OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 31.01.2005 - 18 A 1279/02
Fundstelle
openJur 2011, 33393
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 24 L 2591/04

1. Im Zulassungsverfahren dürfen die Regelungen des Zuwanderungsgesetzes und die Auswirkungen der geänderten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der Ausweisung eines Unionsbürgers bzw. Assoziationsberechtigten nur berücksichtigt werden, wenn sich die rechtzeitig dargelegten Gründe hierauf erstrecken.

2. Der besondere Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 (jetzt § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG) erfasst grundsätzlich nur die familiäre Lebensgemeinschaft von Eltern und Kindern, nicht aber diejenige mit Geschwistern.

Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Antragsverfahrens.

Der Streitwert wird für das Antragsverfahren auf 8.000, EUR festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

Hinsichtlich des allein geltend gemachten Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bedarf es einer auf schlüssige Gegenargumente gestützten Auseinandersetzung mit den entscheidungstragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts. Dabei ist innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO in substanziierter Weise darzulegen, dass und warum das vom Verwaltungsgericht gefundene Entscheidungsergebnis ernstlich zweifelhaft sein soll. Diese Voraussetzung ist nur dann erfüllt, wenn das Gericht schon allein auf Grund des Antragsvorbringens in die Lage versetzt wird zu beurteilen, ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses bestehen.

Vgl. hierzu nur die Senatsbeschlüsse vom 15. März 2002 - 18 B 906/01 - und vom 17. Mai 2002 - 18 A 781/01 -, jeweils m.w.N.

Für die Beurteilung ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über den Zulassungsantrag maßgeblich. Allerdings dürfen dabei nur die rechtzeitig dargelegten Gründe berücksichtigt werden. Ist erst nach Ablauf der hierfür geltenden Frist eine Rechtsänderung eingetreten, kann der Antragsteller nicht mit Blick auf diese nun erstmals neue Zulassungsgründe gelten machen. Die Rechtsänderung muss aus diesem Grund unberücksichtigt bleiben.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2003 - 7 AV 2/03 -, NWVBl. 2004, 183 = NVwZ 2004, 744; Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, § 124a Rn. 136 f.

Danach ist es dem Senat verwehrt, die durch das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004 - BGBl I 1950 - zum 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen hier zu berücksichtigen. Gleiches gilt hinsichtlich der Auswirkungen der geänderten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt bei der Ausweisung eines Unionsbürgers bzw. Assoziationsberechtigten.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 3. August 2004 - 1 C 29.02 , EZAR 037 Nr. 10, und - 1 C 30.02 -, EZAR 034 Nr. 17.

Auch hinsichtlich des materiellen Gemeinschaftsrechts, dem der Assoziationsratsbeschluss 1/80 zuzurechnen ist, bleibt es insoweit beim Vorrang des Prozessrechts.

Vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 31. August 2004 - 1 C 25.03 , zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung vorgesehen.

Auf dadurch erfasste Umstände hat sich der Kläger, dem das Verwaltungsgericht eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80 zuerkannt hat, nicht berufen. Er stützt sein Zulassungsbegehren allein darauf, dass ihm mit Blick auf seinen eingebürgten Bruder, mit dem er in häuslicher Gemeinschaft lebe, besonderer Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AuslG zustehe und spezialpräventive Gründe seine Ausweisung nicht rechtfertigten. Damit werden indessen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung begründet.

Entgegen der Ansicht des Klägers hat das Verwaltungsgericht seinen erwachsenen Bruder zutreffend nicht als Familienangehörigen im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AuslG beurteilt. Der von dieser Norm geregelte Familienschutz erstreckt sich, wie die Wortgleichheit mit der für den Familiennachzug grundlegenden Norm des § 17 Abs. 1 AuslG verdeutlicht,

- vgl. Vormeier in GK-AuslR § 48 Rn. 21 -

grundsätzlich nur auf Personen, die dem Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG unterliegen, der insoweit nur die Gemeinschaft von Eltern und Kindern erfasst, nicht aber diejenige mit Geschwistern.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Juli 1993 - 1 C 25.93 -, InfAuslR 1994, 2, 7.

Daran hat sich - worauf ergänzend hingewiesen wird - unter der Geltung des durch das Zuwanderungsgesetz in kraft getretenen Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nichts geändert (vgl. §§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, 27 Abs. 1 AufenthG).

