OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.12.2004 - 6 B 1509/04
Fundstelle
openJur 2011, 35313
  • Rkr:
Verfahrensgang
Tenor

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen; diese Kosten trägt die Beigeladene selbst.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 Euro festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde ist nicht begründet. Die auf die dargelegten Gründe beschränkte Überprüfung der angefochtenen Entscheidung (§ 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -) führt nicht zu einem Erfolg des Rechtsmittels.

Der Antragsteller und die Beigeladene verrichten Dienst als Kriminalhauptkommissar bzw. Regierungsamtfrau der Besoldungsgruppe A 11 bei dem Polizeipräsidium X. Im Gesamturteil ihrer letzten dienstlichen Beurteilungen vom 00.00.00 bzw. vom 00.00.00 wurden beide mit "Die Leistung und Befähigung ... übertreffen die Anforderungen" (4 Punkte) beurteilt. Der Dienstherr beabsichtigt, die dem Polizeipräsidium X. zum 00.00.00 zugewiesene Planstelle der Besoldungsgruppe A 12 der Bundesbesoldungsordnung (BBesO) mit der Beigeladenen zu besetzen. Hiergegen erstrebt der Antragsteller einstweiligen Rechtsschutz. Das Verwaltungsgericht hat seinem Antrag,

"dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, die dem Antragsgegner zum 1. Juni 0000 zugewiesene Stelle der Besoldungsgruppe A 12 Bundesbesoldungsordnung II. Säule nicht mit einem Konkurrenten zu besetzen, bis über die Bewerbung des Antragstellers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entschieden worden ist,"

stattgegeben. Der Antragsteller habe neben einem Anordnungsgrund auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die Auswahlentscheidung sei rechtswidrig, weil der Dienstherr bei dem Qualifikationsvergleich zwischen dem Antragsteller und der Beigeladenen nur die gleichlautenden Gesamturteile der aktuellen dienstlichen Beurteilungen in den Blick genommen, eine inhaltliche Ausschöpfung dieser Beurteilungen aber nicht vorgenommen habe. Letzteres hätte sich aber geradezu aufgedrängt, weil dem Antragsteller in Bezug auf zwei Hauptmerkmale eine bessere Bewertung zuerkannt worden sei als der Beigeladenen.

Der Antragsgegner macht zunächst geltend, dass das Verwaltungsgericht seine Entscheidung für ihn unerwartet getroffen habe, und rügt insoweit eine Verletzung rechtlichen Gehörs. Weiterhin trägt er vor: Nach den für die Polizei maßgeblichen Beurteilungsrichtlinien (Beurteilungsrichtlinien im Bereich der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen vom 25. Januar 1996 - MBl. NRW 1996, 278 - in der Fassung der einschlägigen Änderungen - BRL Pol -) sei für personelle Maßnahmen nur auf das Gesamtergebnis der dienstlichen Beurteilungen abzustellen. Die Bildung eines Punktwertes als arithmetisches Mittel aus den Bewertungen der Hauptmerkmale sei nach den BRL Pol nicht zulässig. Im Übrigen sei er seiner Verpflichtung, eine inhaltliche Ausschöpfung der dienstlichen Beurteilungen des Antragstellers und der Beigeladenen ernsthaft in Betracht zu ziehen, nachgekommen. In diesem Zusammenhang sei zu berücksichtigen, dass für die zukünftige Bewährung in einem Beförderungsamt die aktuelle Bewertung des Hauptmerkmals "Mitarbeiterführung" am ehesten eine Rolle spielen könne. In Bezug auf dieses Hauptmerkmal unterschieden sich die Beurteilungen des Antragstellers und der Beigeladenen nicht. Dies könne aber letztlich dahingestellt bleiben. Soweit der Antragsteller in Bezug auf zwei Hauptmerkmale besser bewertet worden sei als die Beigeladene, sei dies unerheblich; denn insoweit habe bei der seinerzeitigen Beurteilerbesprechung Einigkeit darüber bestanden, dass die im Gesamtergebnis mit 4 Punkten bewerteten Beamtinnen und Beamten einen gleichen Leistungsstand aufwiesen. Eine Herabsetzung der Bewertung der Hauptmerkmale sei damals jedoch nur insoweit erfolgt, als dies erforderlich gewesen sei, um eine Schlüssigkeit der Gesamtbewertungen herbeizuführen. Die Rechtsprechung zur qualitativen Ausschärfung einer dienstlichen Beurteilung sei erst nach diesem Zeitpunkt entwickelt worden. Deren Anwendung im vorliegenden Falle würde dazu führen, dass den Hauptmerkmalen nunmehr eine Bedeutung beigemessen würde, die ihnen im Zeitpunkt der Erstellung der hier in Rede stehenden dienstlichen Beurteilungen gerade nicht habe zukommen sollen.

