OLG Düsseldorf, Urteil vom 11.11.2008 - I-24 U 165/07
Fundstelle
openJur 2011, 66172
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 3 O 276/07
Tenor

Auf die Berufung Klägerin wird das Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Wuppertal - Einzelrichter - vom 12. Juli 2007 abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 10.145,65 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 03. Juni 2006 zu zahlen.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

A.

Die klagende Krankenkasse verlangt von der beklagten Pflegeheim-Betreibergesellschaft aus übergegangenem Recht Ersatz unfallbedingter Kosten, die ihr durch die stationäre und ambulante Behandlung und Pflege der bei ihr gesetzlich versicherten W. K. (geb. am 07.07.1909, verstorben am 01.01.2007 - künftig: Versicherte) entstanden sind. Dem liegt folgendes Geschehen zugrunde:

Die Versicherte lebte seit 1998 in vollstationärer Pflege in dem von der Beklagten betriebenen Altenwohnheim "Seniorenzentrum H." in V.. Vor Aufnahme in das Pflegeheim hatte sie sich bereits 1988 und 1996 bei Stürzen schwere Verletzungen zugezogen, zuletzt eine Oberschenkelfraktur und eine Lendenwirbelfraktur. In einem zum Umfang ihrer Pflegebedürftigkeit am 11.08.1997 erstellten Gutachten des medizinischen Dienstes der Krankenkasse (MDK N.) waren unter anderem Morbus Parkinson, Osteoporose und Altersschwäche festgestellt worden. Während ihres Aufenthaltes im Pflegeheim zog sich die Versicherte infolge eines weiteren Sturzes am 06.01.2003 erneut erhebliche Verletzungen (Bruch der Hüfte) zu, die eine Krankenhausbehandlung und eine Operation erforderten.

Am 10.02.2006 begleitete die bei der Beklagten als Altenpflegehelferin angestellte Zeugin A. die Versicherte auf deren Wunsch zur Toilette. Hierzu setzte die Zeugin die Versicherte in einen Rollstuhl, fuhr sie in den Toilettenraum und setzte sie auf die Toilette. Nach Durchführung der Intimhygiene erlitt die Versicherte, während sie sich aufrecht stehend an zwei Haltestangen festhielt und die Zeugin A. gerade mit dem Richten der Kleidung befasst war, einen Schwächeanfall und sackte in sich zusammen. Hierbei erlitt sie eine Tibiafraktur. Infolge des Unfalls wurde die Versicherte bis zum 24.03.2006 stationär und anschließend ambulant behandelt, wofür die Klägerin Sozialleistungen in Höhe eines Gesamtbetrags von 10.145,65 € erbrachte.

Durch das angefochtene Urteil, auf dessen Tatbestand gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens erster Instanz Bezug genommen wird, hat das Landgericht die Klage abgewiesen, da der Vortrag der Klägerin zur Kenntnis des Pflegepersonals von Schwindelanfällen und mangelnder Standsicherheit der Versicherten unsubstantiiert sei.

Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung. Sie macht geltend: Die Verletzung, die sich die Versicherte am 10.02.2006 zugezogen habe, beruhe auf einem Fehler des Pflegepersonals bei Durchführung einer konkreten Pflegeleistung. Das Pflegepersonal habe durch geeignete Stützung der Versicherten dafür Sorge tragen müssen, einen Sturz der Versicherten zu verhindern. Pflegeleitung und Pflegepersonal seien durch die Nichte der Versicherten - die Zeugin J. - vielfach darauf hingewiesen worden, dass die Versicherte unter Schwindelanfällen litt und standunsicher sei. Das Pflegepersonal habe aber auch - jedenfalls seit Ende des Jahres 2005 - eigene Erkenntnisse zu der zunehmenden Immobilität der Versicherten gehabt, wie dem MDK-Gutachten vom 18.10.2006 zu entnehmen sei. Die Notwendigkeit, bei entsprechenden Umständen eine zweite Pflegekraft zur Durchführung einer Pflegeleistung hinzuzuziehen, sei dem Personal des Pflegeheims zumindest durch die Gespräche mit der Zeugin J. bekannt gewesen.