Ob hiervon ausgehend unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung bei den von § 22 AuslG - der hier über § 23 Abs. 4 AuslG entsprechend anwendbar wäre - (jetzt §§ 36, 28 Abs. 4 AufenthG) erfassten Umständen eine Ausnahme zu machen ist, kann offen bleiben, weil der Kläger nichts dafür vorgetragen hat, was auf die in dieser Norm vorausgesetzte außergewöhnliche Härte in Bezug auf ein Zusammenleben mit seinem Bruder führen könnte.

Soweit in diesem Zusammenhang gelegentlich darauf hingewiesen wird, dass das Bundesverwaltungsgericht die Geschwisterproblematik in einem Beschluss vom 16. August 1995

- 1 B 104/95 -, InfAuslR 1995, 405 -

offen gelassen habe und damit möglicherweise ein grundsätzlicher Klärungsbedarf angesprochen wird, sei noch angemerkt, dass diesem Beschluss keine Anhaltspunkte für eine Gegenansicht zu entnehmen sind. Dort wird lediglich aufgezeigt, dass eine derartige Rechtsfrage in einem künftigen Revisionsverfahren nicht beantwortet werden könne.

Ebenfalls fehl geht die Auffassung des Klägers, das Verwaltungsgericht habe bei der Prognose zu der von ihm ausgehenden Gefahr der Begehung erneuter Straftaten die Stellungnahme der JVA C. -M. vom 5. November 2001 und den Beschuss des Landgerichts C. vom 28. Dezember 2001 nicht hinreichend berücksichtigt und sei deshalb zu einem fehlerhaften Ergebnis gelangt. Der Kläger übersieht, dass nach der mit dem Zulassungsantrag nicht angegriffenen Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt beides nicht grundlegend für die Entscheidung war. Für das Verwaltungsgericht war in Übereinstimmung mit der damaligen ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Ausweisung die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides maßgeblich.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1999 - 1 C 13.99 , DVBl. 2000, 429 = DÖV 2000, 427 = InfAuslR 2000, 176 = NVwZ 2000, 688, ferner Beschluss vom 14. Juli 2000 - 1 B 40.00 , Buchholz 402.240 § 8 AuslG Nr. 18; ebenso Senatsurteil vom 21. Dezember 1999 - 18 A 5101/96 , EZAR 034 Nr. 7 = NWVBl. 2001, 29 -.

Davon ausgehend hat es - wie die Ausführungen auf Seite 5 des Urteilsabdrucks belegen - die Stellungnahme der JVA sowie den Beschluss des Landgerichts, die beide späteren Datums sind, lediglich noch insoweit in seine Prüfung einbezogen, als diese geeignet waren, Rückschlüsse auf die Richtigkeit der Prognose zur Widerholungsgefahr zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids zu ermöglichen. Die Frage, ob zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts weiterhin von einer Wiederholungsgefahr auszugehen ist, stellte sich damit nicht. Von daher erklärt es sich auch, dass - worauf der Kläger zutreffend hinweist - die Stellungnahme der JVA in den Urteilsgründen nicht ausdrücklich berücksichtigt worden ist.

Von dem Vorstehenden ausgehend wäre aufzuzeigen gewesen, warum die Prognose zur Wiederholungsgefahr bezogen auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids fehlerhaft war. Entsprechendes hat der Kläger nicht ansatzweise dargelegt. Insoweit sind die Stellungnahme der JVA und der Beschluss des Landgerichts, auf die er ausschließlich verweist, schon deshalb untauglich, weil sie erst erheblich später als der Widerspruchsbescheid ergingen und lediglich eine Prognose über das zukünftige Verhalten des Klägers enthalten.

Unberücksichtigt bleiben musste aus den oben genannten Gründen der erst nach Ablauf der Darlegungsfrist eingegangene Schriftsatz des Klägers vom 3. Juli 2002, mit dem dieser seine Eheschließung mit einer deutschen Staatsangehörigen bekannt gab.

Die von vom Kläger geltend gemachten Umstände können nach allem lediglich im Wege einer - hier nicht streitgegenständlichen - Befristung der Wirkungen der Ausweisung berücksichtigt werden. Insoweit wird gegebenenfalls auch zu berücksichtigen sein, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bei noch nicht vollzogener Ausreise und entfallenem Ausweisungszweck der Fortfall der Ausweisungswirkungen im Wege der Befristung nicht davon abhängig gemacht werden kann, dass ein freizügigkeitsberechter Ausländer ausreist.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1999 - 1 C 13.99 -, InfAuslR 2000, 176.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus den §§ 13 Abs. 1, 14 Abs. 1 und 3 GKG in der bei Einlegung des Rechtsmittels gültigen Fassung.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig.