verfahren nach § 418 Abs. 3 Satz 2 StPO nicht in der vorstehend geschilderten Form Bestandteil des Sitzungsprotokolls geworden, fehlt es an einer wirksamen Anklageerhebung. Das Verfahren ist dann wegen eines Verfahrenshindernisses nach § 206a StPO einzustellen.

(Leitsätze: die Mitglieder des 3. Strafsenats)

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg, Kleine Strafkammer 1, vom 23.11.2011 aufgehoben und das Verfahren eingestellt.

Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

I.

Am 18.06.2010 erging gegen den späteren Angeklagten ein Haftbefehl des Amtsgerichts Hamburg, nach welchem dieser für dringend verdächtig gehalten wurde, am 05.05.2010 ohne ausländerrechtliche Legitimation in das Bundesgebiet eingereist und sich bis zum 17.06.2010 durchgehend im Inland aufgehalten zu haben, ohne sich zum Zwecke der Legalisierung seines Aufenthaltes bei der Ausländerbehörde gemeldet zu haben, obwohl er am 21.05.2004 aus Deutschland abgeschoben und am 30.09.2009 zurückgeschoben worden war. Die Staatsanwaltschaft Hamburg beantragte mit am 25.06.2010 beim Amtsgericht Hamburg - St. Georg eingegangen Schreiben Aburteilung im beschleunigten Verfahren und äußerte die Absicht, „Anklage gemäß Haftbefehl zu erheben“.

Am 19.07.2010 begann das Amtsgericht Hamburg - St. Georg mit der Hauptverhandlung. Eine Anklageschrift und ein Eröffnungsbeschluss befinden sich nicht in der Akte. Das Hauptverhandlungsprotokoll vom 19.07.2010, das ansonsten keinen Hinweis auf die Durchführung des beschleunigten Verfahrens enthielt, hatte zunächst folgenden Eintrag erhalten:

„Die Staatsanwältin/Der Staatsanwalt verlas den Anklagesatz aus dem Haftbefehl vom 18.06.2010 gemäß § 243 Abs. 3 StPO.“

Das Amtsgericht Hamburg - St. Georg verurteilte den Angeklagten am 02.08.2010 wegen unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet zu einer Geldstrafe. Die dagegen am 03.08.10 eingelegte Berufung verwarf das Landgericht am 23.11.2010 gemäß § 329 Abs. 1 StPO.

Gegen das landgerichtliche Urteil wendet sich der Angeklagte mit der am 25.11.2010 eingelegten und am 30.12.2010 begründeten Revision.

Auf Anregung der Generalstaatsanwaltschaft leitete die zuständige Richterin am Amtsgericht Hamburg – St. Georg ein Protokollberichtigungsverfahren ein. In der daraufhin eingeholten dienstlichen Erklärung teilte der am 19.07.2010 in dieser Sache tätige Richter mit, er erinnere sich daran, dass das Verfahren im beschleunigten Verfahren nach §§ 417 ff. StPO durchgeführt worden sei, jedoch könne er sich „an die konkrete Situation der mündlichen Anklageerhebung gemäß § 418 Abs. 3 S. 2 StPO durch die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft nicht mehr positiv erinnern“. Es sei aber „davon auszugehen, dass eine solche mündliche Anklageerhebung entsprechend des Haftbefehls gemäß § 418 Abs. 3 Satz 2 StPO stattgefunden“ habe; eine Verhandlungsdurchführung ohne mündliche Erhebung des Anklagevorwurfs sei „im Nachhinein…nicht vorstellbar“. Die Aufnahme des wesentlichen Inhalts der mündlich erhobenen Anklage in das Sitzungsprotokoll sei aufgrund eines Versehens unterblieben.

Die nunmehr zuständige Richterin am Amtsgericht Hamburg – St. Georg und die Protokollführerin haben daraufhin am 13.05.2011 das Hauptverhandlungsprotokoll vom 19.07.2010 geändert. Das Protokoll hat an Stelle des bisherigen Eintrags (siehe oben) folgenden Eintrag erhalten:

„Die Beamtin der Staatsanwaltschaft erhob gemäß § 418 Abs. 3 Satz 2 StPO Anklage entsprechend dem Haftbefehl vom 18.06.2010.“

Die Bitte der Generalstaatsanwaltschaft um erneute Protokollberichtigung, nämlich um Aufnahme des wesentlichen Inhalts der mündlich erhobenen Anklage in das Hauptverhandlungsprotokoll nach vorheriger Anhörung des Verteidigers, lehnte die nach einem Dezernatswechsel nunmehr zuständige Richterin am Amtsgericht Hamburg - St. Georg am 10.06.2011 unter Hinweis auf die fehlende eigene Erinnerung des damals zuständigen Richters ab.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, das Verfahren nach § 206a StPO einzustellen.

II.

Die zulässige Revision hat auch in der Sache Erfolg. Das Urteil beruht auf einer Verletzung des Gesetzes i.S.v. § 337 StPO. Es fehlt an der Verfahrensvoraussetzung einer wirksamen Anklageerhebung.

Das Fehlen von Verfahrensvoraussetzungen begründet die Revision auch dann, wenn eine dahingehende Rüge nicht erhoben wurde. Die Prüfung durch das Revisionsgericht erfolgt von Amts wegen. Vorausgesetzt ist lediglich, dass eine Revisionsrüge (Verfahrens- oder Sachrüge) überhaupt zulässig erhoben wurde (vgl. BGHSt 16, 115; 22, 213, 216). Das Revisionsgericht trifft die insoweit erforderlichen Feststellungen grundsätzlich im Wege des Freibeweises.

Auch im Rahmen einer (zulässigen) Revision gegen ein Verwerfungsurteil nach § 329 Abs. 1 StPO hat das Revisionsgericht sämtliche Verfahrensvoraussetzungen zu prüfen, weil das Berufungsgericht nicht nach § 329 Abs. 1 StPO entscheiden darf, wenn eine Verfahrensvoraussetzung fehlt (vgl. BGH, NStZ 2001, 440, 441; OLG Celle, NStZ 1994, 298).

Besondere Prozessvoraussetzung für eine Entscheidung im beschleunigten Verfahren ist ein entsprechender Antrag der Staatsanwaltschaft nach § 417 StPO; der Einreichung einer Anklageschrift und eines Eröffnungsbeschlusses bedarf es hingegen nicht, § 418 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 StPO. Eine Anklageschrift befindet sich nicht in der Akte. Nach § 418 Abs. 3 Satz 2 StPO ist, wenn eine Anklageschrift nicht eingereicht wird, die Anklage bei Beginn der Hauptverhandlung mündlich zu erheben und ihr wesentlicher Inhalt in das Sitzungsprotokoll aufzunehmen. Die Anklage muss den Anforderungen des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO genügen. Dazu gehört die Bezeichnung des Angeschuldigten, der ihm zur Last gelegten Tat, auch nach Zeit und Ort ihrer Begehung sowie der gesetzlichen Merkmale der Straftat und der angewendeten Vorschriften. Sowohl der Umstand der mündlichen Anklageerhebung überhaupt, als auch deren wesentlicher Inhalt kann gemäß §§ 273, 274 StPO nur durch das Protokoll bewiesen werden (HansOLG Hamburg, StV 2000, 127; OLG Frankfurt, StV 2001, 341). Die Protokollierung des wesentlichen Inhalts der mündlichen Anklage soll gerade den Mangel einer schriftlichen Fixierung des Anklagegegenstandes aufgrund des Fehlens einer Anklageschrift ausgleichen.

Das Hauptverhandlungsprotokoll vom 19.07.2010 enthält keine den Voraussetzungen des §§ 200 Abs. 1 Satz 1, 418 Abs. 3 Satz 2 StPO genügende Protokollierung eines Anklageinhaltes.

Es kann dahinstehen, ob insoweit die Protokolländerung vom 13.05.2011 zu Grunde zu legen ist oder das Protokoll in der Ursprungsfassung. Bedenken gegen die Wirksamkeit der Protokollberichtigung bestehen, weil sich der damals zuständige Richter tatsächlich nicht mehr konkret an die Anklageerhebung erinnern konnte. Eine Berichtigung des Protokoll setzt aber insoweit sichere Erinnerung der Urkundspersonen voraus (BGHSt 51, 298, 316). Bei Zweifeln an der Richtigkeit der Änderung ist das Protokoll in der ursprünglichen Fassung zu Grunde zu legen.

Hierauf kommt es aber letztlich nicht an, weil weder das Protokoll in der Ursprungsfassung, noch das am 13.05.2011 (zunächst ohne Gewährung rechtlichen Gehörs und trotz Fehlens einer sicheren Erinnerung der Urkundspersonen) geänderte Protokoll den oben genannten Voraussetzungen genügt:

In der Ursprungsfassung des Protokolls („Die Staatsanwältin/Der Staatsanwalt verlas den Anklagesatz aus dem Haftbefehl vom 18.06.2010 gemäß § 243 Abs. 3 StPO“) ist weder die Erhebung einer mündlichen Anklage noch deren wesentlicher Inhalt aus dem Protokoll ersichtlich. Aus dem geänderten Protokollinhalt („Die Beamtin der Staatsanwaltschaft erhob gemäß § 418 Abs. 3 Satz 2 StPO Anklage entsprechend dem Haftbefehl vom 18.06.2010“) ergibt sich der wesentliche Inhalt der Anklage ebenso wenig.

Da der wesentliche Inhalt der Anklage gemäß § 418 Abs. 3 Satz 2 StPO in das Sitzungsprotokoll aufzunehmen ist, muss er sich unmittelbar aus dem Sitzungsprotokoll entnehmen bzw. herauslesen lassen (vgl. OLG Frankfurt, a.a.O.; LG Köln StV 2003, 156). Das Sitzungsprotokoll ist nicht ein Gedanke, dessen Inhalt etwa das Revisionsgericht durch Auswertung von an unterschiedlichen Orten in der Akte befindlichen Dokumenten (re-)konstruiert, sondern es ist ein körperlicher Gegenstand (Schriftstück bzw. räumliche Einheit von ggf. mehreren Schriftstücken), aus dem sich sein gedanklicher Gehalt ohne weiteres entnehmen lassen muss. Sofern der seitens der Staatsanwaltschaft im beschleunigten Verfahren mündlich vorgetragene Anklageinhalt nicht direkt an entsprechender Stelle in das Sitzungsprotokoll aufgenommen wird, ist es ausreichend aber auch erforderlich, dass eine von der Staatsanwaltschaft dem Gericht übergebene schriftliche Fassung der mündlich erhobenen Anklage als Anlage zum Protokoll genommen wird und im Protokoll wegen des Inhaltes der erhobenen Anklage auf diese Anlage verwiesen wird (so auch Nr. 146 Abs. 2 RiStBV; ebenso schon RGSt 66, 109, 110; vgl. auch OLG Frankfurt, a.a.O.). Nur so kann das in Bezug genommene Schriftstück zum Protokollbestandteil werden. Dem ist hier mit dem Verweis auf den Haftbefehl vom 18.06.2010 nicht genüge getan. Dieser an anderem Ort in der Akte eingeheftete Haftbefehl bzw. dessen Inhalt ist nicht Protokollbestandteil. Es ist nicht Sinn der Regelung des § 418 Abs. 3 Satz 2 StPO, dass das Revisionsgericht sich den Inhalt der im beschleunigten Verfahren mündlich erhobenen Anklage aus protokollfremden Aktenbestandteilen erschließt.

Aus den oben genannten Gründen bestehen Bedenken gegen die vereinzelt in Rechtsprechung und Schrifttum vertretene Auffassung, auch ein Verweis im Protokoll unter genauer Angabe der Blattzahl auf einen sich bereits bei den Akten befindlichen schriftlichen Antrag der Staatsanwaltschaft genüge den Anforderungen des § 418 Abs. 3 Satz 2 StPO (so aber OLG Schleswig, SchlHA 1977, 211; Gössel, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 473 StPO, Rn. 38; dagegen OLG Frankfurt, a.a.O.; LG Köln, a.a.O.). Dies kann hier letztlich ebenfalls dahinstehen, weil das Protokoll (in beiden Fassungen) keine Verweisung auf einen den Anforderungen des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO genügenden schriftlichen Antrag der Staatsanwaltschaft enthält.

Nach allem ist das Urteil des Landgerichts aufzuheben (§ 349 Abs. 4 StPO) und das Verfahren nach § 206a Abs. 1 StPO einzustellen.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO. Eine Freihaltung der Staatskasse von den notwendigen Auslagen des Angeklagten gemäß § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO unterbleibt, weil mit dem Fehlen einer wirksamen Anklageerhebung dem gerichtlichen Verfahren von vornherein eine Voraussetzung fehlte (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 467 StPO Rn. 18 m.w.N.)