VG Gelsenkirchen, Urteil vom 14.08.2007 - 6 K 926/04
Fundstelle
openJur 2011, 55285
  • Rkr:

Eine Baugenehmeiung für ein "Tanzschul-Center" mit "regelmäßigem Tanzschulbetrieb, Präsentationen, Tanz- und

Musikveranstaltungen sowie Aufführungen" kann in nachbarrechtswidriger Weise unbestimmt sein und angesichts der tatsächlich durchgeführten

Veranstaltungen einen bloßen Etikettenschwindel darstellen.

Tenor

Die der Beigeladenen erteilten Baugenehmigungen des Beklagten vom 15. Mai 2002 und 04. August 2000, letztere in Gestalt der Nachtragsbaugenehmigung vom 11. Juni 2003, sowie der Widerspruchsbescheid des Landrats des Kreises V. vom 22. Januar 2004 werden aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens tragen der Beklagte und die Beigeladene je zur Hälfte mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks T.-------straße 15 in V. (Gemarkung V. , Flur 27, Flurstück 577), das mit einem Wohnhaus, in dem die Klägerin auch eine Heilpraktikerpraxis betreibt, bebaut ist. Der Ehemann der Beigeladenen ist Eigentümer des Grundstücks T1.--ring 31 ( Gemarkung V. , Flur 27, Flurstück 470 ), das gegenüber dem Grundstück der Klägerin im Kreuzungsbereich T.-------straße / T1.--ring liegt. In dem auf dem Grundstück der Beigeladenen aufstehenden Gebäude war bis zum Jahr 1994 das Kreiswehrersatzamt untergebracht. 1997 erwarb der Ehemann der Beigeladenen das Grundstück. Seitdem wird ein Teil des Gebäudes als Büro- und Geschäftsräume genutzt; in einem Teil des Erdgeschosses befindet sich zudem eine Gaststätte.

Bereits am 20. Oktober 1997 beantragte das "Tanzcenter L. " einen planungsrechtlichen Vorbescheid für verschiedene Nutzungen des ehemaligen Kreiswehrersatzamtes. Insbesondere sollte ein Teil des Gebäudes als Tanzschule mit Betriebszeiten von werktags 15.00 Uhr bis 23.00 Uhr und sonn- und feiertags von 10.00 Uhr bis 00.00 Uhr genutzt werden. Zudem wollte der "Tanzcenter L. Veranstaltungsbetrieb" das Gebäude für nicht näher bezeichnete Veranstaltungen mit täglichen Betriebszeiten von 10.00 Uhr bis 3.00 Uhr nutzen. Unter dem 6. November 1997 erteilte der Beklagte den beantragten Vorbescheid.

Am 30. Oktober 2001 beantragte die Beigeladene für Erdgeschoss und Keller des der T.-------straße zugewandten Gebäudeteils zunächst die Erteilung einer Baugenehmigung für eine Tanzschule und ein Veranstaltungscenter mit Gastronomie. Unter demselben Datum reichte sie sodann neue Unterlagen ein, mit denen sie eine Nutzung als "Tanzschul- Center mit tanzschultypischen Veranstaltungen mit bis zu 400 Personen" beantragte. In den zwei Betriebsbeschreibungen ist zum einen als beabsichtigte Dienstleistung "regelmäßiger Tanzschulbetrieb, Präsentation, Tanz- und Musikveranstaltungen, Aufführungen" aufgeführt, zum anderen die Nutzung des südlichsten Gebäudeteils als Gastronomie beantragt. Die Betriebszeiten sind mit werktags 9.00 Uhr bis 1.00 Uhr und freitags, samstags, sonn- und feiertags 9.00 Uhr bis 4.00 Uhr angegeben. Die Netto- Grundfläche des Tanzschul-Centers beträgt insgesamt ca. 1.256 qm.

Ein im Antragsverfahren eingereichtes Gutachten zum Schallschutznachweis des Ingenieurbüros X. - IWA - vom 25. Oktober 2001 kommt zu dem Ergebnis, dass die in einem Allgemeinen Wohngebiet zu stellenden Anforderungen an den nächstgelegenen Wohnbebauungen, u.a. auch an dem Wohnhaus der Klägerin eingehalten würden. Dabei geht das Gutachten von einer Nutzung des Gebäudes der Beigeladenen als Tanzschule und Veranstaltungscenter aus, wobei auch Großraumveranstaltungen geplant seien. Nachdem die Klägerin Bedenken gegen das Vorhaben der Beigeladenen geäußert hatte, merkte das IWA in einer ergänzenden Stellungnahme vom 20. März 2002 u. a. an, bei dem Bauvorhaben handele es sich in erster Linie um die Einrichtung einer Tanzschule mit tanzschultypischen Veranstaltungen. Natürlich sollten auch größere Veranstaltungen oder Vorträge stattfinden können.

Am 15. Mai 2002 erteilte der Beklagte der Beigeladenen die beantragte Genehmigung. Bereits mit Bescheid vom 4. August 2000 hatte der Beklagte die Errichtung von 77 Stellplätzen auf dem Grundstück T1.--ring 31 genehmigt.

Nachdem auch das Staatliche Umweltamt M. Bedenken hinsichtlich der Lärmsituation und des Schallgutachtens des IWA geäußert hatte, legte die Beigeladene ein Gutachten des Bausachverständigen H. vom 7. April 2003 vor. Dieses kommt zu dem Ergebnis, dass der für Allgemeine Wohngebiete geltende Immissionsgrenzwert von 40 dB(A) nachts am Wohnhaus der Klägerin um 2,8 dB(A) bzw. 4,6 dB(A), abhängig vom Umfang der gewerblichen Nutzung der Parkflächen überschritten werde. Zur Abhilfe sei die Errichtung einer schallabsorbierenden Lärmschutzwand erforderlich. Nach einem zudem im Juni 2003 erstellten Gutachten des Dr. X1. werden die Immissionsrichtwerte in der lautesten Nachtstunde am Wohnhaus der Klägerin ohne lärmmindernde Maßnahmen um 1,3 dB(A) überschritten. Durch Errichtung einer Lärmschutzwand und Stellplatzverlagerung könnten die Werte hingegen eingehalten werden.

Mit Nachtragsbauschein vom 11. Juni 2003, der u. a. die Errichtung einer Lärmschutzwand zur T.-------straße hin vorsieht, ergänzte der Beklagte daraufhin die Stellplatzgenehmigung.

In einer vor Eröffnung des Betriebes erschienenen Zeitungsanzeige warb die Beigeladene für ihr "Tanz-, Tagungs- und Veranstaltungscenter". In der Anzeige heißt es u.a.:

"Neben dem Tanzen gibt es Angebote zum Plaudern und Treffen. Auch für Präsentationen oder Tagungen ist das Haus ausgebaut. Und das für Jung und Alt: Die Unnaer Jugend soll hier regelmäßig ihre Disco finden, für Senioren und ältere Besucher ist im barrierefreien Haus nicht nur ein sonntäglicher Brunch mit der Chance zum Tanz vorgesehen. Schon vor der Eröffnung haben mehrere Interessenten gebucht. Ebenso sollen Hochzeiten und Feiern im "KX" stattfinden."

