LG Kleve, Urteil vom 14.07.2008 - 216 NS 12/08
Fundstelle
openJur 2011, 58741
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 4 DS-402Js 1114/07-129/08

Beim Diebstahl geringwertiger Sachen (bis etwa 25,00 Euro) ist selbst bei einschlägigen Vorstrafen und einer laufenden Bewährung regelmäßig eine Freiheitsstrafe nicht "unerlässlich" im Sinnde des § 47 StGB.

Tenor

Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts Em-merich am Rhein vom 31.03.2008 dahin abgeändert, dass der Angeklagte kos-tenpflichtig wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 5 € verurteilt wird. Der Angeklagte trägt auch die Kosten des Rechtsmittels, die Be-rufungsgebühr wird jedoch auf ½ ermäßigt.

Gründe

(abgekürzt gemäß § 267 Abs. 4 StPO, da rechtskräftig)

Der Angeklagte ist durch Urteil des Amtsgerichts Emmerich am Rhein vom 31. März 2008 wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden. Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft zu Ungunsten des Angeklagten eine auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung eingelegt, um eine härtere Bestrafung, insbesondere eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung, zu erreichen. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft, das gemäß § 301 StPO auch die Möglichkeit einer Abänderung des angefochtenen Urteils zugunsten des Angeklagten beinhaltet, führt im Hinblick auf § 47 StGB zu einer (hohen) Geldstrafe.

I. Feststellungen zur Person

Der derzeit 32 Jahre alte Angeklagte hat die Grund- und (mit Abschluss) die Hauptschule besucht. Eine anschließende Lehre zum Gas- und Wasserinstallateur brach er nach 2 ½ Jahren ab. In der Folgezeit war er zeitweise bei Zeitarbeitsfirmen beschäftigt. Auch an einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nahm er teil. Ab 2003 war er dann arbeitslos. Er erhielt "Hartz IV" in Höhe von monatlich 345 €. Dann war er von Mai 2007 bis Mai 2008 als Lagerarbeiter für 1.100 € netto tätig. Er lebt bei seiner Mutter, die eine Witwenrente bezieht und der er kein Kostgeld abgibt. Er hat einen vierjährigen Sohn, der bei der Kindesmutter lebt und vom Angeklagten keinen Unterhalt erhält.

Seit seinem 13. Lebensjahr konsumiert der Angeklagte Rauschgifte, zunächst Cannabis, seit dem 16. Lebensjahr Heroin. Mehrere Therapieversuche (2002, 2006) waren erfolglos. Auch die Teilnahme am Methadonprogramm hielt ihn weder vom Rauschgiftkonsum noch von weiteren Straftaten ab. Heroin hat er nach eigenen Angaben zuletzt noch kurz vor seiner am 26.05.2008 erfolgten Verhaftung konsumiert. Aufgrund der Rauschgiftsucht und der damit verbundenen Beschaffungskriminalität weist der Bundeszentralregisterauszug des Angeklagten hinsichtlich des Zeitraums 1994 bis 2007 18 Eintragungen aus, u.a. mehrere wegen Diebstahls:

1994 Diebstahl

1995 Erwerb von Betäubungsmitteln in 15 Fällen

1998 Diebstahl

1998 Erwerb von Betäubungsmitteln

1998 Diebstahl

1999 Diebstahl

1999 Diebstahl

1999 Verstoß gegen das Waffengesetz

2001 Diebstahl

2002 Diebstahl in 3 Fällen

2002 Diebstahl

2004 Diebstahl

2004 vorsätzliche Körperverletzung

2005 Diebstahl

2005 Diebstahl in 2 Fällen

2005 Diebstahl

2007 versuchter Betrug, Urkundenfälschung

Insoweit hat er bereits Freiheitsstrafen verbüß und befindet sich auch derzeit wieder in Strafhaft.

II. Feststellungen zur Sache

Aufgrund der Rechtsmittelbeschränkung ist von folgenden Feststellungen des Amtsgerichts auszugehen: Am 13. Dezember 2007 entwendete der Angeklagte in x in den Geschäftsräumen des Unternehmens "xy" eine Schachtel mit Zigaretten im Wert von 5,60 €. Die Tat fiel auf und die Beute gelangte wieder an den Eigentümer.