Die Klägerin beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, an sie 10.145,65 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 03.06.2006 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie behauptet: Ein Hinzuziehen weiterer Pflegekräfte zur Hilfestellung während des Toilettengangs der Versicherten sei zu deren ordnungsgemäßer Versorgung nicht erforderlich gewesen. Weder habe die Zeugin J. das Pflegepersonal auf eine solche Notwendigkeit hingewiesen noch habe sich diese Notwendigkeit aus anderen Erkenntnisquellen ergeben. Im übrigen wiederholt und vertieft die Beklagte ihr erstinstanzliches Vorbringen

Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeuginnen J. und A. durch den Berichterstatter als vorbereitenden Einzelrichter. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 28.04.2008 Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Akten verwiesen.

B.

Die zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache Erfolg.

I.

Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Ersatz der von ihr für die Versicherte aufgewendeten Kosten für stationäre und ambulante Behandlung sowie der damit in Zusammenhang stehenden Transportkosten aus §§ 280 Abs. 1, 278, 611 BGB wie auch aus §§ 823, 831 BGB - jeweils in Verbindung mit § 116 Abs. 1 SGB X - in Höhe von 10.145,65 € zu.

1.

Die Beklagte haftet für die Verletzungen, die die Versicherte bei dem Sturz am 10.02.2006 erlitten hat. Aus dem Heimvertrag ergaben sich für die Beklagte Obhutspflichten zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der ihr anvertrauten Heimbewohnerin (vgl. BGH NJW 2005 S. 1937, NJW 2005, 2613; OLG Hamm OLGR 2006, 569; OLG Koblenz NJW-RR 2002, 867; Senat VersR 2008, 1079 = OLGR Düsseldorf 2008, 585). Der schuldhafte Verstoß gegen diese Pflichten führt zu dem oben genannten Schadensersatzanspruch aus positiver Vertragsverletzung des Heimvertrages wie auch aus deliktischer Verletzung der inhaltsgleichen allgemeinen Verkehrssicherungspflicht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der ihr anvertrauten Versicherten (vgl. Senat - Urteil vom 14.10.2007, I-24 U 45/07, zur Veröffentlichung bestimmt).

2.

Zwar ist der genaue Inhalt des zwischen der Versicherten und der Beklagten geschlossenen Heimvertrags nicht bekannt, weil er nicht in das Verfahren eingeführt worden ist. Wegen des Vertragsschlusses im November 1998 ist aber davon auszugehen, dass es sich um einen der Bestimmung des § 4e HeimG in der Fassung von Art. 19 Nr. 2 des Pflege-Versicherungsgesetzes vom 26. 05.1994 (BGBl. I S. 1014) unterliegenden Heimvertrag mit einem Leistungsempfänger der sozialen Pflegeversicherung gehandelt hat, dessen Leistungsinhalte sich in Bezug auf die allgemeinen Pflegeleistungen sowie Unterkunft und Verpflegung und etwaige Zusatzleistungen nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) bestimmen. Dieses verlangt von den Pflegeeinrichtungen die Leistungserbringung nach allgemein anerkanntem Stand medizinischpflegerischer Erkenntnisse (§ 11 Abs. 1 Satz 1, § 28 Abs. 3 SGB XI; für die Zeit ab 01.01. 2002 vgl. auch die Regelung in § 3 Abs. 1 HeimG in der Fassung vom 05.11.2001, BGBl. I S. 2970). Vorbehaltlich einer darüber hinausgehenden Ausgestaltung der von dem Heimträger wahrzunehmenden Pflegeaufgaben traf die Beklagte jedenfalls die oben bezeichnete Obhutspflicht. Diese Pflicht war allerdings begrenzt auf die Maßnahmen, die in Pflegeheimen mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind. Maßstab sind das Erforderliche sowie das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare. Dabei ist insbesondere auch die menschliche Würde der Bewohner zu beachten. Daraus folgt, dass deren Interesse und Bedürfnis nach einem möglichst selbstbestimmten und selbstverantwortlichen Leben auch in der Heimunterbringung zu wahren und zu fördern und vor unzumutbaren Beeinträchtigungen zu schützen ist (vgl. BGH NJW 2005, 1937; Senat VersR 2008, 1079).

3.

Pflegeleitung und Pflegepersonal des von der Beklagten betriebenen Seniorenheims, deren Verschulden sich die Beklagte gemäß § 278 BGB zurechnen lassen muss, sind ihren so umrissenen Obhutspflichten gegenüber der Versicherten nicht in dem objektiv gebotenen Maße nachgekommen und haben dadurch den Sturz der Versicherten anlässlich des Toilettengangs am 10.02.2006 verursacht.

a)

Die Pflichtverletzung ist bereits deswegen indiziert, weil sich der Vorfall in einer konkreten Gefahrensituation ereignet hat, die für die Beklagte gegenüber der Versicherten gesteigerte Obhutspflichten auslöste und deren Beherrschung einer speziell dafür eingesetzten Pflegekraft anvertraut war (vgl. BGH NJW 1991, 1540 zur Beweislastumkehr; OLG München Urteil vom 28.02.2006 - 20 U 4636/05). Denn die Versicherte ist nicht im normalen, alltäglichen Gefahrenbereich zu Schaden gekommen, sondern bei einer konkreten Pflegemaßnahme in dem vom Pflegeheimträger voll beherrschten Gefahrenbereich. In einer solchen Gefahrensituation traf die Beklagte eine gesteigerte, erfolgsbezogene Obhutspflicht (vgl. OLG Hamm a.a.O.). Sie hatte für die Vermeidung jeder unfallbedingten, körperlichen Beeinträchtigung der Versicherten Sorge zu tragen. Schon das Verfehlen dieses Zieles rechtfertigt den Schluss auf die Verletzung der Obhutspflicht.

b)

Überdies steht auf Grundlage der im Berufungsverfahren durchgeführten Ermittlungen fest, dass Pflegeleitung und Pflegepersonal bereits vor dem Sturz vom 10.02.2006 bekannt war, dass die hochbetagte - im Zeitpunkt des Vorfalls 96 Jahre alte - Versicherte nicht mehr sicher stehen konnte und in hohem Maße sturzgefährdet war. Gleichwohl sind bis zum 10.02.2006 und auch an diesem Tag die notwendigen und geeigneten Vorkehrungen zur Verhinderung eines Sturzes während des Toilettengangs nicht getroffen worden.

aa)

Auf Grund der anamnestischen Erhebungen bei Aufnahme der Versicherten in das Pflegeheim war der Pflegeleitung und dem Pflegepersonal bekannt, dass die unstreitig an Osteoporose erkrankte Versicherte bereits vor Aufnahme in das Pflegeheim gestürzt war und sich erhebliche Verletzungen zugezogen hatte. Der vom Senat ausgewerteten Pflegedokumentation ist zu entnehmen, dass - wie nicht anders zu erwarten - sich die Sturzgefährdung der Versicherten mit zunehmendem Alter noch weiter erhöhte. Bereits im "Bewohnerstatusblatt" vom 12.02.1999 ist unter dem Stichwort "Vorhersehbare Gefährdungen" vermerkt: "Sturzgefahr (Verletzungsgefahr)". Während ihres Aufenthaltes im Heim stürzte die Versicherte ein weiteres Mal mit der Folge eines operativ zu versorgenden Knochenbruchs (Januar 2003). Des Weiteren ist dem Pflegebericht vom 30.09.2005 zu entnehmen, dass die Versicherte auf dem Weg zur Toilette eine Kreislaufschwäche erlitt und deswegen auf den Boden gelegt werden musste; am Abend jenes Tages erfolgte die Versorgung der Versicherten unter Hinzuziehung einer zweiten Pflegekraft.

Im Pflegebericht vom 19.11.2005 ist sodann festgehalten:

"Nach dem Toilettengang sackte Frau K. im Badezimmer zusammen."

Im Pflegebericht vom 22.11.2005 heißt es:

"Gegen 10:00 Uhr musste sie auf die Toilette. War nur mit zweiter Pflegekraft möglich."

Die früheren Sturzereignisse und die zunehmende Schwäche der Versicherten - insbesondere der Vorfall vom 19.11.2005 - verdichteten die Obhutspflichten der Beklagten dahin, dem Risiko eines möglichen Sturzes gerade im Zusammenhang mit Toilettengängen der Versicherten durch zusätzliche personelle oder technische Maßnahmen vorzubeugen. Es bedurfte der Hinzuziehung eines zweiten Pflegers oder des Einsatzes eines sogenannten "Lifters" mit Gurtgeschirr, der nach den Angaben der Zeugin A. im Toilettenraum auch vorhanden war. Insbesondere war es Aufgabe der Pflegeleitung, durch entsprechende Anweisungen die Pflegekräfte zu solchen zusätzlichen Maßnahmen zu veranlassen.

bb)

Das Ergebnis der vom Senat durchgeführten Beweisaufnahme deckt sich mit den Erkenntnissen aus der Pflegedokumentation. Die Zeugin A. (Pflegekraft) hat bekundet, Frau K. habe - abhängig von unzureichender Flüssigkeitsaufnahme - an Schwindelanfällen gelitten. Außerdem sei unter den Pflegekräften bereits vor dem Unfall vom 10.02.2006 allgemein bekannt gewesen, dass die Versicherte auf der Toilette schon einmal kurzzeitig das Bewusstsein verlor. Auch die Zeugin J. (Nichte der Versicherten) hat ausgesagt, ihre Tante habe extreme Angst vor dem Hinfallen gehabt und bereits seit Jahren an Schwindelanfällen gelitten. Immer wieder habe sie - die Zeugin - mit den Pflegern darüber gesprochen, dass man ihrer Tante mehr Sicherheit vor möglichen Stürzen geben müsse. Berücksichtigt man überdies, dass sich die Versicherte vor dem Sturz fortdauernd in sitzender Haltung befunden hatte, weil auch der Weg zur Toilette nach den Bekundungen der Zeugin A. im Rollstuhl zurückgelegt werden musste, so drängte sich die Gefahr eines Sturzes für den kurzen Zeitraum des erstmaligen Stehens der Versicherten nachgerade auf.

cc)

Die tatsächliche Vollziehung des Toilettengangs am 10.02.2006 hat diesen Erkenntnissen des Pflegepersonals nicht Rechnung getragen. Die Zeugin A. ließ die Versicherte, die sich an zwei alte Stangen festhalten sollte, aufrecht stehen, um nochmals deren Intimbereich zu säubern und sodann die Unterhose mit Einlage hochzuziehen. Durch ihre in diesem Augenblick gebückte Haltung war die Zeugin nicht in der Lage, dem Schwächeanfall der Versicherten zu begegnen und sie aufzufangen. Diese Gefahrensituation war zwangsläufig mit jedem Toilettenbesuch der Versicherten verbunden und deshalb vorhersehbar, wenn ihr nicht durch Einsatz einer zweiten Pflegekraft oder des Lifters begegnet wurde. Dass dies nicht geschehen ist, begründet den Pflichtverstoß der Mitarbeiter der Beklagten.

dd)

Der Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage, ob und welche ergänzenden Sicherungsmaßnahmen hätten getroffen werden müssen, bedarf es nicht. Die im Berufungsverfahren durchgeführten Ermittlungen begründen den sicheren Schluss aus eigener Sachkunde des Senats, dass die Mitarbeiter der Beklagten dem Risiko eines Sturzes der Versicherten nicht in der gebotenen Weise vorgebeugt haben. Ebenso steht die Möglichkeit weiterer Sicherungsmaßnahmen auf Grund der Bekundungen der Zeugin A. fest.

4.

Das Verschulden der Mitarbeiter der Beklagten wird gemäß § 280 Abs. 1 S. 2 BGB vermutet. Die Beklagte hat sich nicht entlastet.

5.

Die Schadenshöhe ist zwischen den Parteien nicht streitig.

II.

Die Zinsentscheidung oder auf §§ 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordern (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO).

Berufungsstreitwert: 10.145,65,-- €

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