Gegen die beiden Baugenehmigungen und den Nachtragsbauschein legte die Klägerin mit Schreiben vom 30. Mai 2002, 14. Juni 2002 und 9. Juni 2003 jeweils Widerspruch ein. Zusammenfassend trug sie zur Begründung im wesentlichen vor: Das Vorhaben der Beigeladenen sei rechtswidrig, da es nicht die erforderliche Rücksicht auf die angrenzende Wohnbebauung nehme. Die T.-------straße liege in einem reinen Wohngebiet. Der Bereich nördlich der T.-------straße sei hingegen als allgemeines Wohngebiet einzuordnen. Von dem Kreiswehrersatzamt seien zur Nachtzeit keinerlei Störungen ausgegangen. Dies habe sich nun wesentlich geändert. Zumindest in der Zeit von Freitag bis Sonntag sei nun tatsächlich eine Vergnügungsstätte genehmigt. Eine solche sei aber nur in einem Misch- oder Kerngebiet zulässig. Was die Beigeladene unter dem Sammelbegriff "tanzschultypische Veranstaltungen" verstehe, sei bereits der Zeitungsanzeige zu entnehmen. Auf Flyern und im Internet werbe die Beigeladene zudem für Discos, die von einem Club "B. B1. ", der im ehemaligen Kreiswehrersatzamt untergebracht sei, veranstaltet würden. All dies zeige, dass keineswegs nur tanzschultypische Veranstaltungen durchgeführt würden. Die von der Beigeladenen geplanten Tanzgroßveranstaltungen führten zu einer erheblichen Geräuschbelästigung. Insbesondere sei erfahrungsgemäß das Verhalten der Besucher derartiger Veranstaltungen von dem Betreiber nicht wesentlich zu beeinflussen. Das vorliegende Schallgutachten sei in mehreren Punkten mangelhaft. So berücksichtige es nicht die besondere Qualität des Lärms. Denn Geräuscheinwirkungen durch Musik und Gespräche, Gelächter und Zurufe würden schon auf Grund der hohen Informationshaltigkeit gerade in der Nacht- und Ruhezeit als überdurchschnittlich lästig empfunden. Vergleichbares gelte für den impulshaltigen Lärm, der durch den stattfindenden An- und Abfahrverkehr mit Kraftfahrzeugen entstehe. Es fehle außerdem in dem Schallgutachten eine Aussage zu den vier zur T.------- straße hin gelegenen Parkplätzen, die von der Beigeladenen zur Nachtzeit genutzt werden dürften. Zudem sei nicht zu verhindern, dass Besucher des Tanzschul-Centers die öffentlichen Parkplätze in der T.-------straße nutzen, was besonders störend für die Anwohner sei. Die Klägerin betonte, gegen den Betrieb einer reinen Tanzschule keine Einwände zu erheben.

In der Folgezeit wandte die Klägerin sich regelmäßig mit Beschwerden über nächtliche Störungen anlässlich der jeden zweiten Freitag von der Beigeladenen durchgeführten Disco - Veranstaltungen "B. B1. " an den Beklagten, der daraufhin sporadisch nächtliche Kontrollen durchführte. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin führte zudem nächtliche Lärmmessungen durch.

In einer ergänzenden planungsrechtlichen Stellungnahme vom 10. Januar 2003 vertrat der Leiter des Planungsamtes des Beklagten die Auffassung, die nähere Umgebung des streitigen Vorhabens sei als Mischgebiet zu bewerten, in dem eine Tanzschule zulässig sei. Die planungsrechtliche Stellungnahme beziehe sich allerdings auf ein beantragtes Tanzschul-Center mit tanzschultypischen Veranstaltungen, d.h. der Tanzschulanteil müsse überwiegend und prägend sein. Veranstaltungen, die sich nicht aus dem Tanzschulbetrieb ergäben, seien von der Genehmigung nicht gedeckt und müssten planungsrechtlich anders bewertet werden. Ein reiner, sich nicht aus der Tanzschule ergebender und umfangreicher Veranstaltungs- und Diskothekenbetrieb müsse als Vergnügungsstätte beurteilt werden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2004 wies der Landrat des Kreises V. die Widersprüche im Wesentlichen als unbegründet zurück und ordnete lediglich hinsichtlich der Nutzungsbeschränkung für die Stellplatzanlage und für den Zeitraum bis zur Errichtung der Lärmschutzwand bestimmte Maßnahmen an. Zur Begründung führte er aus, soweit von der Klägerin vorgetragen werde, dass in dem Tanzschul-Center eine Diskothek betrieben werde, sei festzustellen, dass diese nicht genehmigt sei. Das nach dem Bauschein genehmigte Tanzschul-Center mit Gastronomie verletze auch unter Berücksichtigung der genehmigten Besucherzahlen und Betriebszeiten nicht das baurechtliche Rücksichtnamegebot. Nach den vorgenommenen Änderungen hinsichtlich der Stellplatzanordnung, der Bewegungshäufigkeit der Fahrzeuge sowie der angeordneten Errichtung einer Lärmschutzwand würden die Immissionsrichtwerte am Wohnhaus der Klägerin eingehalten.

Die Klägerin hat am 20. Februar 2004 die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung sie ihr Vorbringen aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren ergänzt und vertieft. Insbesondere weist sie darauf hin, dass die angeblich tanzschulspezifischen Großveranstaltungen den Charakter einer Diskothek hätten, zumindest aber einer diskothekenähnlichen Vergnügungsstätte. Bei der Bezeichnung "Tanzschul-Center mit tanzschultypischen Veranstaltungen" handele es sich um einen "Etikettenschwindel". Von der am 4. August 2000 erteilten Baugenehmigung habe sie erst bei Akteneinsicht am 20. Juni 2002 erfahren, so dass ihr Widerspruch vom 14. Juli 2002 rechtzeitig eingelegt worden sei.

Die Klägerin beantragt,

die der Beigeladenen erteilten Baugenehmigungen des Beklagten vom 15. Mai 2002 und 04. August 2000, letztere in Gestalt der Nachtragbaugenehmigung vom 11. Juni 2003, sämtlich in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landrats des Kreises V. vom 22. Januar 2004, aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er ist der Auffassung, es liege weder ein Verstoß gegen den baurechtlichen Gebietsgewährleistungsanspruch noch gegen das Rücksichtnahmegebot vor. Genehmigt worden sei lediglich ein Tanzschul- Center mit tanzschultypischen Veranstaltungen. Die Tanzveranstaltungen an jedem zweiten Freitag stellten nach Angaben der Beigeladenen ein zusätzliches zeitgemäßes Angebot der Tanzschule dar und seien gleichzeitig Werbeveranstaltungen.

Die Beigeladene beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie schließt sich der Ansicht des Beklagten an und weist darauf hin, dass es für eine moderne Tanzschule unerlässlich sei, neben den traditionellen Tanzschulveranstaltungen wie Tanzkursen und Abschlussbällen weitere Veranstaltungen insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene anzubieten. Ohne dieses zusätzliche Angebot könne sich in der heutigen Zeit eine größere Tanzschule nicht behaupten. Die Beigeladene ist zudem der Auffassung, der Widerspruch der Klägerin vom 14. Juli 2002 gegen die Baugenehmigung vom 4. August 2000 sei verfristet. Hierüber habe sich auch die Widerspruchsbehörde nicht hinwegsetzen dürfen.

Die Berichterstatterin hat am 31. Januar 2007 und 16. Mai 2007 Ortstermine durchgeführt. Hinsichtlich der Ergebnisse wird auf die Terminsprotokolle verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten und des Landrats des Kreises V. ergänzend Bezug genommen.

Gründe

Die Klage ist insgesamt als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1, 1. Alt. der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässig und begründet.

Insbesondere ist der von der Klägerin gegen die Baugenehmigung vom 4. August 2000 am 14. Juli 2002 erhobene Widerspruch nicht verfristet. Denn diese Baugenehmigung ist der Klägerin nicht bekannt gegeben worden, so dass die Widerspruchsfrist des § 70 Abs. 1 VwGO nicht in Gang gesetzt wurde. Da die Klägerin erst durch die Akteneinsicht anlässlich der am 15. Mai 2002 erteilten Baugenehmigung Kenntnis von der unter dem 4. August 2000 erteilten Baugenehmigung erlangt hat und von dieser auch nicht zuvor für die Klägerin erkennbar Gebrauch gemacht wurde, hat die Klägerin auch nicht ihr Widerspruchsrecht verwirkt.

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin wird sowohl durch die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 15. Mai 2002 als auch durch die am 4. August 2000 erteilte Baugenehmigung in Gestalt der Nachtragsbaugenehmigung vom 11. Juni 2003 in ihren Rechten verletzt; sie hat deshalb einen Anspruch auf deren Aufhebung (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die angefochtene Baugenehmigung vom 15. Mai 2002 durfte nicht erteilt werden, weil dem Vorhaben der Beigeladenen öffentlichrechtliche, auch dem Schutz der Klägerin dienende Vorschriften entgegenstehen, § 75 Abs. 1 Satz 1 der Bauordnung für das Land Nordrhein - Westfalen (BauO NRW). Denn die angegriffene Baugenehmigung ist unter Verstoß gegen § 37 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land Nordrhein - Westfalen (VwVfG) unbestimmt und die Unbestimmtheit bezieht sich gerade auch auf diejenigen Merkmale des Vorhabens, deren genaue Festlegung erforderlich ist, um eine Verletzung nachbarschützender Rechtsvorschriften - hier insbesondere der Vorschriften des Immissionsschutzrechts - auszuschließen.