III. Beweiswürdigung

Der Angeklagte hat die Tat eingeräumt. Nach seiner Haftentlassung will er sich vorgeblich um eine Therapie und um Arbeit bemühen.

IV. Rechtliche Würdigung

Nach dem festgestellten Sachverhalt hat sich der Angeklagte des Diebstahls (§ 242 StGB) schuldig gemacht.

V. Strafzumessung

Ausgangspunkt der Strafzumessung ist der durch § 242 StGB bestimmte Strafrahmen von Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe.

Hier scheidet die Verhängung einer Freiheitsstrafe aufgrund des § 47 StGB ("Kurze Freiheitsstrafe nur in Ausnahmefällen") aus. Nach der mit dieser Vorschrift getroffenen gesetzgeberischen Grundentscheidung soll die Verhängung kurzfristiger Freiheitsstrafen weitestgehend zurückgedrängt werden. Freiheitsstrafe soll in diesem Bereich nur ausnahmsweise unter ganz "besonderen Umständen" in Betracht kommen. Die Verhängung einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten ist daher nur vertretbar, wenn sie sich aufgrund einer Gesamtwürdigung aller die Tat und den Täter kennzeichnenden Umstände als unverzichtbar erweist. Neben der Gesamtwürdigung, die eine deutliche Abweichung vom Durchschnittsfall ergeben muss, ist als ausschließlich präventiv zu betrachtende Zusatzvoraussetzung erforderlich, dass die Freiheitsstrafe "zur Einwirkung auf den Täter" oder "zur Verteidigung der Rechtsordnung" unerlässlich ist. Das in der 2. Alternative zum Ausdruck gekommenen Anliegen des Gesetzgebers, das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts vor einer Erschütterung durch unangemessen milde Sanktionen zu bewahren, wird bei der Verhängung hoher Geldstrafen für die Entwendung geringwertiger Sachen kaum jemals berührt sein. Abzustellen ist dabei nämlich auf die verständige und über die Umstände des Einzelfalles informierte Bevölkerung. Schon eher eingreifen kann die 1. Alternative. "Zur Einwirkung auf den Täter" kann eine Freiheitsstrafe notwendig erscheinen, wenn eine Geldstrafe nicht mehr ausreicht, dem Täter das Unrecht seiner Tat vor Augen zu führen, so dass er sich voraussichtlich nicht mehr strafbar macht. Dies wird man bei einer Erstverurteilung kaum jemals sagen können. Anders mag dies bei Tätern zu beurteilen sein, die in nicht weit zurückliegenden Zeiträumen bereits mehrfach einschlägig - auch zu hohen Geldstrafen - verurteilt worden sind und nunmehr bei weitgehend unveränderter Sachlage erneut straffällig werden. Auch bei diesen Tätern muss aber als dritte Voraussetzung des § 47 StGB noch die "Unerlässlichkeit" der Verhängung einer Freiheitsstrafe hinzutreten. Mit der Verwendung des Begriffs der Unerlässlichkeit werden höhere Anforderungen an die Verhängung einer Freiheitsstrafe gestellt als mit "Gebotensein" im Rahmen des § 56 Abs. 3 StGB. Der mit Verfassungsrang ausgestattete Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist auch bei Prüfung der Unerlässlichkeit zu berücksichtigen. Dabei wird nochmals der ultimaratio-Charakter der kurzen Freiheitsstrafe deutlich. Zwar wird es auch im Bereich des äußerst geringen Erfolgsunwertes (geringe Beute) Fälle geben, bei denen wegen des hohen Handlungsunwertes eine Freiheitsstrafe schuldangemessen und zudem im Sinne des § 47 StGB "unerlässlich" ist. Zu denken ist etwa an eine sich aus der Tatausführung ergebende außergewöhnlich hohe kriminelle Energie, ein offen zur Schau getragenes rechtsmissachtendes Verhalten oder ein dreistes Spekulieren auf eine Geldstrafe bereits bei der Tatbegehung. Zur Wahrung des in § 47 StGB festgeschriebene Regel-Ausnahme-Verhältnisses sollte aber unter Rückgriff auf eine im StGB (§ 248a StGB) bereits enthaltene Wertgrenze bei (gewaltfreien) Vermögensdelikten mit einem geringwertigen Schaden (bis etwa 25 €) selbst bei einschlägigen Vorstrafen und einer laufenden Bewährung regelmäßig eine Freiheitsstrafe nicht als "unerlässlich" eingeordnet werden. Dies gilt erst Recht, wenn der Eigentümer - wie hier - die Beute zurückerhalten hat.