Damit ist nicht dargelegt, dass das Verwaltungsgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hätte ablehnen müssen. Der Senat sieht auch unter Würdigung des Beschwerdevorbringens einen Anordnungsanspruch als gegeben an.

Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Dienstherr bei der Entscheidung über die Besetzung der hier in Rede stehenden Beförderungsstelle sein Auswahlermessen fehlerhaft ausgeübt hat. Im Rahmen des dabei vorzunehmenden Qualifikationsvergleichs hat er seiner Annahme, dass der Antragsteller und die Beigeladene im Wesentlichen gleich gut einzustufen seien, nur die Gesamturteile der aktuellen dienstlichen Beurteilungen des Antragstellers und der Beigeladenen zugrundegelegt. Den weiteren Inhalt dieser Beurteilungen hat der Dienstherr aus dem Qualifikationsvergleich ausgeblendet. Dies begründet ein Abwägungsdefizit. Der Senat geht in ständiger Rechtsprechung,

vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschlüsse vom 27. Februar 2004 - 6 B 2451/03 -, vom 4. Juni 2002 - 6 B 637/04 -, vom 25. August 2004 - 6 B 1649/04 - und vom 27. Oktober 2004 - 6 B 2026/04 -,

davon aus, dass der Dienstherr zu einer inhaltlichen Ausschöpfung dienstlicher Beurteilungen nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet ist, eine solche zumindest ernsthaft in Betracht zu ziehen. Der Dienstherr muss bei gleichlautenden Gesamturteilen der Frage nachgehen, ob die Einzelfeststellungen in aktuellen dienstlichen Beurteilungen eine Prognose über die zukünftige Bewährung im Beförderungsamt ermöglichen. Er darf sich also im Rahmen des Qualifikationsvergleichs nicht ohne Weiteres auf das Gesamturteil aktueller Beurteilungen beschränken. Führt die Auswertung der Einzelfeststellungen zu dem Ergebnis, dass ein Beamter für das Beförderungsamt besser qualifiziert ist als seine Mitbewerber, dann wird dies auch die Bedeutung älterer Beurteilungen regelmäßig in den Hintergrund drängen.

Bei der Würdigung von Einzelfeststellungen einer Beurteilung kommt dem Dienstherrn ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Die Entscheidung des Dienstherrn, bestimmte Einzelfeststellungen zur Begründung eines Qualifikationsvorsprungs heranzuziehen oder ihnen keine Bedeutung beizumessen, ist deshalb im Grundsatz nur dann zu beanstanden, wenn der in diesem Zusammenhang anzuwendende Begriff oder der gesetzliche Rahmen, in dem sich der Dienstherr frei bewegen kann, verkannt oder wenn von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden ist, allgemein gültige Wertmaßstäbe nicht beachtet oder sachfremde Erwägungen angestellt worden sind. Im Interesse effektiver Rechtsschutzgewährung trifft den Dienstherrn dabei eine - unter Umständen erhöhte - Begründungs- und Substantiierungspflicht, wenn er sich aufdrängenden oder zumindest naheliegenden Unterschieden in dienstlichen Beurteilungen der jeweiligen Konkurrenten keine Bedeutung beimessen will.

Dies gilt auch im Anwendungsbereich der BRL Pol.

Vgl. Senatsbeschluss vom 27. Februar 2004 - 6 B 2451/03 -.

Ausgehend von diesen Grundsätzen drängt sich eine inhaltliche Ausschöpfung der aktuellen Regelbeurteilungen des Antragstellers und der Beigeladenen mit Blick auf die Bewertung der Hauptmerkmale auf; denn der Antragsteller hat bei den Hauptmerkmalen "Leistungsergebnis" und "Sozialverhalten" das Ergebnis "übertrifft die Anforderungen in besonderem Maße" (5 Punkte) erhalten. Die Beigeladene ist hinsichtlich dieser Hauptmerkmale nur mit "übertrifft die Anforderungen" (4 Punkte) bewertet worden. Die Hauptmerkmale "Leistungsverhalten" und "Mitarbeiterführung" sind gleichermaßen mit 4 Punkten bewertet worden.