Eine Baugenehmigung muss inhaltlich bestimmt sein. Sie muss Inhalt, Reichweite und Umfang der genehmigten Nutzung eindeutig erkennen lassen, damit der Bauherr die Bandbreite der für ihn legalen Nutzungen und Drittbetroffene das Maß der für sie aus der Baugenehmigung erwachsenden Betroffenheit zweifelsfrei feststellen können. Eine solche dem Bestimmtheitsgebot genügende Aussage muss dem Bauschein selbst - ggf. durch Auslegung - entnommen werden können, wobei die mit Zugehörigkeitsvermerk versehenen Bauvorlagen bei der Ermittlung des objektiven Erklärungsinhalts der Baugenehmigung herangezogen werden müssen. Andere Unterlagen oder sonstige Umstände sind angesichts der zwingend vorgeschriebenen Schriftform der Baugenehmigung ( § 75 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW ) für den Inhalt der erteilten Baugenehmigung regelmäßig nicht relevant. Allerdings ist die Baugenehmigungsbehörde gehalten, Bauanträge unter Einbeziehung der ihr bekannten Umstände des jeweils zu Grunde liegenden Sachverhalts auszulegen, über den so ermittelten Verfahrensgegenstand zu entscheiden und dies in der ggf. zu erteilenden Baugenehmigung deutlich zu machen.

Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein - Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 7. Dezember 2006 - 10 B 14/07 -, juris Dokumentation; Beschluss vom 30. Mai 2005 -.10 A 2017/03 -, juris Dokumentation; Beschluss vom 12. Januar 2001 - 10 B 1827/00 -, BRS 64 Nr. 162; Urteil vom 10. Dezember 1998 - 10 A 4248/92 -, BRS 58 Nr. 216; Beschluss vom 16. Juli 1997 - 7 B 1585/97 -, juris Dokumentation; Verwaltungsgericht (VG) Münster, Urteil vom 13. Februar 2003 - 2 K 3665/00 -, juris Dokumentation; Boeddinghaus / Hahn / Schulte, Bauordnung NRW, Stand Januar 2007, § 75 Rnr. 137-144 m.w.N.

Im vorliegenden Fall sind diese Anforderungen nicht gewahrt. Dem Bauschein lässt sich lediglich entnehmen, dass das ehemalige Kreiswehrersatzamt einer neuen Nutzung als "Tanzschul-Center mit bis zu 400 Personen" zugeführt werden darf. Weder mit Hilfe dieser Formulierung noch anhand der im Bauschein enthaltenen Nebenbestimmungen lässt sich präzisieren, welcher Art die genehmigte Nutzung sein soll.

Der Begriff des "Tanzschul-Centers" beinhaltet nicht bereits als solcher eine klar umrissene Bandbreite zulässiger Nutzungen. Während es sich bei einer "Tanzschule" um eine traditionelle Nutzungsform handelt, deren Inhalt gegebenenfalls durch eine typisierende Betrachtung bestimmt werden kann, sollen im vorliegenden Fall offensichtlich durch die Verwendung des Begriffs "Center" darüber hinausgehende Nutzungen erfasst werden. Diese Einschätzung wird bestätigt durch den Vortrag der Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung. Dort hat die Beigeladene dargelegt, dass große Tanzschulbetriebe sich in der heutigen Zeit nicht mehr auf die traditionellen Tanzschulveranstaltungen beschränken könnten. Vielmehr habe sich in den letzten Jahren ein erheblicher Wandel vollzogen. Große Tanzschulen wie die ihre seien nur attraktiv und damit auch wirtschaftlich lukrativ, wenn sie neben den klassischen Tanzschulveranstaltungen wie Tanzkursen und Abschlussbällen weitere Angebote insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene bereit hielten. Hierzu zählen nach Auffassung der Beigeladenen insbesondere Disco - Veranstaltungen, aber auch Hochzeiten und sonstige Feiern, bei denen - auch - getanzt wird. Angesichts der damit denkbaren breit gefächerten Nutzungen ist eine klare Eingrenzung des Begriffs "Tanzschul- Center" aus sich heraus nicht möglich. Umso wichtiger wäre eine Konkretisierung des beabsichtigten Nutzungsprofils durch die Baugenehmigung, die im vorliegenden Fall jedoch keinerlei weitere Darlegungen enthält.