Die gegen vergleichbare Lösungsansätze vorgebrachten Argumente überzeugen nicht. So wird angeführt, das generelle/regelmäßige Absehen von der Freiheitsstrafe in Fällen der Kleinstkriminalität sei eine "Resignation der Justiz gegenüber unverbesserlichen Straftätern" bzw. käme einem "Zurückweichen der Rechtsordnung vor unbelehrbaren und unbeeinflussbaren Tätern gleich und müsse als Preisgabe der Unverbrüchlichkeit des Rechts aufgefasst werden". Missachtet wird dieser generalpräventive Gesichtspunkt etwa dann, wenn massenhaft vorkommende Rechtsverstöße (z.B. Sachbeschädigungen) überhaupt nicht mehr verfolgt oder Straftaten mit Millionenschäden aus Gründen der Arbeitserleichterung nicht abgeurteilt werden, nicht aber wenn Delikte der Kleinkriminalität aufgedeckt, abgeurteilt, mit Geldstrafen in Höhe von mehreren Monatseinkünften (ggf. Teile der Sozialhilfe) belegt und die Strafe konsequent (notfalls im Wege der Ersatzfreiheitsstrafe) vollstreckt wird. Soweit angeführt wird, der Wortlaut des § 47 StGB stehe dem generellen Ausschluss von Freiheitsstrafen beim Diebstahl geringwertiger Sachen entgegen, ist die Kritik nicht nachvollziehbar. Die einschränkende Ansicht knüpft an das Merkmal der Unerlässlichkeit an, findet im Gesetzeswortlaut also durchaus eine Stütze. Neben der Sache liegt auch das Argument, über die Frage der Entkriminalisierung von Ladendiebstählen habe allein der Gesetzgeber zu befinden. Werden (empfindliche) Geldstrafen verhängt, so stellt dies keine "Entkriminalisierung" dar. Zudem wird eingewandt, die Beachtung fester Wertgrenzen würde ein schematisches Vorgehen bedeuten, das dem Wesen der Strafzumessung grundsätzlich fremd sei, weil es die Umstände jedes Einzelfalles außer Acht lasse. Dem ist entgegenzuhalten, dass bei der genannten Kleinkriminalität eine Bandbreite von 5 bis 180 (entsprechend 6 Monaten) oder gar bis 360 Tagessätzen Geldstrafe (§ 40 StGB) ausreichend Raum für eine dem Einzelfall gerecht werdende differenzierte Strafzumessung lässt. Ein dem geltenden Strafzumessungsrecht fremder Schematismus (geringe Geldstrafe - hohe Geldstrafe - kurze Bewährungsstrafe - höhere Bewährungsstrafe - Freiheitsstrafe ohne Bewährung zuzüglich Bewährungswiderruf hinsichtlich der Vorstrafen) droht vielmehr dann, wenn bei ganz geringem Erfolgsunrecht den Vorstrafen eine alle anderen Umständen außer Acht lassende Bedeutung beigemessen wird.

Bei der Zumessung der aus den vorgenannten Gründen zu verhängenden Geldstrafe wirken sich der geringe Wert der Beute, die komplette Rückführung der Beute an den Eigentümer und das Geständnis strafmildernd aus, während die Vorstrafen (insbesondere die einschlägigen) und die Tatbegehung während der Bewährungszeit strafschärfend wirken. Die letzte Verurteilung lag erst 8 Monate zurück. Gleich hinsichtlich dreier Restfreiheitsstrafen stand er unter Bewährung. Nach Abwägung aller für die Strafzumessung erheblichen Umstände hält das Gericht eine

Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 5 €

für tat- und schuldangemessen.

Eine Unterbringung gemäß § 64 StGB wäre - anders als etwa bei Körperverletzungsdelikten - hier unverhältnismäßig (§ 62 StGB).

VI. Kosten

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 464, 473 Abs. 4 StPO.

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