Eine nähere Würdigung der Bewertung der Hauptmerkmale ist nicht schon deshalb entbehrlich, weil für die Prognose in Bezug auf die Bewährung im Beförderungsamt das Hauptmerkmal "Mitarbeiterführung" eine maßgebliche Rolle spielen kann. Den Hauptmerkmalen "Leistungsergebnis" und "Sozialverhalten" kann eine Bedeutung für jedes Beförderungsamt zukommen, weil diese Hauptmerkmale nicht an eine bestimmte Funktion gebunden sind.

Auch die weiteren Einwände des Antragsgegners greifen nicht. Dies gilt zunächst für sein Vorbringen, dass nach den BRL Pol bei Auswahlentscheidungen für personelle Maßnahmen die Gesamtnote entscheidend sei. Die Verpflichtung, als Grundlage einer Auswahlentscheidung einen umfassenden Qualifikationsvergleich durchzuführen, ist nicht vom Inhalt der jeweiligen Beurteilungsrichtlinien abhängig, sondern das Ergebnis höherrangigen Rechts, das nicht zur Disposition des Dienstherrn steht.

Vgl. in diesem Zusammenhang OVG NRW, Beschluss vom 27. Februar 2004 - 6 B 2451/03 -.

Der Antragsgegner kann sich auch nicht darauf berufen, dass die dem Antragsteller in seiner aktuellen dienstlichen Beurteilung in Bezug auf die Hauptmerkmale "Leistungsergebnis" und "Sozialverhalten" zuerkannten Bewertungen nicht dem tatsächlichen Leistungsstand des Antragstellers entsprächen. Dabei kann offen bleiben, ob dieses Vorbringen der Sache nach zutreffend ist. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, würde die von dem Dienstherr zu Gunsten der Beigeladenen getroffene Auswahlentscheidung auf einer unzureichenden Grundlage beruhen. Denn in diesem Fall würde es an einer aussagekräftigen dienstlichen Beurteilung des Antragstellers fehlen. Dies gilt um so mehr, als es um die Bewertung von Hauptmerkmalen geht, denen innerhalb des schematisierten Beurteilungssystems im Bereich der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen eine besondere Bedeutung beizumessen ist. Eine aussagekräftige dienstliche Beurteilung ist aber grundsätzlich unverzichtbar, weil gerade ihr die Funktion zukommt, über die Auswahlkriterien des Art. 33 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG), § 7 Abs. 1 des Beamtengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (LBG NRW) verlässlich Auskunft zu geben (vgl. § 104 Abs. 1 LBG NRW). Die vom Antragsgegner vorgetragenen Gründe dafür, dass er von einer Einbeziehung der Hauptmerkmale der aktuellen dienstlichen Beurteilungen des Antragstellers und der Beigeladenen in den Qualifikationsvergleich abgesehen hat, sind hiernach rechtlich nicht tragfähig.

Aus welchen Gründen eine - dem Vorbringen des Antragsgegners zufolge - in einzelnen Hauptmerkmalen unzutreffende Bewertung des Antragstellers erfolgt ist, ist insoweit unerheblich.

Auch die von dem Antragsgegner erhobene Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) durch das Verwaltungsgericht vermag der Beschwerde nicht zum Erfolg zu verhelfen. Der Senat teilt die Auffassung des Antragsgegners, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts unerwartet und unvorhersehbar getroffen worden sei, weil der Zeitraum, innerhalb dessen er zu den Schriftsätzen des Antragstellers vom 00.00.00 habe Stellung nehmen können, unangemessen kurz gewesen sei, nicht. Angesichts dessen, dass es sich vorliegend um ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes handelt, dem eine besondere Eilbedürftigkeit zukommt, erscheint der dem Antragsgegner verbliebenen Zeitraum, zu den genannten gegnerischen Schriftsätzen Stellung zu nehmen, ausreichend.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2 und 3, 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 3 Nr. 1, 52 Abs. 2, 72 Nr. 1 des Gerichtskostengesetzes in der seit dem 1. Juli 2004 geltenden Fassung.