Die erforderliche Präzisierung, die im Hinblich darauf, dass die Baugenehmigung ein mitwirkungsbedürftiger Verwaltungsakt ist, in erster Linie von der Beigeladenen zu leisten gewesen wäre, ist auch den übrigen mit Zugehörigkeitsvermerk versehenen Bauvorlagen nicht zu entnehmen. Weder aus der Baubeschreibung noch aus der Berechnung des umbauten Raumes oder aus dem Stellplatznachweis geht ein genauer bestimmter Nutzungszweck hervor. Im Antragsformular ist als Nutzungszweck lediglich "Tanzschul-Center mit tanzschultypischen Veranstaltungen mit bis zu 400 Personen" angegeben. Der Zusatz "tanzschultypische Veranstaltungen" bringt jedoch keine weitere Klarheit. Denn - wie oben bereits aufgeführt - handelt es sich bei dem Tanzschul-Center der Beigeladenen gerade nicht um eine typische Tanzschule. Die Bandbreite zulässiger Nutzungen muss also über tanzschultypische Veranstaltungen, die sicherlich auch einbezogen sind, hinausgehen. In der Betriebsbeschreibung zum Tanzschul-Center hat die Beigeladene in dem Feld "beabsichtigte Dienstleistung" eingetragen: "regelmäßiger Tanzschulbetrieb, Präsentation, Tanz- und Musikveranstaltungen, Aufführungen". Außer der Angabe "regelmäßiger Tanzschulbetrieb", die die tanzschultypischen Veranstaltungen umfassen dürfte, sind auch die hier verwendeten Begriffe völlig offen und ungenau. Wegen der Vielgestaltigkeit der hierunter fassbaren möglichen Aktivitäten sind die Begriffe zu unbestimmt, um die mit dem Vorhaben beabsichtigte Nutzung hinreichend klar festzulegen. Insbesondere die beabsichtigte Durchführung von Tanz -und Musikveranstaltungen bedürfte vor dem Hintergrund einer erforderlichen Abgrenzung zu einer reinen Vergnügungsstätte einer weiteren Konkretisierung und Eingrenzung. Diese hat die Beigeladene aber nicht vorgenommen. Sie hat an keiner Stelle die von ihr in ihrem Betrieb geplanten Aktivitäten näher dargelegt. Auch wenn Präsentationen, Tanz- und Musikveranstaltungen sowie Aufführungen lediglich als solche im Rahmen eines Tanzschul-Centers gesehen werden, ergibt sich kein hinreichend klares Nutzungsbild, da dieses - wie dargelegt - nicht nur einen typischen Tanzschulbetrieb erfasst. Damit handelt es ich aber auch bei den Präsentationen, Tanz- und Musikveranstaltungen nicht nur um solche, die herkömmlicher Weise mit dem Betrieb einer Tanzschule verbunden sind, wie z. B. Bälle, die Darbietung von Tänzen oder die Gelegenheit zum Tanz im Rahmen - gegebenenfalls hinsichtlich des Besucherkreises sogar offener - abendlicher Veranstaltungen.

Die bereits bestehenden Unklarheiten hinsichtlich der beabsichtigten Nutzung des Gebäudes durch die Beigeladene werden durch die in den Bauschein, den Bauantrag und die Betriebsbeschreibung aufgenommenen Angaben hinsichtlich der zulässigen Besucherzahl sowie der Betriebszeiten noch verstärkt. Bereits die zugelassene Anzahl von 400 Personen übersteigt das, was üblicherweise bei einem Tanzschulbetrieb zu erwarten ist. Insbesondere aber die Betriebszeiten an Freitagen, Samstagen, Sonn- und Feiertagen jeweils von 9.00 Uhr bis 4.00 Uhr gehen weit über die im Rahmen einer Tanzschule zu erwartenden hinaus und ermöglichen in Verbindung mit den angegebenen beabsichtigten Dienstleistungen nahezu alle denkbaren Veranstaltungen im Freizeitbereich.

Auch aus den äußeren, den Beteiligten bekannten Umständen lässt sich nicht entnehmen, welche Nutzung durch die Beigeladene zur Genehmigung gestellt werden sollte. Vielmehr gehen der Beklagte und die Beigeladene offenbar von einem Genehmigungsumfang aus, der, wenn auch nicht klar umrissen, so doch jedenfalls weit über das hinausgeht, was im Rahmen eines - wenn auch großen - Tanzschulbetriebes zu erwarten ist. So hat die Beigeladene in einer Zeitungsannonce vor der Eröffnung für ihr "Tanz-, Tagungs- und Veranstaltungcenter" damit geworben, dass u. a. die Unnaer Jugend hier regelmäßig ihre Disco finden soll; die Räumlichkeiten sollen zudem für Hochzeiten und Feiern genutzt werden. Im Internet und auf Flyern wirbt die Beigeladene für die jeden zweiten Freitag stattfindenden Disco - Veranstaltungen, ohne dass irgendein Bezug zur Tanzschule hergestellt wird. Es spricht vieles dafür, dass die Beigeladene ihr ursprüngliches Konzept eines Veranstaltungscenters, das sie dann allerdings nicht mehr zur Genehmigung gestellt hat, tatsächlich nicht aufgegeben hat. So sind die Betriebsbeschreibungen nahezu identisch; das Brandschutzkonzept, das von 1.000 Besuchern ausgeht, wurde vollständig übernommen. Dieser Einschätzung entspricht, dass das Gutachten des IWA vom 25. Oktober 2001 von einer Nutzung des Gebäudes als Tanzschule und Veranstaltungscenter ausgeht, wobei auch Großveranstaltungen geplant seien. In der ergänzenden Stellungnahme vom 20. März 2002 führt das IWA aus, es handele sich in erster Linie um die Errichtung einer Tanzschule mit tanzschultypischen Veranstaltungen; natürlich sollten auch größere Veranstaltungen oder Vorträge stattfinden können. Diese Informationen beruhen - wie die Beigeladene in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat - auf ihren Angaben. Tatsächlich hat die Beigeladene in der Vergangenheit auch zahlreiche Veranstaltungen in ihrem Gebäude durchgeführt, bei denen aus Sicht des Gerichts kein Zweifel bestehen kann, dass sie keinerlei Bezug zu einem Tanzschulbetrieb aufweisen. So fand nach dem unbestrittenen Vortrag der Klägerin u. a. eine Sportlerehrung der Stadt V. in dem Tanzschul- Center statt und es wurden Parteitage abgehalten. Insbesondere aber die von der Klägerin als störend empfundenen jeden zweiten Freitag stattfindenden Disco - Veranstaltungen sprechen angesichts des fehlenden Bezugs zur Tanzschule und der Betriebszeiten bis 4.00 Uhr für eine weit über eine Tanzschule hinausgehende Nutzung.

Vor diesem Hintergrund ist der Einwand der Klägerin, bei der erteilten Baugenehmigung handele es sich um einen "Etikettenschwindel",

vgl. zu dem Begriff auch Boeddinghaus / Hahn / Schulte, a.a.O., Rnr. 144,

durchaus nachvollziehbar.

Der Beklagte hat - soweit für das Gericht erkennbar - in der Vergangenheit sämtliche von der Beigeladenen durchgeführten Veranstaltungen unbeanstandet gelassen. Dies spricht dafür, dass er offensichtlich von einer sehr weiten, nahezu unbegrenzten Bandbreite von der Genehmigung erfasster Nutzungen ausgeht, und zwar ungeachtet dessen, dass das Planungsamt des Beklagten bereits in einer Stellungnahme vom 10. Januar 2003 darauf hingewiesen hatte, in dem fraglichen Gebiet seien lediglich tanzschultypische Veranstaltungen zulässig.

Die Unbestimmtheit der Baugenehmigung führt im vorliegenden Fall auch zu ihrer Aufhebung. Eine Baugenehmigung ist als nachbarrechtswidrig aufzuheben, wenn Bauschein und genehmigte Bauvorlagen hinsichtlich nachbarrechtsrelevanter Baumaßnahmen unbestimmt sind und infolgedessen bei der Ausführung des Bauvorhabens eine Verletzung von Nachbarrechten nicht auszuschließen ist.

Ständige Rechtsprechung, vgl. u. a. OVG NRW, Beschlüsse vom 30. Mai 2005 und 16. Juli 1997, a. a. O.; VG Münster, a. a. O.

So liegt der Fall hier. Denn die Unbestimmtheit der Baugenehmigung betrifft die Bandbreite der zulässigen Nutzungen. Von dieser ist aber abhängig, ob sich das Vorhaben wegen der von ihm ausgehenden Immissionen gegenüber der Klägerin als rücksichtslos erweist. Dies zeigen bereits die im Verwaltungsverfahren eingeholten Lärmgutachten, nach denen die für Allgemeine Wohngebiete geltenden Werte nur bei bestimmten zusätzlichen Maßnahmen, insbesondere dem Bau einer Lärmschutzwand eingehalten werden. Dabei ist unklar, von welchen Veranstaltungen, insbesondere "Großveranstaltungen" die Gutachter ausgehen. Werden aber die Lärmwerte nur knapp eingehalten, so ist bei der unklaren Bandbreite zugelassener Nutzungen auch eine Überschreitung der Immissionsrichtwerte am Wohnhaus der Klägerin denkbar und damit ein Verstoß gegen Nachbarrechte nicht ausgeschlossen. Dies gilt umso mehr, als von der Beigeladenen überwiegend Veranstaltungen für Jugendliche bis in die späten Nachtstunden durchgeführt werden. Erfahrungsgemäß gehen hiervon in gesteigertem Maß Geräuschimmissionen aus, die zu einer unzumutbaren Beeinträchtigung der Wohnruhe führen können, weil der angesprochene Personenkreis mit anderen Verhaltensweisen und Erwartungen den Veranstaltungsort aufsucht als ein "gesetzteres" Publikum. Gerade dies muss aber auch im Rahmen des baunachbarlichen Rücksichtnahmegebots berücksichtigt werden, was nur geschehen kann, wenn Art und Weise der Veranstaltungen erkennbar sind.

Die Unbestimmtheit der Baugenehmigung vom 15. Mai 2002 erfasst auch die Baugenehmigung vom 4. August 2000 in Gestalt der Nachtragsbaugenehmigung vom 11. Juni 2003. Denn diese ist untrennbar mit der Genehmigung für das Tanzschul-Center verbunden, wie auch das Nachtragsbaugenehmigungsverfahren zeigt. Zudem enthält die Baugenehmigung für das Tanzschul-Center Auflagen hinsichtlich der Parkplätze. Aufgrund dieser Koppelung kann die Baugenehmigung für den Parkplatz nach Aufhebung der Baugenehmigung durch das Gericht nicht mehr ausgenutzt werden. Dies bedeutet aber nicht, dass die Genehmigung für den Parkplatz die Klägerin nicht mehr belasten kann. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass der Beklagte auf Antrag der Beigeladenen eine neue Baugenehmigung für ein Tanzschul-Center erteilt, deren Inhalt derzeit nicht absehbar ist. Die Beigeladene könnte dann die Baugenehmigung vom 4. August 2000 in Gestalt der Nachtragsbaugenehmigung im Rahmen der neuen Baugenehmigung für ein Tanzschul-Center wieder ausnutzen. Da der von dem Betrieb des Tanzschul-Centers ausgehende Lärm überwiegend durch den an - und abfahrenden Verkehr verursacht, dessen Umfang wiederum durch die Art der Nutzung des Tanzschul-Centers bestimmt wird, bestehen auch keine Zweifel, dass die Baugenehmigung für den Parkplatz ebenfalls in nachbarrechtswidriger Weise zu unbestimmt ist.

Der Klage ist daher insgesamt stattzugeben. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 und 3, 162 Abs. 3 VwGO. Der Beigeladenen sind die Hälfte der Kosten aufzuerlegen, da sie einen Antrag gestellt und sich damit einem Kostenrisiko ausgesetzt hat.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.